Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kriege in der Ukraine und Nahost: Schmuddelbegriff Frieden
> Der Krieg in der Ukraine wird mittlerweile als Dauerereignis hingenommen.
> Das macht es möglich, die Bilder aus Gaza in den Alltag zu integrieren.
Bild: Ostermarsch in Berlin 2024, die TeilnehmerInnen fordern einen Waffenstill…
Von Deutschland aus will die [1][Nato künftig Ziele tief in Russland
erreichen] können – dem dient die geplante Stationierung von
Mittelstreckenraketen. Das Vorhaben geht auf die Zeit vor Putins Angriff
auf die Ukraine zurück, doch eignet sich die russische Aggression nun
natürlich gut zur Begründung. Wie herum man es auch betrachten mag:
Russland wird auf die Nato-Pläne seinerseits reagieren, es gibt wieder
einen [2][Ost-West-Konflikt mit Aufrüstungsspirale].
Ein Déjá-vu ist das dennoch nicht. Im Vergleich zur Debatte über die
sogenannte [3][Nato-Nachrüstung im Westdeutschland der frühen 1980er Jahre]
fällt vor allem auf, was anders ist. Damals reichte eine gut informierte
Gegenöffentlichkeit, im Bund mit der Friedensforschung, bis in die
gesellschaftliche Mitte. Heute dominieren Ohnmachtsgefühle,
Desorientierung, Defätismus. Und die stärkste Opposition im Land ist
mittlerweile das rechte Ressentiment.
Frieden ist zu einem Schmuddelbegriff geworden, er wird assoziiert mit
Russlandfahnen, rechtsoffenen Youtube-Kanälen und Gesängen grauhaariger
Männer und Frauen. Und selbst jener Moment im Februar 2022, unmittelbar
nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, als sich Hunderttausende in
Berlin gegen Putins Aggression und gegen den Krieg als solchen
versammelten, scheint bereits wie aus einer anderen Zeit – Zivilität und
zivilgesellschaftliches Handeln waren noch nicht entwertet.
Seitdem aber: zwei unendlich lange Kriege, jener in der Ukraine und der in
[4][Gaza seit dem 7. Oktober.] Sie sind bei aller Unterschiedlichkeit
miteinander verkettet, einerseits durch die deutsche Unterstützung und
andererseits durch das, was sie in uns anrichten: intellektuell, emotional,
ethisch. Wie der Ukrainekrieg als Dauerereignis hingenommen wird, als
Fototapete einer neuen Zeit, zeigt eine Abstumpfung, die es ihrerseits
möglich macht, die Gräuelbilder aus Gaza zu ertragen, sie in den Alltag zu
integrieren.
## Schrei der Gepeinigten überhören
Die entgrenzte Kriegsführung im Nahen Osten wird wiederum Entgrenzungen auf
anderen Schauplätzen nach sich ziehen. In der Welt „nach Gaza“ wissen alle
potenziellen Kriegsakteure: Das massenhafte Töten humanitärer Helfer ist
möglich. Das Bombardieren dicht besiedelter Gebiete ohne Fluchtoption ist
möglich. Und es ist möglich, den Schrei der Gepeinigten zu überhören. So
verhilft auch Gaza dazu, Kriegsführung künftig hinzunehmen.
In beiden Kriegen werden die westliche Freiheit und Zivilisation
verteidigt. Das ist beim Ukrainekrieg die offizielle Position von EU und
Nato, beim Gazakrieg die schrille Ansage des Netanjahu-Kabinetts, der die
Bundesregierung nicht widerspricht. Die von Deutschland gelieferten Waffen
sind folglich nicht Verursacher von Tod und Zerstörung, sondern Instrumente
von Ethik und Moral.
Waffen als gut zu imaginieren, war von jeher ein Kern des Kriegsdenkens.
Wie Militärgeistliche früherer Zeiten Panzer und Kanonen segneten, wirkt
heute absurd. Aber ist der Segen, den die Staatsräson erteilte, davon so
weit entfernt?
Mit der Parteinahme in einem Krieg geht ein kriegerischer Moralismus
einher, ein bestimmter Blick nicht allein auf das Geschehen, sondern auf
die darin verwickelten Menschen. Nachdem Putins Raketen die Kinderklinik in
Kyjiw zerstörten, rühmte sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser, binnen
Tagen schwerkranke Kinder nach Deutschland evakuiert zu haben.
Schwerverletzte Kinder aus Gaza aufzunehmen, verhinderte sie über Monate
wegen Sicherheitsbedenken. Kind und Kind sind nicht gleich, das
Kriegsdenken macht sie zu Ungleichen.
## Sprache der Kriegsertüchtigung
Dies alles sind keine Automatismen, sondern die Folgen von Entscheidungen.
Man kann deshalb durchaus das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine
unterstützen und zugleich die Militarisierung unserer Gesellschaft
ablehnen, zwischen beidem besteht keine organische Verbindung. Im
Gegenteil: Zu einer Zeit, in der die Demokratie in Deutschland von innen
viel mehr gefährdet ist als von außen, gießt der neue Kult ums Militärische
Öl ins Feuer.
Die Sprache der Kriegsertüchtigung ist Bestandteil eines anschwellenden
Autoritarismus der Mitte, mit einem spezifisch deutschen Gesicht:
[5][NS-Jagdflieger versuchsweise wieder vorbildhaft zu finden,] beißt sich
nicht mit dem Ankauf eines israelischen Luftverteidigungssystems.
Eine vom Westen dominierte Weltordnung geht dem Ende zu, und kein
Nato-Programm wird diesen Trend umkehren können. So wie sich auch die Spur
gescheiterter Kriege und Militärmissionen nicht verwischt, von Irak über
[6][Afghanistan] bis zum Sahel: misslungene Versuche des Westens, sich als
Ordnungsmacht zu beweisen. Zurück blieben schlimmere Verwerfungen, denn für
all diese Krisen galt, was friedensbewegte Berliner Israelis in Bezug auf
Gaza jeden Freitag vor dem Auswärtigen Amt skandieren: „There is no
military solution!“
Vielleicht ist dieser dünne, hilflose Ruf das Beste, Klügste,
Vernünftigste, was gerade vorstellbar ist. Ein Anfang zumindest, um aus dem
galoppierenden Irrsinn zu desertieren, aus dem Kriegsdenken und aus einer
Blockkonfrontation – antirussisch heute, antichinesisch morgen –, die uns
als unvermeidlich verkauft wird.
Zum geistigen Desertieren muss indes auch gehören, sich von einem falschen
linken Campismus zu befreien, es gibt mehr als einen Imperialismus.
Emanzipatorische Linke haben kein Lager, außer jenem, das sie entlang
universeller Werte mit anderen konstruieren, als eine neue Art von dritter
Welt.
Gewiss, die Weltverhältnisse sind so komplex, dass alles Begreifen den
Ereignissen stets hinterherhechelt. Unsicher sein, sich keiner Seite
zugehörig fühlen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern kann, sofern nicht
von moralischer Indifferenz genährt, ein erster Schritt zur Stärke sein.
Von jenen, die sich gefährlich sicher sind, gibt es bereits zu viele.
5 Sep 2024
## LINKS
[1] /Krieg-in-der-Ukraine-und-Russland/!6029274
[2] /Stationierung-von-Mittelstreckenraketen/!6026934
[3] /Botschaften-auf-Wahlplakaten/!6012507
[4] /Krieg-zwischen-Israel-und-Hamas/!6031075
[5] /Bundeswehr/!6028122
[6] /Tugendgesetz-in-Afghanistan/!6031142
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
## TAGS
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Gaza
Außenministerium
Nancy Faeser
Frieden und Krieg
Aufrüstung
GNS
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Israelische Armee
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schlagloch
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schlagloch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Besuch in Ägypten und Libanon: EU-Chefdiplomat wirbt für Frieden
EU-Chefdiplomat Borell appeliert an die Kriegsparteien in der Region. In
Ägypten sagt er Hilfen für Krankenhäuser zu, Menschen aus Gaza behandeln.
Krieg in Nahost: Israel bombardiert Schutzzone
Mindestens 19 Menschen sind bei einem israelischen Angriff im Gazastreifen
gestorben. Darunter sollen mehrere hochrangige Hamas-Angehörige sein.
++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Ukraine entlässt Außenminister
Außenminister Dmytro Kuleba wird entlassen. Putin erklärt, dass Russland zu
Verhandlungen bereit sei. Selenskyj wird am Freitag in Deutschland
erwartet.
Klasse und Familie: Das Prinzip Clan-Herrschaft
Der Liberalismus wollte Klasse als soziale Struktur überwinden. Aber nun
definieren die Rechten Klasse neu, und Familie soll wieder heilig werden.
Linke Werte im Krieg: Echte Linke und falsche Linke
Gewalt ist eine Herausforderung für Linke. Kriegsbegeisterung und blinder
Pazifismus werden zu Fliehkräften. Ein demokratischer Sozialismus könnte
helfen.
Siedler in Jerusalem: Hass auf alles Nichtjüdische
Siedler wollen Jerusalems Altstadt judaisieren. Davon bedroht sind
Palästinenser, Araber und Armenier. Sie erleben nahezu täglich Gewalt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.