# taz.de -- Zeitschrift „Sinn und Form“ in der DDR: Kultur unterm geteilten… | |
> Wie haben die Schriftsteller in der DDR diskutiert? Im nun online | |
> gestellten Archiv der Zeitschrift „Sinn und Form“ kann man das nachlesen. | |
Bild: Ein untergegangenes Land: abgeräumte Büsten im Gebäude der SED, Februa… | |
Die Kulturgeschichte des Staatssozialismus bestand – ebenso wie seine | |
Wirtschaftspolitik – in einer von der eignen Dynamik angetriebenen | |
Pendelbewegung zwischen Liberalisierung und panischer Rückkehr zur reinen | |
Lehre. Kriegskommunismus – Neue Ökonomische Politik – Stalinismus – die | |
Chruschtschow-Reformen – neue Orthodoxie unter Breschnew – Perestroika. | |
Es ist die Gangart eines Weltgeistes, der mit der Wirklichkeit auf | |
Kriegsfuß steht. Die Kultur – und vor allem die Literatur – folgte den | |
Ausschlägen des sozialistischen Perpetuum mobile oft mit Verzögerung. | |
Die jetzt erfolgte [1][Digitalisierung und Zugänglichmachung der Jahrgänge | |
1949–1991] von Sinn und Form – der bedeutendsten Kulturzeitschrift der DDR | |
– bietet, neben vielen literarischen Überraschungen und Genüssen, die | |
Chance, den Lenin-Stalin-Chruschtschow-Breschnew-Gorbatschow-Shuffle auf | |
Deutsch und auf hohem intellektuell-künstlerischen Niveau nachzuverfolgen. | |
Was sich besonders deshalb lohnt, weil Kultur neben dem Sport das einzige | |
Gebiet ist, auf dem die DDR unbestreitbare (und zum Teil bis heute | |
weiterwirkende) Hochleistungen hervorgebracht hat – eine Tatsache, die als | |
wenig bedachter Elefant im Raum vielleicht auch im Hintergrund der | |
[2][derzeitigen Debatten] über die so unterschiedlichen | |
DDR-verstehen-Bücher von Dirk Oschmann, Katja Hoyer und [3][Steffen Mau] | |
eine verschwiegene Rolle spielt. | |
Ein zusätzlicher Reiz der Lektüre kommt dadurch zustande, dass sich die | |
jeweiligen Wendungen und taktischen Manöver der DDR-Kulturpolitik in den | |
Texten und der Zusammenstellung der Hefte eben fast nie offen aussprechen, | |
sondern sozusagen detektivisch erraten werden müssen. Hinter vielen dieser | |
– so gut wie immer brillanten wie gesondert aufpoliert wirkenden – | |
Lesestücke steckt eine politische Absicht. | |
## Naturgedichte als Versuchsballons | |
Naturgedichte sind zu verstehen als ideologische Versuchsballons; oder | |
lesbar als kulturpolitische Repliken. Ein Lektüre-Tauchgang mit dem | |
Digitalarchiv von Sinn und Form ist erst komplett, wenn man neben dem | |
Laptop die monumental-dreibändige DDR-Kulturgeschichte Gerd Dietrichs aus | |
dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht liegen hat. Die Erlebnisse auf diesem | |
jetzt möglich gewordenen Lektüre-Ausflug in ein untergegangenes Land sind | |
stereoskopischer Natur. | |
Alles beginnt 1949 im Zeichen der „Volksfront“-Idee einer | |
„antifaschistischen Demokratie“ – und mit dem leicht skurrilen, zugleich | |
linksbildungsbürgerlichen und für eine illusionär missverstandene | |
„Sowjetkultur“ offenen Mischmilieu, für das [4][Heinrich Mann] stand. Er | |
war als Präsident der Ostberliner Akademie der Künste vorgesehen; ein | |
Funktionärsschicksal, vor dem ihn 1950 sein Tod bewahrt hat. Dagegen machte | |
den großen, von Jorge Luis Borges bewunderten Lyriker Johannes R. Becher – | |
allgegenwärtiger Sinn-und-Form-Autor und nach dem Juniaufstand 1953 | |
Kulturminister – die Lebenslüge seiner sozialistischen Offizialexistenz | |
psychisch kaputt. | |
Denn schon längst vor dem XX. Parteitag hatte er verstanden, dass jene von | |
ihm zu repräsentierende „antifaschistische“ Bürgerlichkeit nur eine Fassa… | |
derselben Mafia war, die er im Moskauer Hotel Lux während der Emigration | |
kennengelernt hatte, dem Unterbringungsort zahlreicher aus aller Welt nach | |
Moskau geflüchteter Kommunisten, aus dem die stalinistische Geheimpolizei | |
allnächtlich angebliche Verräter abholte und den üblichen Folterungen, | |
Verhören, Selbstbezichtigungen (und schließlich fast immer dem Gulag) | |
zuführte. Bechers Confessio „Selbstzensur“, geschrieben 1956 (zwei Jahre | |
vor seinem Tod), erschien freilich erst 1990 in Sinn und Form: „Ich ahnte | |
nicht nur, ich wußte!“ | |
## Polemiken gegen Bertolt Brecht | |
Der Theoriepapst dieser bürgerlich-„antifaschistischen“ Phase ist Georg | |
Lukács gewesen, dessen Plädoyers für eine marxistische Umdeutung der | |
bürgerlichen Literatur des 19. Jahrhunderts in fast jedem Heft dieser | |
Jahrgänge auftauchen. Die prominenteste Zielscheibe der | |
linksbürgerlich-marxistischen Fraktion aber – eine der vielen | |
Überraschungen des jetzt möglichen Archivzugangs – war Bertolt Brecht, | |
dessen episches Theater unter schwerstem Formalismusverdacht stand. | |
Vor allem Fritz Erpenbeck, der Großvater [5][der Bookerpreisträgerin], | |
polemisierte in Theater der Zeit gegen ihn, in Sinn und Form hielten Hans | |
Mayer und Ernst Fischer dagegen. Lukács stürzte 1956 nach seiner | |
Verwicklung in den ungarischen Aufstand. Er erscheint erst 1990 wieder – | |
mit einem Interview – in Sinn und Form. Dafür tritt Brecht, von Becher | |
protegiert, als der „marxistische Klassiker“ in den Vordergrund und ist von | |
da an auch posthum nicht mehr wegzudenken aus Sinn und Form. | |
1956 war überhaupt ein Schlüsseljahr. Freilich ein widersprüchliches: | |
Entstalinisierung, Ungarn-Aufstand, Verhaftung von Wolfgang Harich und | |
Werner Janka vom Aufbau-Verlag, die Rückkehr der Dresdener Beutekunst aus | |
dem Moskauer Puschkin-Museum, erste Aufmerksamkeit für Peter Hacks, Heiner | |
Müller und Heinar Kipphardt, Brechts Tod, der Beginn der Kaltstellung der | |
Sinn-und-Form-Prominenzautoren Ernst Bloch, Ernst Fischer und Hans Mayer, | |
das Sonderheft über Bertolt Brecht im Januar 1957. Die SED versuchte dem | |
Tauwetter in Moskau gerecht zu werden, ohne in einen Strudel à la Budapest | |
zu geraten. | |
Die einschneidendste Veränderung des Ungarn-Jahrs für Sinn und Form, wo der | |
große Lyriker Peter Huchel seit 1949 als Chefredakteur zuverlässig die | |
intelligenten, zukunftsträchtigen und folglich heterodoxen Beiträge zu all | |
diesen Entwicklungen publiziert hatte, war der große Parteieingriff von | |
1957. Er leitete die lang andauernde Entmachtung Huchels ein, der sich | |
parallel zu derjenigen Johannes R. Bechers vollzog. Endgültig ersetzt wurde | |
er erst 1963, und zwar durch den hochgebildeten Dogmatiker Wilhelm Girnus. | |
## Ein Heft lässt staunen | |
[6][Huchels Abschiedsnummer, die letzte des Jahres 1962], vereinte Hans | |
Mayer, Bertolt Brecht, Paul Celan, Jean-Paul Sartre, Ernst Fischer, Werner | |
Krauss, Ilse Aichinger, Giannis Ritsos, Sean O’Casey, Günter Eich (mit dem | |
Gedicht „Verlassene Staffelei“) und enthält erschütternd traurige Gedichte | |
des scheidenden Chefredakteurs. Wolfgang Harich saß damals noch im | |
Zuchthaus. Dass ein solches Heft in der DDR erscheinen konnte, lässt | |
staunen. | |
Das Abschiedsjahr Peter Huchels 1963 hat in der DDR-Literaturgeschichte – | |
und auch in derjenigen von Sinn und Form – dann allerdings zugleich auf | |
ähnliche Weise eine neue Epoche eingeleitet wie das Jahr 1959 in der BRD, | |
wo mit [7][Grass’ „Blechtrommel]“, Bölls „Billard um halbzehn“, John… | |
„Mutmaßungen über Jakob“ und mit der Übernahme des Suhrkamp-Verlags durch | |
Siegfried Unseld sich ein international beachteter literarischer Urknall | |
ereignet hatte. | |
Nach dem – offiziell allerdings nie deklarierten – Scheitern des | |
Bitterfelder Wegs („Greif zur Feder Kumpel! Die sozialistische deutsche | |
Nationalkultur braucht dich!“) zog nun die DDR nach, freilich weniger mit | |
jener sozialistischen Nationalkultur aus der Feder des parteiamtlich | |
aufgerufenen Kumpels, sondern stattdessen mit international beachteten | |
Büchern, die tatsächliche Realitäten und lebendige Menschen schilderten und | |
sich wirklichen Problemen stellten: [8][Christa Wolfs] „Der geteilte | |
Himmel“, Strittmatters „Ole Bienkopp“, „Levins Mühle“ von Bobrowski,… | |
Spur der Steine“ von Erik Neutsch und Hermann Kants „Aula“. | |
Wilhelm Girnus, der seltene Fall eines hochintelligenten und literarisch | |
sensiblen politischen Betonkopfs, entfaltete seit 1963 in Sinn und Form ein | |
Feuerwerk junger DDR-Lyrik und richtete den Blick der Zeitschrift in den | |
kommenden Jahrzehnten konsequent weltliterarisch aus: Kaum irgendwo sonst | |
erschienen auf Deutsch so viele so gut ausgesuchte und übersetzte Texte aus | |
Afrika, Asien und Lateinamerika wie in Sinn und Form. Und Girnus pflegte | |
besonders das Genre des Gesprächs. Heft 1/1967 verzeichnet seinen | |
außerordentlich bösartigen und eleganten Verriss der „Ästhetik“ Georg | |
Lukács’. | |
## Intellektuell scharf geschossen | |
Es wurde intellektuell scharf geschossen in Sinn und Form – und durchaus | |
kontrovers, wenn es politisch nicht um die Essentials ging. Ein gutes | |
Beispiel dafür ist die staunenswert ausführliche, tiefenscharfe und bis in | |
den Vergleich verschiedener Übersetzungen hinein wohlinformierte Polemik | |
Friedrich Dieckmanns gegen die „Coriolan“-Aufführung – und überhaupt die | |
museale Verknöcherung – des Berliner Ensembles im letzten Heft 1965. Mit | |
diesem bemerkenswerten Text begann die Sinn-und-Form-Karriere des ältesten | |
und heute noch bedeutendsten Beiträgers der Zeitschrift. | |
Ein anderes Verdienst Wilhelm Girnus’ ist die behutsame und gescheite | |
Rehabilitierung der von Lukács seinerzeit kurzerhand der „Zerstörung der | |
Vernunft“ zugeschlagenen Frühromantik durch den Jenaer Germanisten Claus | |
Träger. Mit der Veröffentlichung der „Unvollendeten Geschichte“ Volker | |
Brauns im Jahr 1975 vollends scheint Girnus wirklich etwas gewagt zu haben, | |
nämlich die Probe auf Honeckers Ansage, solange man von den festen | |
Positionen des Sozialismus ausgehe, könne es keine literarischen Tabus | |
geben. | |
Freilich konnte niemand, der Brauns Geschichte einer Zerstörung junger | |
Liebender durch Parteiherrschaft und Geheimdienst auf sich wirken ließ, | |
daran zweifeln, dass mit diesem Land etwas sehr Grundlegendes nicht in | |
Ordnung war. Das „Unvollendete“ dieser Geschichte, die sozialistische | |
Hoffnung auf Einsicht der Macht und guten Ausgang trotz des Augenscheins, | |
blieb Behauptung; und schon im folgenden Jahr, dem der | |
Biermann-Ausbürgerung nach dessen Kölner Konzert, schwang das Pendel dann | |
eben auch zuverlässig wieder in die illiberale Richtung. Und der anklagende | |
Finger wies gen Westen: Heft Nr. 3 1976 enthält Bernd Jentschs Aufsatz über | |
„Das Gedicht als strafbare Handlung“: der Lyriker Frank Geerk war in Basel | |
wegen Blasphemie angeklagt, nicht aber verurteilt worden. | |
## Unfreiwillige Komik | |
Interessanter als dieser DDR-Whataboutism ist die Diskussion über Irmtraud | |
Morgners „Trobadora Beatriz“-Roman, mit dem sich der literarische | |
Feminismus damals nicht nur im Osten, sondern auch unter meinen damaligen | |
Genossinnen im westlichen Marxistischen Studentenbund Spartacus und deren | |
Liebhabern entfaltete. | |
Was sonst noch bleibt nach ein paar Tagen subjektiven Surfens in diesem | |
Archiv: Entdeckungen wie die der Bücher des großen nature writers Hanns | |
Cibulka, eine Beethoven-Hymne Rudolf Bahros in einer Art Klopstock-Ton, | |
eine Stalin-Elegie Johannes R. Bechers, die man in seiner unfreiwilligen | |
Komik als subversiv zu verstehen geneigt ist. Aber man findet in jeder | |
Nummer etwas Unerwartetes und Hochinteressantes. | |
Unter den beiden letzten DDR-Chefredakteuren vor 1990 – Paul Wiens und Max | |
Walter Schulz – nimmt Rückwärtsgewandtes und Memoirenartiges überhand. | |
Während in Moskau greise Parteisekretäre einander die Stafette der | |
Staatsmacht sozusagen von Totenbett zu Totenbett übergeben, scheint die | |
Zukunftskraft des Ideologischen auch in den Heften von Sinn und Form zu | |
erlahmen. Unter Sebastian Kleinschmidt liest man schon in einem anderen | |
Land in einer anderen Zeitschrift. | |
Es bleibt aber vor allem auch: eine fortwirkende Institution. Die neue | |
Blüte von Sinn und Form in der vereinigten Republik ist einer der Beweise | |
dafür, dass das untergegangene sozialistische Deutschland auf dem Gebiet | |
der Kultur am lebendigsten gewesen ist. Jedenfalls war sie allein auf dem | |
Gebiet der Kultur frei von der auftrumpfenden Unsicherheit, die ihre | |
offizielle Selbstdarstellung bis zuletzt so wenig einleuchtend gestaltete. | |
Die Digitalisierung ihrer Backlist ist das beste Geschenk, das die | |
Zeitschrift Sinn und Form sich und uns für die kommenden Jahre gemacht hat. | |
3 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://sinn-und-form.de/jahrgaenge-und-heftbestellungen/3-204-ve_titel-2024 | |
[2] /Post-DDR-Roman-von-Anne-Rabe/!5959234 | |
[3] /Soziologe-zu-deutschem-Ost-West-Konflikt/!6015104 | |
[4] /Ausstellung-zu-Klaus-und-Heinrich-Mann/!5549933 | |
[5] /Auszeichnung-fuer-Autorin-Jenny-Erpenbeck/!6009836 | |
[6] https://sinn-und-form.de/?kat_id=3&tabelle=ve_titel&name=1962&n… | |
[7] /Nachruf-Guenter-Grass/!5012763 | |
[8] /Briefe-von-Sarah-Kirsch-und-Christa-Wolf/!5642720 | |
## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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