# taz.de -- Der Nahe Osten und ich: Ist die Linke kaputt? | |
> Die digitale Öffentlichkeit bedroht die Demokratie, hat aber auf die | |
> Linken noch speziell eigenartige Wirkungen – auch über die Gaza-Debatte | |
> hinaus. | |
Bild: Auf Social Media verloren gegangen: die Diskursfähigkeit der linken Bewe… | |
Ich habe mich jetzt länger nicht zum Blutbad im Nahen Osten geäußert. Meine | |
Ansichten dazu wären, knapp, folgende: [1][Das Massaker der Hamas vom 7. | |
Oktober] war ein bestialisches Verbrechen, das beim besten Willen durch | |
kein Widerstandsrecht gerechtfertigt werden kann. Die Hamas selbst ist eine | |
diktatorische islamistische Bewegung und eine Pest für ihr eigenes Volk. | |
Jede Regierung der Welt hätte auf einen Anschlag wie dem vom 7. Oktober | |
militärisch reagiert. Deshalb war klar, dass die Attacke zu einem | |
fürchterlichen Krieg führen wird. Und dass dieser Krieg, in eng bevölkertem | |
Gebiet, zu vielen Kriegsverbrechen führen wird. | |
Der Krieg gegen die Hamas wurde zu einem [2][Langzeitmassaker mit | |
zigtausenden toten Zivilisten], Kindern, mit Belagerung, Unterversorgung, | |
medizinischer Katastrophe, humanitärer Katastrophe, Hunger. Der Anschlag | |
der Hamas war bestialisch, die Kriegsverbrechen der israelischen | |
Streitkräfte und deren Regierung sind es auch. Gemessen an den | |
völkerrechtlichen Standards, die wir in den vergangenen Jahrzehnten als | |
Reaktion auf Menschheitsverbrechen etabliert haben, ist auch der | |
Genozid-Begriff nicht abwegig, denn dafür braucht es heute nicht mehr die | |
Ausrottung eines Volkes, sondern die Zerstörung seiner Lebensgrundlagen in | |
einer wesentlichen Region, die ethnische Säuberung und Vertreibung und eine | |
Rhetorik, die auf genozidale Absichten wie großangelegte | |
Vertreibungsverbrechen schließen lässt. | |
Die Klage Südafrikas gegen die Netanjahu-Regierung vor dem internationalen | |
Strafgerichtshof war plausibel begründet. Andererseits ist der | |
Genozid-Begriff in diesem Fall derart zu einem Buzzword geworden, dass er | |
selbst schon toxisch ist und nur mit spitzen Fingern angegriffen werden | |
kann. Ohnehin sind auch „normale“ Kriegsverbrechen kein Kavaliersdelikt. | |
Kurzum: Ich halte sowohl die Hamas als auch die rechtsradikale | |
Netanjahu-Regierung mit ihren faschistischen Koalitionspartnern für | |
Verbrecher. Ich halte den Terror der Hamas für bestialisch und die | |
fürchterliche Kriegsführung der Israelis auch. | |
## Für die einen ein Antisemit | |
Für die einen bin ich wahrscheinlich ein Antisemit (weil ich auch | |
Netanjahus Krieg kritisiere), für die anderen ein Komplize „des Genozids“ | |
(weil ich die Hamas nicht für eine geile Widerstandsbewegung halte, deren | |
Handeln allein durch Besatzung, Gewalt und Vertreibung gerechtfertigt ist). | |
Ich habe angemerkt, dass ich mich dazu schon länger nicht geäußert habe. | |
Weil man sich permanenten Ärger mit den Verrückten aller Seiten einhandelt, | |
wenn man es tut. Aber es gibt auch noch einen zweiten, mindestens so | |
wichtigen Grund: Ich habe nicht das Gefühl, dass man überhaupt etwas | |
bewirken könnte. Die Radikalen sind gar nicht mehr erreichbar. Und generell | |
sind die Diskurse so entgleist, dass es völlig sinnlos scheint, hier noch | |
Reparaturversuche zu unternehmen. | |
Ich habe ja den Eindruck, dass diese – meine – Auffassung, die ich hier | |
geschildert habe, von der überwältigenden Mehrheit aller Menschen links der | |
Mitte grosso modo geteilt wird. Geschätzt sind es neunzig Prozent. Diese | |
neunzig Prozent halten, so wie ich, die Klappe. Laut sind nur die | |
Knalltüten an den Rändern, die aber fast hundert Prozent der Aufmerksamkeit | |
für sich bekommen. Das ist ein Problem. | |
Sie haben bestimmt indes den Eindruck, dass diese Kolumne Israel, | |
Palästina, den Gazakrieg als Thema hat. Aber das ist falsch. Die | |
vergifteten Zerwürfnisse zu diesem Krieg sind nur ein Exempel. Das Thema | |
ist die Krise der Demokratie und die Kaputtheit der Linken. Und das Thema | |
ist auch das Internet. Das Netz hat die radikale Linke völlig ruiniert. | |
## Das Netz triggert Radikalisierung | |
Während der Strukturwandel digitaler Öffentlichkeit Gesellschaften als | |
Ganzes so polarisiert hat, dass die Demokratie in akuter Gefahr ist, hat er | |
innerhalb der Linken noch einmal eine besonders eigentümliche Wirkung. Er | |
verstärkte die Sektenhaftigkeit, die ohnehin latent immer vorhanden war. | |
Gruppenradikalisierung, die einst auf kleinere Zirkel begrenzt war, kann | |
sich heute in größeren Zusammenhängen entfalten. Und fast zu jedem | |
x-beliebigen Thema. Das Netz schafft nicht nur die Möglichkeit, ein | |
größeres Publikum zu erreichen, die Technologie selbst triggert auch noch | |
die sektenhafte Radikalisierung. Der Philosoph Harry Lehmann spricht von | |
„Gruppenpolarisierungsprozessen“, welche „sich in der digitalen Medienwelt | |
exponentiell verstärken“. | |
In dieser neuen Ordnung der Diskurse ist eine Person, die eine Ansicht hat, | |
die leicht von der eigenen Überzeugung abweicht, nicht nur eine Person mit | |
einer anderen Meinung, sondern wird ganz schnell auch zu einem moralisch | |
verdammenswerten Subjekt, wie in unserem Exempel (entweder „Antisemit“ oder | |
„Komplize des Genozids“). Völlig durchgeknallte Spinner haben durch die | |
neue Technologie nicht nur leichtes Spiel, es gibt sogar einen inhärenten | |
Anreiz, zu einem durchgeknallten Spinner zu werden. | |
Man wird nämlich in einem solchen System nicht dafür belohnt, [3][Fäden der | |
Kommunikation über die eigenen Kreise hinaus] zu knüpfen und Menschen mit | |
anderer Ansicht zu überzeugen. Es gibt einen viel höheren Anreiz, zum Star | |
der eigenen Gruppe zu werden. Gesinnungsgemeinschaft plus | |
Gruppenpolarisierung führen dazu, dass Sprecherfiguren entstehen, also | |
politische Influencer, die in jeder erdenklichen Hinsicht vom Applaus der | |
eigenen Gruppe leben. Den dürften sie nicht einmal riskieren, wenn sie das | |
wollten. | |
Das führt logischerweise dazu, dass sich die jeweils härteste, radikalste | |
Position durchsetzt, und der Influencer oder die Influencerin darf niemals | |
so etwas wie Ambivalenz oder Ambiguitätstoleranz erkennen lassen. Zugleich | |
läuft jeder in den Gruppen Gefahr, niedergemacht zu werden, der aus dieser | |
Dynamik ausschert. Menschen außerhalb der Gruppen werden sowieso | |
entschlossen bekämpft. Beliebte Instrumente dafür sind etwa das bekannte | |
vorsätzliche, böswillige Missverstehen, die niederträchtige Unterstellung | |
oder die perfide Diffamierung. | |
2 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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