# taz.de -- Linke Werte im Krieg: Echte Linke und falsche Linke | |
> Gewalt ist eine Herausforderung für Linke. Kriegsbegeisterung und blinder | |
> Pazifismus werden zu Fliehkräften. Ein demokratischer Sozialismus könnte | |
> helfen. | |
Seit über zwei Jahren befindet sich die Ukraine im Krieg mit den russischen | |
Invasoren und sehr bald waren in verschiedenen Teilen der Linken | |
fragwürdige Zungenschläge zu hören. Von Putinversteherei über suspekte | |
Anti-Kriegshaltungen bis zu überzogener Kriegsgeilheit. | |
Über die moralischen Absurditäten linker „Friedens“-Phrasendrescherei ist | |
viel gesagt. Etwa, dass regelrecht so getan werde, als hätte die Ukraine | |
mithilfe des ruchlosen Westens Russland angegriffen, als wäre die kleine | |
Ukraine ins arme Russland einmarschiert. Dass dem Angegriffenen, der sich | |
bloß wehrt, vom hohen Ross herunter geraten wird, er möge sich ergeben, | |
vergewaltigen, massakrieren lassen. Die [1][autokratische Natur des | |
Moskauer Regimes] wird verleugnet, dessen [2][faschistoide Rhetorik] | |
ignoriert, und mitunter wird sie relativiert, indem irgendwelche Defizite | |
der ukrainischen Demokratie so behandelt werden, als bewege sich das auf | |
dem gleichen Niveau wie Putins Gulag-Konterrevolution. | |
Themen, die etwa auch in den ostdeutschen Landtagswahlen der kommenden | |
Wochen mehr als nur eine untergeordnete Rolle spielen. | |
Manchmal hat man den Verdacht, es gibt hier sogar eine nur schlecht | |
verborgene Sympathie für autokratische Herrschaft, eine klammheimliche | |
Identifikation. Gerade Putins Ruchlosigkeit führt zu einer Bewunderung, da | |
sie als Entschlossenheit erscheint, die man selbst gerne hätte. Auch eine | |
scheinbar nur pazifistische Haltung kann äußerst fragwürdige Motivationen | |
nicht verbergen, wie schon George Orwell vor vielen Jahrzehnten hellsichtig | |
beschrieb: Neben echten Humanisten gebe es die Grüppchen „intellektueller | |
[3][Pazifisten]“, deren reales, doch uneingestandenes Motiv der Hass auf | |
die westliche Demokratie und die Bewunderung des Totalitarismus ist. | |
Pazifistische Propaganda wird üblicherweise auf die simple Behauptung | |
verdünnt, dass die eine Seite genauso schlecht wie die andere sei, aber | |
wenn man die Schriften jüngerer Pazifisten genauer betrachtet, dann stellt | |
man fest, dass sie keineswegs beide Seiten auf die gleiche Weise anklagen, | |
sondern beinahe ausschließlich Großbritannien und die USA. | |
Nicht ganz unähnliche Kontroversen tun sich [4][seit dem 7. Oktober] und | |
[5][dem Gaza-Krieg] auf. Die einen sammeln sich in der Fankurve einer | |
„Befreiungsbewegung“ gegen die Besatzung und rechtfertigen das Massaker der | |
Hamas, die anderen in der Fankurve einer israelischen Regierung und | |
verniedlichen rücksichtslose Gewalt, Zigtausende tote Zivilisten, ethnische | |
Säuberung, Landnahme. Beide Seiten schlagen die Wirklichkeit so zu, dass | |
sie den Eindeutigkeitsanforderungen ihres hyperideologisierten Bildes | |
genügt. | |
Vielleicht ist es angebracht, wieder einmal die Prinzipien eines | |
demokratischen Sozialismus auszuformulieren und auf diesen zu beharren. | |
## Demokratischer Sozialismus | |
Ein demokratischer Sozialismus, der den Versuchungen des Autoritären | |
widersteht, wird nie Werte von Freiheit, Grund- und Menschenrechten und die | |
politischen Freiheitsrechte für Vorstellungen einer formierten Gesellschaft | |
opfern – egal, wie sehr sich diese mit antiimperialistischem oder sozialem | |
Wortgekringel aufzuhübschen versucht. Die sogenannten bürgerlichen | |
Freiheitsrechte sind zu kritisieren, weil sie nicht weit genug gehen, aber | |
sie sind nicht als Nebensachen oder Täuschungen abzutun. Sie gehen nicht | |
weit genug, weil sie die Bedingungen der Freiheit ignorieren, die nötigen | |
Voraussetzungen, diese Freiheit auch zu leben, etwa eine soziale | |
Gleichheit, ohne die die Freiheitschancen sehr ungleich verteilt wären. | |
Zum tragenden Umfeld der Freiheitsrechte gehören Autonomie, die Achtung vor | |
anderen und ihren Ansichten, aber auch die Freiheit jedermanns und | |
jederfraus, sein oder ihr Ding zu machen, weshalb die Existenz von | |
Freiräumen entscheidend ist, in denen diese Freiheit sich verwirklichen | |
kann. Diese Brutplätze der Autonomie sind nicht nur von autoritärer | |
Herrschaft, sondern auch von Konformismus, klebriger Traditionshuberei und | |
auch von Totalökonomisierung bedroht. | |
Ein Sozialismus, der die räuberische Mentalität des Kapitalismus bändigen | |
oder sogar überwinden will, braucht einen starken Staat, der ökonomische | |
Regulierungen setzt, kräftige Sozialsysteme etabliert, Investitionen | |
steuert und vieles mehr, aber gerade deshalb diese Freiheiten durch eiserne | |
Regeln schützen muss, wie schon Karl Polanyi bemerkte: „In einer | |
etablierten Gesellschaft muss das Recht auf Nonkonformismus institutionell | |
geschützt sein.“ | |
Eine kollektive Befreiung ist ihren Namen nicht wert, wenn die Befreiung | |
der Einzelnen nicht ihr eigentliches Ziel ist. Dabei kann man sich ruhig an | |
Karl Marx halten, demzufolge es gelte, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in | |
denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein | |
verächtliches Wesen ist“. Echte Linke fieberten deswegen mit Václav Havel, | |
Alexander Dubček und anderen im Jahr 1989 und drückten nicht Figuren wie | |
Husák, Jakeš oder Honecker die Daumen. | |
## Den Werten treu bleiben | |
Der moralische Kompass echter Linker darf niemals zittern und ruckeln. | |
Unterdrückten oder Bedrohten zu raten, sie mögen sich um des lieben | |
Friedens willen nicht wehren, bedeutet letztlich nichts anderes, als sich | |
auf die Seite der Henkersknechte zu stellen. | |
Ob in Freiheitskriegen demokratischer Gesellschaften gegen faschistische | |
Nationen, ob in Widerstandsbewegungen gegen autoritäre Diktatoren oder | |
gegen eine Soldateska, ob in antikolonialen Befreiungskriegen wie dem der | |
algerischen FLN gegen das imperiale Frankreich – in all diesen Fällen ist | |
die Annahme, beide Seiten hätten irgendwo recht, einfach eine unmoralische | |
Sache. | |
Der Widerstand der ukrainischen Gesellschaft gegen Russlands Invasion hat | |
viele Elemente dieser geschichtlichen Kämpfe, also des Widerstandes gegen | |
faschistische, expansionistische Regimes. Entweder stehst du auf der Seite | |
der Freiheit oder auf der Seite der Reaktion. | |
## Die Realität ist komplex | |
Da ein demokratischer Sozialismus einerseits von seinen grundlegenden | |
Prinzipien nie abweichen darf, andererseits nicht im Wolkenkuckucksheim, | |
sondern in der wirklichen Wirklichkeit operiert, darf er auch den Realismus | |
nicht aus den Augen verlieren. Der verlangt häufig komplex verwickelte | |
Abwägungsfragen und Balanceakte. | |
So wird man, wenn immer möglich, Kriege zu vermeiden suchen, gelegentlich | |
auch um den Preis von Kompromissen mit schlimmen Fingern. Wenn man gegen | |
alle Feinde der Freiheit Krieg führen würde, ginge die Welt in Gewalt unter | |
und käme die Freiheit keinen Millimeter voran. Gerade eine humanistische | |
Idee, die dem zynischen „Wo gehobelt wird, da fliegen Späne“ nichts | |
abgewinnen kann, muss jedes Menschenleben retten, das gerettet werden kann. | |
[6][„Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts“, | |
formulierte Willy Brandt]. Der Befreite hat nichts von der Befreiung, wenn | |
er nach der Befreiung tot ist. Der Realismus lehrt, dass man im Notfall | |
natürlich auch mit dem Teufel zu verhandeln hat, aber ebenso, dass sich mit | |
bewaffneten Gangstern besser verhandelt, wenn man selbst bewaffnet ist. | |
Moralische Klarheit und Besonnenheit widersprechen sich nicht. Ja, | |
praktisch alle Kriege enden mit Verhandlungen. Nur: Ob diese Verhandlungen | |
gerechter oder weniger gerecht ausgehen, darüber entscheidet leider auch | |
das Geschehen in dem, was die Amerikaner so lapidar das „Theater of | |
Operation“ nennen. Ebenso wahr ist: Wenn Kriege in zermürbende | |
Stellungskriege übergehen, kann es ja durchaus sein, dass man um das nicht | |
herumkommt, was man einen „ungerechten Frieden“ nennen kann. | |
## Der Verrohung widerstehen | |
Echte Linke können schwerlich Pazifisten sein, aber sie hassen den Krieg. | |
Übrigens auch aus folgendem Grund: Krieg ist niemals eine Schule der | |
Zärtlichkeit. Gewalt verroht, und zwar auch die Gegner der Rohheit. Auch | |
Befreiungskriege werden eher häufig eine unerfreuliche Nebenfolge haben, | |
nämlich die Stärkung des Autoritären, des Kommandohaften der Militärs, die | |
Brutalisierung. Vom Bolschewismus bis zu [7][irgendwelchen Caudillos], mit | |
Macht gepamperten Militärs, ist die Welt voller Beispiele für diesen | |
Sachverhalt. Deshalb ist die Romantisierung der Gewalt, wie sie in linken | |
Milieus auch nicht ganz selten ist, eine Verirrung. | |
Der Krieg, der der ukrainischen Demokratie aufgezwungen wurde, schwächt | |
diese Demokratie natürlich, das ist ja überhaupt keine Frage: Auch | |
Verteidigungskriege stärken die Zensur, haben die selbstverständliche | |
Eigenschaft, dass die Reihen geschlossen werden und die Gegenwehr | |
überfallener Gesellschaften zu unschönem Nationalismus führt. Oft zu noch | |
Schlimmeren. Weil man das weiß, sollte man es immer berücksichtigen. | |
„Auch der Hass auf die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge“, formulierte | |
bereits Brecht. Opposition wird zum Schweigen gebracht, ja, die Opposition | |
erlegt sich selbst ein Schweigen auf, um „dem Feind keine Munition zu | |
liefern“. Der „Leitstern“, schrieb [8][Timothy Garton Ash], über „Ukra… | |
in Our Future“ müsse jener sein, den George Orwell stets verfolgte: „Kämp… | |
für die richtige Seite, aber bleibe unbestechlich kritisch gegenüber deren | |
Fehlern.“ | |
26 Aug 2024 | |
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