# taz.de -- Autorin über Nachwendekinder: „Ich feiere Nie-Wieder-Vereinigung… | |
> Ein Gespräch unter Nachwendekindern über das Trauma der Arbeitslosigkeit, | |
> gebrochene Nasen und Sekt am dritten Oktober. | |
Bild: Paula Fürstenbergs größte offene Frage an die Elterngeneration: „War… | |
An einem Tag im Frühling treffe ich Paula Fürstenberg in ihrem | |
Kollektivbüro in einem Altbau in Berlin-Kreuzberg. Wir sitzen an einem | |
breiten Holztisch, an dem sie auch arbeitet. Gerade ist ihr neues Buch | |
erschienen. „Weltalltage“ heißt es und erzählt vor allem von einer | |
Freundschaft und Freundschaftskummer als Äquivalent zum viel erzählten | |
Liebeskummer. Aber auch von Krankheit, von Klassenfragen – immer wieder | |
verzahnt sich dabei die Geschichte mit der Nachwendezeit. Fürstenberg ist | |
1987 in der DDR geboren, ich zehn Jahre später im Osten. Wir beide gelten | |
als Nachwendekinder. Ich will von ihr wissen, wie sie sich eine Zeit | |
erschließt, die sie als Kleinkind erlebt hat, wie das Aufwachsen in einer | |
orientierungslosen Gesellschaft war und wie man Sprachlose sprechen lassen | |
kann. Und vor allem interessiert mich, wieso die Nachwendezeit für uns und | |
für so viele junge Menschen im Osten noch immer eine Rolle spielt. | |
wochentaz: Paula Fürstenberg, du hast die DDR kaum bewusst erlebt, wieso | |
interessiert dich so, was davon übriggeblieben ist? | |
Paula Fürstenberg: Das Schreiben darüber hat bei mir wie bei den | |
allermeisten Nachwendekindern damit angefangen, dass ich den ostdeutschen | |
Raum verlassen habe. Ich bin in die Schweiz und nach Frankreich gegangen | |
und hab’ gemerkt, dass ich an bestimmten Stellen anders ticke. | |
Merkst du das im Alltag? | |
Vorab: Ich finde das gar nicht schlimm. Ich fänd’s ohnehin besser, wenn der | |
Fokus nicht auf eine deutsche Einheit, sondern auf Vielfalt gelegt würde. | |
Unterschiede zu westdeutsch Sozialisierten spüre ich auf unterschiedliche | |
Weise, in Zukunftsannahmen, im Weltbild, und ja, auch im Alltag. | |
Ich frage, weil das für mich ein ganz diffuses Gefühl ist, gerade wenn ich | |
mit westdeutschen Freund:innen zusammen bin. | |
Frage an dich: Welches Lied singst du, wenn wer Geburtstag hat? | |
[Anmerkung: „Happy Birthday“ zählte nicht.] | |
„Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst …“ | |
Das ist das westdeutsche Lied! Das ostdeutsche geht so: „Weil heute dein | |
Geburtstag ist, da haben wir gedacht …“ | |
„… Wir singen dir ein schönes Lied, weil dir das Freude macht …“ Das h… | |
ich immer in der Schule gesungen! | |
Das singen wir in meiner WG immer an Geburtstagen und alle meine | |
westsozialisierten Mitbewohner:innen mussten es lernen. | |
Als du 2016 dein Debüt zu dem Thema veröffentlicht hast, gab es auch das | |
Buch „Nachwendekinder“ noch nicht, das einen Begriff für die | |
Nachgeborenen-Generation fand. | |
Ich bin damals auf einen Diskurs getroffen, in dem wir gar nicht vorkamen. | |
Die Leute wussten nicht, wo sie diesen Text und mich einsortieren sollen, | |
und ich war eine Art doppelte Enttäuschung für Ost und West. | |
Wieso? | |
Ich glaube, dass die Älteren die große Hoffnung hatten, dass sich das ganze | |
[1][Ost-West-Thema] mit den Folgegenerationen erledigt. Oft bekomme ich den | |
Satz „Ist doch mal gut jetzt“ zu hören. | |
Von Westdeutschen oder Ostdeutschen? | |
Von beiden! Obwohl damit jeweils sehr unterschiedliche Dinge gemeint sind. | |
Im Osten eher: „Ist doch mal gut jetzt mit Diktaturgedächtnis und | |
Stasiaufarbeitung.“ Und im Westen meint man damit: „Ist doch mal gut jetzt | |
mit Jammern über die Vereinigungsprozesse.“ Auf der Bühne wurde ich oft | |
gefragt: Warum beschäftigst du dich damit? Was hast du noch damit zu tun? | |
So viel Unverständnis! Ich glaube, gepaart mit einer Enttäuschung darüber, | |
dass die nächste Generation doch noch damit ankommt. | |
Ich höre diese Sprüche auch noch, wenn ich Fragen stelle. Besonders beliebt | |
ist auch: „Das spielt für euch doch gar keine Rolle mehr“ – manchmal wir… | |
das harmoniebedürftig. Als wollte man sagen: „Ihr müsst euch doch jetzt | |
nicht mehr damit beschäftigen.“ | |
Auf der Ostseite kann ich das auch irgendwie verstehen. Unsere | |
Elterngeneration hat ein halbes Leben und eine Wahnsinnskraft in diesem | |
Einheitsprozess gelassen, sicher auch mit Hoffnung für uns Kinder, die in | |
einem anderen politischen System und mit Reisefreiheit aufwachsen sollten. | |
Um dann zu merken: So einfach ist es nicht … | |
Besonders, wenn die Kinder immer wieder an diese schwierige Zeit erinnern … | |
Es geht ja nicht um Undankbarkeit oder darum, dass das alles falsch war. | |
Sondern darum, überhaupt thematisieren zu können, dass es nicht gegessen | |
ist. Manchmal denke ich: Was habt ihr denn eigentlich geglaubt? Habt ihr | |
geglaubt, dass 40 Jahre Diktatur für die Nachgeborenen egal sind? Dass die | |
rechte Gewalt der 90er und 00er Jahre keine Spuren hinterlässt? Dass eine | |
kollektive Arbeitslosigkeit durch die Elternbiografien geht und die Kinder | |
das nicht mitkriegen? | |
Zwischen deinem Debüt und dem jetzigen Buch liegen 8 Jahre. Hat sich dein | |
Nachdenken über Ostdeutschland seitdem verändert? | |
Ja, sehr! Einen Diskurs mit sich selbst zu führen macht keinen Spaß. Durch | |
die vielen Bücher und Filme anderer Nachwendekinder, die in den letzten | |
Jahren erschienen sind, hat sich richtig viel getan. Zeitgleich kam der | |
diskriminierungskritische Diskurs auf, der meinen Blick auf den Osten auch | |
noch mal verändert hat. | |
Inwiefern? | |
Ich habe angefangen, den Osten aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten | |
und mich dafür zu interessieren, was es eigentlich bedeutet hat, bestimmte | |
Jahre als Mann oder als Frau zu erleben? Was hat es bedeutet, in den 90er | |
Jahren in Ostdeutschland nicht weiß zu sein? Einmal wurde ich auf der Bühne | |
gefragt, wie ich die Baseballschlägerjahre erlebt hatte … | |
[2][#Baseballschlägerjahre] – auch so ein Begriff, den es erst seit 5 | |
Jahren gibt! | |
… ja, und der die alltägliche, rechte Gewalt der Nachwendezeit beschreibt. | |
Als ich gefragt wurde, wie das bei mir war, habe ich total geblockt und | |
gesagt, dass das bei mir nicht so schlimm war mit den Nazis. Ich war gegen | |
dieses medial überpräsente Bild des rechten Ostens, neben dem keine andere | |
Erzählung Platz hat. In meinem ersten Buch läuft kein einziger Nazi durchs | |
Bild. Auf dem Nachhauseweg habe ich daran gedacht, dass ich, obwohl Potsdam | |
keine Nazihochburg war, trotzdem meine halbe Jugend auf Gegendemos | |
verbracht habe. Mir sind all die Leute wieder eingefallen, denen die Nase | |
gebrochen wurde. Die rechte Gewalt war allgegenwärtig, aber ich habe | |
automatisch gemauert. Diesen Abwehrmechanismus haben Bücher wie [3][„1.000 | |
Serpentinen Angst“] von Olivia Wenzel oder [4][„Wie ich mit Hitler | |
Schnapskirschen aß“] von Manja Präkels aufgeweicht. | |
Trotzdem wollen Medien immer gern den Osten erklärt bekommen. Merkst du, | |
dass das jetzt vor den [5][Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und | |
Brandenburg] wieder zunimmt? | |
Ich habe vor allem gerade das Gefühl, dass wir noch nicht richtig kapiert | |
haben, was diese Einheit bedeutet, was da wirklich passiert ist. Es könnte | |
ja sein, dass sie seit über 30 Jahren falsch erzählt wird. | |
Wie meinst du das? | |
Die deutsche Einheit ist ja schon als vieles erzählt worden. In den | |
offiziellen Reden zum Tag der Einheit ist sie eine Erfolgsgeschichte von | |
Demokratie und freier Marktwirtschaft. In Literatur und Wissenschaft ist | |
sie oft eine Geschichte der sozialen Abstiege und der | |
Massenarbeitslosigkeit. In den Erzählungen der Subkultur ist sie eine | |
Geschichte der so gewonnenen wie verronnenen Freiräume, die auf Brachen, in | |
Techno-Kellern und besetzten Häusern spielt und die entweder mit der | |
Räumung oder mit Mietvertrag und Brandschutzauflagen endet. Und in den | |
Erzählungen von Westdeutschen ist sie ein ewiges Fragezeichen, wieso die | |
Ostdeutschen trotz Asphaltierung ihrer Innenstädte so unzufrieden sind. Ich | |
fürchte, dass sie aber auch als Geschichte des Wiederaufstiegs des | |
Faschismus erzählt werden muss. Sehr wenige wollen sich die Frage stellen, | |
was der Aufstieg der AfD und die rechte Gewalt mit der Vereinigung zu tun | |
haben. Wenn ich anfange, dahin zu gucken, kann ich eine interessante Linie | |
ziehen. Die fängt 1989/90 an mit einer völkischen Verschiebung von „Wir | |
sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“, führt über die Eskalation rechter | |
Gewalt der 90er und 00er Jahre bis zum Wahljahr 2024, in dem die AfD | |
stärkste Kraft in drei ostdeutschen Landtagen zu werden droht. | |
Warum sprichst du eigentlich von Vereinigung und nie von Wiedervereinigung? | |
Das hat mit genau diesem Zweifel zu tun: Worauf bezieht sich eigentlich | |
„wieder“? An welche historische Wirklichkeit knüpfen wir da an? Ich | |
behaupte nicht, dass die Deutsche Einheit von Anfang an ein rechtes oder | |
faschistisches Projekt gewesen ist, aber sie ist als Narrativ überhaupt | |
nicht wehrhaft gegen rechte, völkische und patriotische Tendenzen. Im | |
Gegenteil, sie wurde von den Nazis gefeiert. Und ich habe das Gefühl, dass | |
der Zusammenhang überhaupt nicht verstanden wird. | |
Wenn es aber um die Nachwendezeit und die DDR geht, erzählen viele | |
Nachwendekinder, dass sie sich die großen, aber oft in den Familien schwer | |
ansprechbaren Dinge über Alltagsgegenstände erschließen. Eine alte | |
NVA-Uniform, ein Fotoalbum, ein Simson-Moped. Wie war das bei dir? | |
Das Buch „Nachwendekinder“ von [6][Johannes Nichelmann], auf das du vorhin | |
schon angespielt hast, trägt ja den Untertitel … | |
… „Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“. | |
Dieses Schweigen gab es in meiner Familie nicht. Im Gegenteil, seit ich | |
denken kann, wird über die Biografien gesprochen, über Chancen und Brüche, | |
darüber, wie das Leben vor und nach der Wende war. | |
Unsere Fragen an unsere Eltern und Großeltern wirken ziemlich ähnlich. | |
Trotzdem hast du im Gegensatz zu mir, wenn auch unbewusst, die DDR noch | |
miterlebt. Spürst du im Gespräch altersbedingte Unterschiede, wenn es um | |
die Beschäftigung mit dieser Zeit geht? | |
Die stärksten Unterschiede darin, wie und ob über die Vergangenheit | |
gesprochen wird, merke ich entlang der Familienbiografien. Der Historiker | |
Martin Sabrow beschreibt drei Formen der Erinnerungskultur an die DDR: das | |
Diktaturgedächtnis, das Arrangementgedächtnis und das | |
Fortschrittsgedächtnis. Welches dieser Gedächtnisse in der Familie gepflegt | |
wird, prägt auch die Beschäftigung der Kinder mit der Vergangenheit. | |
Was hat das damit zu tun, wie über die Wendezeit gesprochen wird? | |
Die Kinder derjenigen, für die die Jahre 1989/90 keinen großen beruflichen | |
und privaten Umbruch bedeutet haben, haben zum Beispiel oft weniger das | |
Bedürfnis, sich mit der eigenen Ostsozialisierung auseinanderzusetzen. | |
Allerdings habe ich in „Lütten Klein“ von Steffen Mau gelesen, dass 80 | |
Prozent der ostdeutschen Erwerbsbevölkerung ABM und Umschulungsmaßnahmen | |
absolvieren mussten. Da ist mir die Kinnlade runtergeklappt. 80 Prozent! Da | |
hat sich mir die Schuldfrage noch mal neu gestellt. | |
Welche Schuld meinst du? | |
Die Schuld an der Arbeitslosigkeit. Ich habe erst da verstanden, dass nicht | |
bloß die paar Leute, die ich zufällig kenne, in den 90ern gestruggelt | |
haben, sondern dass es den meisten im Osten so ging. Ich fand es krass, wie | |
sehr ich diese neoliberale Logik des Westens verinnerlicht hatte – wer es | |
nur wirklich will, kann es schaffen, und wer es nicht schafft, muss selber | |
schuld sein. | |
Oft wird dann entgegnet, wie marode die DDR-Wirtschaft war, obwohl es doch | |
eigentlich ganz separat darum geht, dass sich so viele Ältere umorientieren | |
mussten … | |
Ja, und gleichzeitig denke ich manchmal, sie haben die schnelle Einheit | |
auch gewählt. Oft heißt es ja, wir Nachwendekinder müssten [7][eine Art 68] | |
veranstalten. Der Vergleich hinkt zwar aus verschiedenen Gründen. Aber eine | |
Frage, auf die ich noch keine hinreichende Antwort habe, ist: Warum zur | |
Hölle habt ihr CDU gewählt? Im Moment ist das meine größte offene Frage an | |
die Elterngeneration. | |
Ich spüre auch das Bedürfnis, diese Fragen zu stellen. Aber das Anprangern | |
fühlt sich auch komisch an. Ich weiß nicht, wie ich gehandelt hätte, wenn | |
ich vorher die ganze Zeit in dieser Mangelwirtschaft gelebt hätte und dann | |
weiß: Jetzt kommt das große Glück. Eigentlich finde ich den Vergleich | |
ziemlich gut. | |
Du meinst den 68er-Vergleich? | |
Ja. Oder überhaupt die Frage: Warum? Was habt ihr damals gedacht? Warum | |
wolltet ihr das so? Was habt ihr gedacht, was dann passiert? | |
Genau das haben die 68er aber kaum getan! Die haben sich nicht erst mal | |
gründlich dafür interessiert, wie es ihren Eltern geht. Die haben Randale | |
gemacht und, zu Recht, gefordert, dass die Altnazis aus den Führungsetagen | |
verschwinden. Das ist schon mal ein Riesenunterschied. Es ist gut, dass wir | |
unsere Eltern konfrontieren, aber von welchem Thron wollen wir sie denn | |
stoßen, wenn Ostdeutsche in allen Führungspositionen chronisch | |
unterrepräsentiert sind? Klar, wir sollten mit ihnen darüber reden, in | |
welchem Verhältnis sie zur Diktatur standen, aber der Gestus: „Wir stoßen | |
euch von euren Machtpositionen“ funktioniert nicht, denn da sitzen die | |
nicht. Und, mal ehrlich: Wir Nachwendekinder neigen auch dazu, unsere | |
Eltern gegen pauschale Jammerossi-Vorwürfe zu verteidigen. Das ist | |
wirklich das Gegenteil der 68er. | |
Vielleicht wäre es gut, wenn die meisten aus unserer Elterngeneration zur | |
Therapie gegangen wären. | |
Mehr Therapie ist immer gut. Aber erstens kann man gesellschaftliche | |
Missstände nicht privat wegtherapieren und zweitens glaube ich, dass das | |
nicht ostspezifisch ist: Wir Jüngeren sind die erste Generation, die einen | |
entspannteren Umgang mit Psychotherapie hat. Für den Roman habe ich mich | |
mit ostdeutschen Suiziden nach der Wende beschäftigt. Die betrafen vor | |
allem Männer. Dazu kam der Geburtenknick Anfang der 90er im Osten. | |
Was hat dich daran interessiert? | |
Es hat mich fasziniert, zu verstehen, wie massiv sich ein Systemumbruch auf | |
Körper und Gesundheit und Psyche auswirkt und auf die Lebensentscheidungen, | |
die man trifft. | |
In deinem Buch geht es um Freundschaft und wie sie in Krisenzeiten | |
funktioniert. Wie hast du Freundschaften in deinem Aufwachsen in den nuller | |
Jahren erlebt? | |
Meine Urerfahrung von Welt ist: wirklich überall Baustelle. Niemand weiß, | |
wo es langgeht. Diese Straße heißt morgen anders, die Leute haben morgen | |
einen anderen Beruf. Und ich glaube, dass Freundschaften auch wegen einer | |
überschaubar ansprechbaren Elterngeneration extrem wichtig wurden. Sie | |
waren eine Familienergänzung. Bei mir halten einige dieser Freundschaften | |
bis heute an. | |
Habt ihr damals in der Schule in Potsdam eigentlich über die DDR | |
gesprochen? | |
Ein Mal im [8][Geschichtsunterricht]. Da sollten wir für einen | |
Diktaturvergleich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem „Dritten | |
Reich“ und der DDR bestimmen. Freundinnen und ich haben empört den Raum | |
verlassen. | |
Wie alt wart ihr da? | |
14 oder 16. Der Lehrer war Westdeutscher und hat wohl nicht gecheckt, dass | |
er jetzt Familiengeschichte unterrichtet und das Thema vielleicht | |
behutsamer angehen sollte, statt alle Eltern mit Faschist:innen zu | |
vergleichen. | |
In deinem Buch sagt der beste Freund der Erzählerin, dass sie seine Familie | |
rauslassen soll, wenn sie über ihn schreibt. Bist du beim Schreiben über | |
Familie auch auf solche Widerstände gestoßen? | |
Ein ethisches Problem autobiografischen Erzählens ist ja dieses: Ich kriege | |
meine Biografie nicht erzählt, ohne die von anderen Leuten mitzuerzählen. | |
Ich habe mit Kolleg:innen viel darüber nachgedacht, was das bedeutet. | |
Zum Beispiel die eigenen Eltern auf die Bühne zu zerren – ob die wollen | |
oder nicht. | |
Habt ihr dafür eine Lösung gefunden? | |
Nee, einfache Antworten gibt’s an der Stelle nicht. Was ich immer versuche, | |
ist, den Text einmal mit den Augen von allen Figuren durchzulesen. Und man | |
kann die betroffenen Personen vorab gegenlesen lassen. | |
Was machst du, wenn die gemeinte Person verletzt ist? | |
Das ist die Frage. Meine Erzählerin hat ja das Problem, dass ihr bester | |
Freund ihr sogar verbieten will, seine Geschichte zu erzählen. Sie löst es | |
so, dass sie seine Kritik und seine Gegendarstellungen in den Text | |
integriert und so beide Versionen lesbar macht. | |
Um Harmonie geht es dabei nicht? | |
Es geht darum, zu wissen, was man macht. Und nicht aus bloßer | |
Ahnungslosigkeit Leute völlig anders darzustellen, als sie sich selbst | |
erzählen würden. Das kann ein schwieriger Aushandlungsprozess sein, aber | |
ich habe bislang nur Gutes darüber gehört … Ich hätte auch noch eine Frage | |
an dich: Feierst du den 3. Oktober? | |
Ich kenne kaum jemanden außer Steinmeier, der den 3. Oktober feiert, machst | |
du das? | |
Als ich in der Schweiz gelebt habe, habe ich am 3. Oktober einen Schluck | |
Sekt getrunken und auf die Leute und Orte angestoßen, die ich ohne den | |
Mauerfall niemals kennengelernt hätte. Zurück in Berlin habe ich damit | |
aufgehört. Auf den Demoplakaten im Januar war ja oft „Nie wieder ist jetzt“ | |
zu lesen. In diesem Sinne: Ich trinke am 3. Oktober erst wieder Sekt, wenn | |
wir da Nie-wieder-Vereinigung feiern. | |
28 Apr 2024 | |
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