| # taz.de -- Roman über Aufwachsen im Osten: Rein in unsere Jugend | |
| > In seinem rasanten Roman „Schnall dich an, es geht los“ verhandelt | |
| > Domenico Müllensiefen fast alle Ost-Diskurse, über die gerade gesprochen | |
| > wird. | |
| Bild: Autor Domenico Müllensiefen wurde 1987 in Magdeburg geboren | |
| Jeetzenbeck ist Anfang der nuller Jahre ein trost- und perspektivloser | |
| Flecken in der Landschaft. Die Arbeitslosigkeit in dem fiktiven kleinen Ort | |
| in der Altmark ist hoch, eine wichtige alte Zugverbindung, die sogenannte | |
| Amerikalinie, soll eingestellt werden, selbst die frischen Euromünzen aus | |
| anderen Ländern mit den interessanten Motiven scheinen hier langsamer | |
| anzukommen als anderswo. | |
| Immerhin geht es beim FCM, dem Fußballklub 1. FC Magdeburg, zu dem vor | |
| allem junge Männer wochenends hinpilgern, zwischenzeitlich aufwärts, | |
| „zumindest wirkte es so. Raus aus den Neunzigern, rein in das neue | |
| Jahrtausend, rein in einen Aufschwung, rein in unsere Jugend, und dabei die | |
| Welt entdecken. Aber irgendwie wurde unsere Welt immer kleiner, und das, | |
| was uns als Aufschwung verkauft wurde, war schon nicht mehr Stillstand, es | |
| war eher Abbau. Abbau Ost.“ | |
| Dies ist die Situation, die Marcel Körtge, der Protagonist in Domenico | |
| Müllensiefens zweitem Roman „Schnall dich an, es geht los“, vorfindet. | |
| Marcel ist ein junger Mann aus Jeetzenbeck, er durchlebt eine Umbruchszeit | |
| in der sachsen-anhaltischen Provinz: Die einen bleiben, die anderen gehen, | |
| alte Pfade werden verlassen, neue Wege beschritten. Mit einem tiefen | |
| Einschnitt im Leben von Marcel setzt die Handlung ein: Seine 14-jährige | |
| Schwester Vanessa nimmt sich das Leben, sie fährt in einem Citroën ZX mit | |
| fast 200 km/h frontal gegen eine Mauer. | |
| Doch Marcels Leben ist auch darüber hinaus in Unordnung. Seine Eltern haben | |
| sich getrennt, bevor seine Schwester Suizid beging. Was mit Steffi, seiner | |
| großen Liebe, wird, ist unklar, sie ist auf dem Absprung Richtung Hamburg. | |
| Ein Freund namens Mülle, mit Nachnamen Müllensiefen, haut nach Magdeburg | |
| ab, ehe er später nach Leipzig geht und von sich sagt, er sei jetzt | |
| Schriftsteller. | |
| ## Man nannte ihn „Nazi-Schulz“ | |
| Marcel und sein bester Freund Pascal Schulz bleiben hingegen in | |
| Jeetzenbeck. Dessen Vater Dirk war einst in der DVU, man nannte ihn | |
| „Nazi-Schulz“, er handelt auch weiterhin mit Nazi-Devotionalien; zugleich | |
| behauptet er, seine Zeit als Rechtsextremer liege hinter ihm („Es gibt | |
| keinen Grund mehr, dass man mich Nazi-Schulz nennt. Man sollte mich | |
| Historiker-Schulz nennen.“) | |
| Wie die Söhne Marcel und Pascal waren auch schon die Väter Dirk und Ralf | |
| seit Jugendtagen an befreundet. Müllensiefen erzählt all dies auf zwei | |
| Zeitebenen, Marcel blickt von der Gegenwart (2023) auf die Zeit zwanzig | |
| Jahre zuvor zurück. Inzwischen ist er Verkäufer in einem Dönerimbiss, den | |
| Steffis kubanischer Vater Emilio betreibt. Und in der Gegenwart kehrt auch | |
| Steffi nach Jeetzenbeck zurück, nach zwanzig Jahren. | |
| Der Autor Domenico Müllensiefen taucht hier natürlich nicht ohne Grund als | |
| Figur auf. Müllensiefen, Jahrgang 1987, ist selbst in der Altmark | |
| aufgewachsen, ging wie die Figur nach Magdeburg und später nach Leipzig, wo | |
| er zunächst als Systemelektroniker arbeitete, ehe er von 2011 an am | |
| Deutschen Literaturinstitut studierte. | |
| In seinem Debütroman „Aus unseren Feuern“ (2023) erzählte er eine anders | |
| gelagerte Coming-of-Age-Geschichte im Osten, sie spielt in Leipzig, 2023 | |
| hat Müllensiefen dafür den Uwe-Johnson-Förderpreis erhalten. Nun erzählt | |
| der Autor von einem Ort, der jenem ähnelt, in dem er aufwuchs. Die Orte in | |
| der Altmark sind wiedererkennbar (Altenwedel = Salzwedel). | |
| ## Rassistische Pogrome | |
| Innerhalb dieses eng gesteckten Figurenensembles verhandelt Müllensiefen | |
| fast alle Ost-Diskurse, über die gerade ganz Deutschland spricht: [1][das | |
| Erbe der Neunziger und der rassistischen Pogrome von damals], die Verödung | |
| und Vernachlässigung der Provinz, die Bildungsmisere, die Lohn- und | |
| Erbungerechtigkeit, den offenen Rassismus heute, die Perspektivlosigkeit | |
| einer – überwiegend männlichen – Lost Generation. | |
| Dramaturgisch ist das Buch perfekt gebaut, einem Roadmovie ähnlich, bei dem | |
| man ständig durch Schlaglöcher brettert. Protagonist Marcel steuert darin | |
| in der Gegenwart auf viele Begegnungen zu, bei denen er mit seiner | |
| Vergangenheit aufräumt: Er trifft auf seinen Vater Ralf, auf Dirk, auf | |
| Steffi und auf Steffis Sohn Yanko, von dem er nicht weiß, ob er ihn damals | |
| gezeugt hat, bevor Steffi abgehauen ist. Yanko wiederum ist das große | |
| Nachwuchstalent des FCM. | |
| Da fügt sich wirklich alles ineinander, die Konfrontationen und | |
| Dialogszenen sieht man wie in einem Film vor sich. Das Leitmotiv Auto zieht | |
| sich durch den Roman, es steht hier für die Möglichkeit, abzuhauen, für | |
| Arbeitsplätze (Marcel jobbt in einer Kfz-Werkstatt in Altenwedel), für ein | |
| Instrument, um sich selbst zu fühlen, für ein Todeswerkzeug. | |
| Vor 1989 wurden die Weichen für die rassistischen Anschläge der Neunziger | |
| und der Folgezeit gestellt, diese These legt der Roman nahe. So wurde Dirk | |
| schon in der DDR zum Nazi: „In diesem antifaschistischen Staat hätte es | |
| [für Dirk] nur eine Möglichkeit von echter Opposition gegeben: Faschist | |
| werden. Haare abscheren, Hitlergruß zeigen, Kubaner und Mosambikaner | |
| verprügeln, beim Fußball für Angst und Schrecken sorgen“. | |
| ## „Ich will Spaß“ | |
| [2][Zu Songs wie „Ich will Spaß“ hätten er und seine Freunde in der Jugend | |
| den Hitlergruß gezeigt und „Deutschland, Deutschland, hörst du mich?“ | |
| gesungen.] Man muss unweigerlich an Gigi D’Agostino und an die ekelhaften | |
| Gesänge bei der AfD-Wahlparty in Potsdam denken. Die Figur Dirk ist gut | |
| gezeichnet, Dirk hält das heutige Gesamtdeutschland für einen genauso | |
| ideologischen Staat wie die DDR. | |
| Diese Passagen sollte man genau lesen, denn so sehen sich junge Rechte wohl | |
| derzeit auch: als Oppositionelle gegen ein gleichgeschaltetes Land, das | |
| Medien wie Nius zeichnen, das die AfD auf Tiktk fantasiert. Dass es mit der | |
| Wirklichkeit wenig zu tun hat, ist egal, das rebellische | |
| Identifikationsangebot zieht bei den Jungen. | |
| „Schnall dich an, es geht los“ steht [3][in einer Reihe von Ost-Romanen | |
| (Daniel Schulz, Hendrik Bolz, Anne Rabe oder auch Clemens Meyer)], die, | |
| nebeneinander gelegt, ein realistisches Bild der neunziger und nuller Jahre | |
| in Ostdeutschland zeichnen. Müllensiefens Roman hat dazu diese | |
| Gegenwartsebene, die Sujets sind sowieso leider sehr gegenwärtig. Am Ende | |
| der Erzählung steht immerhin ein bisschen Hoffnung, als Rückkehrerin Steffi | |
| ein Kulturhaus in Jeetzenbeck kauft, als auch so etwas wie persönliche | |
| Aufarbeitung stattfindet. | |
| Erzählt ist dieser Roman rasant, fast brillant; man will als Leser:in | |
| jederzeit wissen, wie es weitergeht. Das ganze Setting geht dagegen fast zu | |
| gut auf in diesem Roman, es gibt kaum Figuren, die überraschen oder | |
| Überraschendes tun. Auch dass am Ende des Buchs eine Art Moral steht („Wir | |
| brauchten mehr Menschen wie Emilio in unserem Dorf und deutlich weniger | |
| Dirks und Ralfs“), wirkt überflüssig. Über diese kleinen Schwächen kann m… | |
| allerdings angesichts der soghaften Handlung gut hinwegsehen. | |
| 30 Sep 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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