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# taz.de -- Lebensentscheidungen: Was hätte sein können
> Die Liebe, der Job, die (falschen) Freunde: Entscheidungen gehören zum
> Leben, nicht immer sind sie richtig. Vier Geschichten übers Hadern und
> Hoffen.
„Bis heute denke ich an meine erste große Liebe“
Alexander Bohmbach (Name geändert), 51 Jahre, lebt in Berlin:
Frühe 90er-Jahre. Ich war Zivi in dem Altersheim, in dem sie arbeitete. Sie
fiel mir sofort auf: wie sie beherzt die kleinen täglichen Probleme anging
und sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ. Wie sie die Sorgen der
BewohnerInnen ernst nahm, ohne in diese als Fürsorglichkeit getarnte
Übergriffigkeit zu verfallen („Wir nehmen jetzt diese Tabletten, Frau
Müller“).
Sie hatte kurze blonde Haare und trug knallroten Lippenstift. Ich verliebte
mich sofort in sie. Das Problem: Ich wusste als schmaler 19-Jähriger nicht,
wie man einer sechs Jahre älteren Frau Avancen macht.
Eines Abends, ich hockte im Kellergeschoss in meiner Zivi-Bude und hörte
wie üblich U2, klopfte es. Sie hatte Nachtschicht, sie fragte, ob ich mal
hochkommen wolle. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Im Dienstzimmer saß
ich ihr aufgeregt gegenüber, wie bei einem Vorstellungsgespräch. Sie blies
souverän ihre Marlboro Light durch das offene Fenster in die laue
Frühlingsnacht. In der Nacht küssten wir uns zum ersten Mal. Von dem Tag an
fühlte sich alles leicht und licht an. Ein paar Tage später schliefen wir
das erste Mal miteinander, am nächsten Morgen sang ich überdreht in der
Heim-Großküche Gianna Nanninis „Bello e impossibile“ mit, das gerade im
Radio lief. Eine Kollegin grölte albern mit, sie dachte, es geht in dem
Lied um einen Hund.
Ein paar Wochen später zog ich mit meiner Reisetasche in die Wohnung der
Frau mit dem knallroten Lippenstift ein und wurde neben ihrem Kater der
zweite Mitbewohner. Der Kater akzeptierte mich umstandslos.
Sie war eine richtige Hamburgerin, was mich als Vorstadt-Hamburger mit
Ehrfurcht erfüllte: selbstbewusst, ein bisschen derb und direkt – was sie
wollte, das sagte sie geradeaus. Ich fand das gut. Wir lebten zusammen, als
ob wir nie etwas anderes getan hätten. Sie ging mit mir in die Hamburger
Clubs, ich ging mit ihr in die Programmkinos der Stadt. Wir entdeckten
durch den anderen jeweils eine neue Welt.
Sie zeigte mir auch ihre Zerbrechlichkeit hinter ihrer selbstbewussten
Seite: Ihr Vater war früh gestorben, das Verhältnis zur Mutter kühl. Sie
sah in uns eine neue kleine Familie. Mich engte das mit meinen 19 Jahren
nicht ein, ich teilte die Ernsthaftigkeit des Ganzen.
Ein paar Monate später ging es für mich fürs Studium in eine nicht weit
entfernte Stadt, wir blieben natürlich ein Paar. Während meine
MitstudentInnen das neue freie Leben ausgiebig nutzten, freute ich mich auf
unsere gegenseitigen Wochenendbesuche. Als ich einmal wieder bei ihr war,
spazierten wir durch eine Siedlung mit schmalen Reihenhäusern. Ich sah ein
junges Paar, das gerade einen Babysitz samt Baby aus dem Auto hievte. Wäre
doch eigentlich ganz schön, dieses ganz normale kleinbürgerliche Leben,
dachte ich: zwei Kinder und ein Häuschen, am Sonnabend Großeinkauf mit dem
VW Polo, am Sonntag zu zweit [1][„Tatort“ gucken].
Wir beide stammten aus ebendiesem Milieu, aus dem ich doch eigentlich
hinauswollte. Und tatsächlich, mit der Zeit zerrieben mich meine zwei so
verschiedenen Leben – Studium und Beziehung – immer mehr. Wenn ihre
Freundinnen, allesamt Altenpflegerinnen und Krankenschwestern, zu Besuch
kamen, auf einen Weißwein von Blanchet, langweilten mich ihre Themen
zunehmend. Heute befremdet mich meine damalige Arroganz – aber mit seinem
Herkunftsmilieu geht man, wenn man jung ist, oft ungnädig um.
Einmal sagte sie zu mir, sie könne doch in meine Unistadt ziehen, da gebe
es genug Stellen für sie. Ich versuchte, meine intuitive innere Abwehr
hinter einem „Ja, gucken wir mal“ zu verbergen – und erschrak über meine
Reaktion.
Zwei Jahre später folgte die nächste Station für mich: Auslandsstudium.
Jetzt war mir klar, ich entscheide mich für das andere Leben. Arrogant
(oder unsicher?) und mit der Herkunftsscham vieler Aufsteiger stellte ich
mir vor, wie es wäre, den polyglotten MitbewohnerInnen meine Freundin, die
kaum Englisch sprach, vorzustellen. Als ich ihr eines Tages – die Abreise
nahte – beim Essen ankündigte, dass es das mit uns dann wohl gewesen sein
dürfte, reagierte sie nicht überrascht, aber tief getroffen.
Ein Jahr später sahen wir uns wieder und nahmen eine unverbindliche
Bettgeschichte auf. Aber es fühlte sich schlecht an. Ich merkte ihre tiefe
Kränkung durch die Trennung; gleichzeitig bedeutete es für sie mehr als für
mich. Irgendwann war auch das vorbei.
Als sie fast zwei Jahrzehnte später 50 wurde, nahm ich mir vor, sie
anzurufen. Wie geht es ihr? Hat sie die Kinder, die sie sich wünschte? Ist
sie glücklich? Das schlechte Gewissen ploppte wieder auf. Ich besorgte mir
bei ihrer überraschten Schwester, die ich ergoogeln konnte, ihre Nummer.
Mein Herz klopfte bis zum Hals, aber sie ging nicht ran. Ich versuchte es
nicht noch mal. Vielleicht soll es so sein, dachte ich. Oder mich verließ
der Mut.
Was wäre gewesen, wenn? Die Frage ist nicht realistisch – was war, das ist.
Ich wurde Vater, heiratete, später folgte eine „einvernehmliche“ – wie es
so unschön heißt – Scheidung. Aber es bleibt der schale Geschmack des
Verrats an der ersten großen Liebe. Wenn Frühling ist und die Luft diesen
besonderen Geruch hat, muss ich bis heute an die Frau mit dem knallroten
Lippenstift denken.
„Ich tat alles für das Prestige im Job“
Eva Hartmann, 36 Jahre, lebt in Berlin:
Meine Mutter arbeitete als Pädagogin für Krankenpflege, mein Vater als
Architekt, selbständig, mit eigenem Büro. Sein Beruf war unfairerweise
deutlich präsenter in unserem Familienalltag als der meiner Mutter. Oft
brach er abends zu Veranstaltungen auf, in weißem Hemd. Als ich Kind war,
Anfang der 2000er, ging es zu Hause oft um die Baukrise und manchmal auch
um ganz konkrete Geldsorgen meiner Eltern. Aber das schreckte mich nicht
ab. Als Teenager nahm mich mein Vater ab und zu mit zu den Veranstaltungen.
Ich lernte, dass Architekt ein Beruf mit Ansehen war, einer, für den man
Anerkennung und Bestätigung bekam.
Wenn Freunde meiner Eltern zu Besuch waren, wurde ich oft gefragt: Und du?
Wirst du auch mal Architektin? Beim Besuch einer Berliner Kunstmesse
erklärte ich meinem Vater schließlich: Du, Papa, ich will auch Architektin
werden.
Nach dem Abitur reiste ich zuerst etwas herum, dann bewarb ich mich bei der
renommierten Weimarer Bauhaus-Uni für ein Architekturstudium. Es klappte,
und so saß ich kurz darauf aufgeregt, erwartungsvoll und ehrfürchtig in
meiner ersten Vorlesung. Doch mein Studium war schon bald geprägt von
Überforderung und Selbstzweifeln. Ich kämpfte mit den hohen Ansprüchen an
mich selbst, verglich mich und meine Leistungen ständig mit den Besten der
Besten. Es herrschte ein enormer Konkurrenzdruck. Wir Studierenden
kokettierten damit, wer am wenigsten geschlafen hatte, weil er oder sie
sich mal wieder die Nacht im Arbeitsraum mit einem Entwurf um die Ohren
geschlagen hatte.
Trotzdem zog ich es durch. Nach einigen Praktika bekam ich meine erste
Festanstellung in einem Architekturbüro. Nach einer Frist von zwei Jahren
ließ ich mich sofort in die Architektenkammer aufnehmen. Ich durfte mich
nun offiziell Architektin nennen und bekam einen eigenen Stempel mit dem
Berliner Bären drauf. Wieder spürte ich den Stolz meines Vaters, der auch
mich mit Stolz erfüllte. Ich hatte es geschafft.
Dann begann der Putz zu bröckeln. Auf der Baustelle nahmen mich die Männer
oft nicht ernst, obwohl ich mittlerweile die Bauleitung innehatte. „Junges
Fräulein“, sagte einmal einer zu mir. Ich ließ mir daraufhin einen
Kurzhaarschnitt schneiden. Ich verdiente wenig und arbeitete viel. Ich
erkannte, dass meine Gestaltungsspielräume deutlich begrenzter waren, als
ich sie mir im Studium noch ausgemalt hatte, und fühlte mich bald wie eine
Dienstleisterin.
Ich kündigte, nahm eine kurze Auszeit, dann stieß ich auf eine Stelle im
Bundesamt für Bauwesen und Bauordnung. Ich dachte, endlich könnte ich
Bauherrin sein. Maestra statt Dienstleisterin. Und öffentliche Gebäude zu
planen kam mir sinnstiftender vor als Gebäude für Investor:innen. Dazu mehr
Geld, weniger Arbeit, mehr Urlaubstage und ein 13. Gehalt. Ich bewarb mich
und bekam die Stelle.
Doch schon in der ersten Woche schlug die Ernüchterung ein. Gefühlt alle
Klischees über Verwaltungsjobs erfüllten sich in kürzester Zeit. Die
Prozesse waren zäh, jeder hatte seine eigene Kaffeetasse im Schrank, und
als ich die stellvertretende Projektleitung übernehmen sollte, fühlte ich
mich bald wie ein Spielball für politische Mätzchen. Hinter vielen
Entscheidungen, die ich mich gezwungen fühlte zu treffen, stand ich nicht.
Oft fühlte ich mich ausgebrannt und unglücklich. Ich nahm mir vor, das Jahr
noch zu Ende zu bringen und bis dahin einen neuen Plan gefasst zu haben.
Ich war nun Mitte 30. In meinem Umfeld tat sich viel. Eine Freundin
wechselte die Branche von Marketing zur Sozialen Arbeit, eine andere
verabschiedete sich aus der Theaterszene, um ein Lehramtsstudium zu
beginnen, ein Bekannter gab seinen Beruf als Dirigent auf und wurde Bäcker.
Sie alle tauschten einen Beruf mit Prestige gegen einen anderen mit
geringerem gesellschaftlichen Ansehen. Ein Gedanke, der mir nie in den
Sinn gekommen war oder den ich mir vielleicht nicht erlaubt hatte, nahm
immer mehr Gestalt an: Vielleicht war ich nicht oder nicht mehr die
geborene Architektin, die den Vater mit so viel Stolz erfüllt, sondern
jemand anderes.
Gleichzeitig musste ich immer wieder an diese eine Radiosendung denken, die
ich vor ein paar Jahren gehört hatte. Ein Bestatter war zu Gast und wurde
ausführlich zu seinem Leben und seinem Beruf interviewt. Ich war
fasziniert. Nun stellte ich mir immer wieder vor, mich als Bestatterin
selbständig zu machen. Reden, Zuhören, Dasein – das kann ich doch ganz gut,
dachte ich. Auch für meinen offenen Umgang mit Tod und Trauer hatte ich von
Freunden, die selbst Angehörige verloren hatten, schon Bestätigung
bekommen. In unserer Familie war das Thema nie ein Tabu gewesen, ich fühlte
mich nicht unbeholfen damit, sondern selbstsicher.
Mit meiner Mutter sprach ich schon bald über diese Gedanken, meinem Vater
wollte ich es erst erzählen, wenn ich einen konkreten Plan hätte. Ich
machte einen Deal mit meinem Chef auf dem Amt. Ich würde für zwei Monate
unbezahlten Urlaub nehmen, um in der Zeit ein Praktikum in einem
Bestattungsunternehmen zu machen.
Daraufhin erzählte ich bald auch meinem Vater davon. Ich hatte einen
Riesenkloß im Hals, aber er reagierte gut. Mit dem Beruf Bestatterin könne
er nicht so viel anfangen, aber die Selbständigkeit, die würde mir sicher
guttun. Obwohl ich die Rolle meines Vaters in der Wahl meines Berufes in
einer Therapie schon voll und ganz durchgekaut hatte, spürte ich trotzdem
eine riesige Erleichterung, ihn mit meiner Entscheidung gegen die
Architektur offenbar nicht enttäuscht zu haben.
Das Praktikum wenige Monate später machte mir Spaß. Ich konnte mich nun
klar als Bestatterin sehen. Ich fand über Kontakte eine Partnerin für die
Selbständigkeit und kündigte meine Stelle auf dem Amt. Ab Januar 2024
widmete ich mich in Vollzeit dem Aufbau des Gewerbes, im August eröffneten
wir unseren kleinen Laden.
Manchmal treibt mich die Angst vor dem Statusverlust noch um, aber meine
Therapie hat mir geholfen, einen Umgang damit zu finden. Und manchmal habe
ich Sorge, dass ich in drei Jahren wieder unzufrieden bin und alles
hinschmeißen will. Aber dann sage ich mir, dass, selbst wenn es so käme,
ich doch jetzt gelernt habe, wie so ein Neuanfang geht – und dass er geht.
Protokoll: Nora Belghaus
„Einmal habe ich ohne Führerschein Drogen über die holländische Grenze
gebracht“
Dennis Kimani (Name geändert), 26 Jahre, lebt in der Nähe von Frankfurt:
Meine erste Anzeige müsste jetzt zwölf Jahre her sein. Damals wurde ich mit
meinen Freunden beim Graffitimalen erwischt. Drogenkonsum, Anzeigen wegen
Diebstahls und Körperverletzung, das alles hat bei mir ziemlich früh
angefangen. Alkohol [2][habe ich mit Jahren getrunken], mit zwölf habe ich
geraucht, mit dreizehn gekifft.
Als ich dann die neunte Klasse beendet hatte, bin ich auf eine andere
Schule gewechselt, um mein Abitur zu machen. Dort habe ich mich einem
Freundeskreis angeschlossen, der nicht gerade positive Auswirkungen auf
mich hatte. Weil ich damals schon gekifft habe, bin ich mit teilweise fünf
Jahre älteren Jungs in Kontakt gekommen. Zwei von denen haben Drogen
verkauft, also habe ich auch damit angefangen. Durch die Jungs habe ich
außerdem selbst neue Drogen ausprobiert, LSD und Ecstasy zum Beispiel. Mit
fünfzehn.
Ich glaube, das ist ungefähr der Punkt, an dem ich angefangen habe, aktiv
falsche Entscheidungen zu treffen. Rückblickend kann ich nicht genau sagen,
warum. Ich glaube aber, es war eine Mischung aus vielem: nicht zu wissen,
was ich mit mir anfangen soll, und definitiv auch eine Form von Rebellion.
Ich hatte immer das Gefühl, das System ist nicht gerecht zu mir. Warum
sollte ich mich dann an alle Regeln halten?
Was ich damals sicherlich gebraucht hätte, sind männliche Vorbilder. Mein
Vater ist abgehauen, mein Opa zu ungefähr der gleichen Zeit verstorben.
Meine Mutter hat zwar versucht, das alles aufzufangen, trotzdem haben mir
gewisse Dinge wohl gefehlt. Dadurch habe ich immer Anschluss bei älteren
männlichen Personen gesucht und war bereit, viel zu tun, um deren
Anerkennung zu gewinnen.
Natürlich ist es nicht beim Drogenverkaufen geblieben. Wir haben uns
gegenseitig unsere Drogen geklaut und sie oft auch anderen Leuten
abgenommen. Das Ganze ist nicht immer gewaltfrei abgelaufen: Entweder die
haben die Drogen freiwillig rausgerückt oder eben nicht. Wenn nicht, haben
wir sie geschubst, geschlagen, getreten. Das sind Aktionen, die ich heute
keinesfalls wiederholen würde. Damals in diesem Umkreis haben sie zur
Routine gehört. Und sie haben Geld gebracht. So konnte ich mein
Kinderzimmer einrichten oder mir Klamotten kaufen, die meine Mutter sich
nicht hätte leisten können in der Zeit.
Mit den Jungs von damals habe ich heute keinen Kontakt mehr. Einige sind
ins Gefängnis gegangen, weil sie über die Jahre noch wesentlich schwerer
straffällig wurden. Der eine hat eine Tankstelle ausgeraubt, der andere hat
gezielt Beamte angegriffen. Zwei wurden noch einige Jahre von der Polizei
gesucht. Rückblickend hatte ich großes Glück, mich an manchen Dingen nicht
zu beteiligen, sonst hätte mir ein ähnliches Schicksal geblüht.
Als ich volljährig wurde, habe ich keine Drogen mehr verkauft. Trotzdem
hatte ich immer wieder ein unstillbares Bedürfnis danach, in irgendeiner
Form auffällig zu werden und Konsequenzen zu ignorieren. Zum Beispiel bin
ich ständig unter Drogeneinfluss Auto gefahren, das war fast schon
Normalität. Irgendwann wurde ich von der Polizei erwischt, daraufhin bin
ich konsequent ohne Führerschein weitergefahren. Ich weiß noch, dass ich
einmal sogar ohne Führerschein nach Holland bin und Drogen über die Grenze
mitgenommen habe.
In meinem Studium hatte ich dann eine Phase, in der ich so viel gestohlen
habe, dass man fast von Kleptomanie sprechen könnte. Ein halbes Jahr lang
war ich jeden zweiten Tag in einem Mediamarkt und habe Handys und andere
Geräte mitgenommen. Ich habe Tüten mit Alufolie ausgelegt, damit die Sender
nicht ausschlagen. Der Moment, in dem ich wusste, dass es funktioniert hat,
hat sich jedes Mal wie eine krasse Belohnung angefühlt. Vielleicht war das
mein Fluch und Segen zugleich: Ich bin niemand, der nach einer Straftat
direkt erwischt wurde. Ich musste erst tausende Male Drogen verkaufen,
bekifft Auto fahren und klauen, bis ich wieder vor Gericht saß.
Mein Wendepunkt war der Moment, als ich das erste Mal wegen Diebstahls
angezeigt wurde. Da war ich 21. Die Richterin hat mir damals eindrücklich
erklärt, dass jetzt die Grenze erreicht ist, dass das hier die letzte
Chance für mich sein könnte. Wenn ich noch mal in irgendeiner Form
auffällig würde, würde mir Gefängnis winken. Zu dem Zeitpunkt hatte ich
schon hunderte Sozialstunden gemacht und Tausende Euro beim Gericht
gelassen.
Da habe ich gemerkt, dass es tatsächlich um mein Wohl und meine Freiheit
geht. Ich hatte nicht nur [3][Angst vor dem Knast], sondern habe auch
erkannt, dass ich alles, was ich mir durch das Klauen angespart habe, durch
die Prozesse eh wieder verliere. Das Geld hat hinten und vorne nicht
gereicht, weil ich konstant Schulden abbezahlen musste. Und dann war da
noch die Gefährdung anderer Menschen. Das Fahren unter Drogeneinfluss, die
Körperverletzungen, das sind alles Situationen, wo jemand auch ernsthaft zu
Schaden hätte kommen können. Dafür empfinde ich bis heute Scham und Reue.
Ich frage ich mich oft, wer ich wäre, hätte ich das alles nicht gemacht.
Ich bin mir sicher, dass ich die Schule und mein Studium besser und früher
abgeschlossen hätte. Aber ich empfinde auch Glück, dass ich aus eigener
Kraft heraus die Kurve gekriegt habe. Heute arbeite ich im sozialen
Bereich, das hätte ich mit einem Eintrag im Führungszeugnis knicken können.
Seit meinem Gerichtsprozess habe ich vielleicht ein Spätibier mal nicht
bezahlt.
Bis heute habe ich manchmal das Bedürfnis, etwas Verbotenes zu tun – für
den Kick. In solchen Momenten meine Vernunft nicht einfach zu ignorieren,
kostet mich Überwindung. Aber es klappt.
Protokoll: Katharina Federl
„Wofür mein Geld genau draufging, habe ich irgendwann nicht mehr
überblickt“
Marion Meyer (Name geändert), 65 Jahre:
Am meisten vermisse ich das Haus, in dem ich gelebt habe. Die Bäder waren
mit Marmor verkleidet, die Wände mit Edelstahlputz. Die Möbel bestanden aus
dem feinsten Holz und wurden eigens für mich angefertigt. Es war alles vom
Feinsten, ja, wirklich.
Zu dieser Zeit war ich jung und strotzte vor Selbstbewusstsein. Die Bilder
von früher mag ich mir gar nicht mehr anschauen. Alle nannten mich eine
Traumfrau. Bei Festen fühlte ich mich wie eine Königin, in schulterfreien
Kleidern, funkelndem Glitzer und teurem Schmuck.
Mein Vater hat mich finanziell sehr unterstützt, da ich als
alleinerziehende Mutter nicht besonders gut verdiente. Er hat auch das Haus
bezahlt. Im Gegenzug habe ich ihn gepflegt. Trotzdem gab ich meinen Job
nicht auf. Ich wollte selbstständig sein.
Ich habe mich um meinen Vater gekümmert, meinen Sohn großgezogen und dabei
noch gearbeitet. Dass ich das alles geschafft habe, machte mich sehr stolz.
Mein Leben war schön. Ich hatte alles und hätte gar keinen Mann gebraucht.
Bis ich 1986 eben doch einen kennenlernte und mich stark in ihn verliebte.
Jeden Tag hat er meinen Sohn aus dem Kindergarten abgeholt, um mich zu
entlasten. Da bin ich geschmolzen. Ein Jahr später haben wir geheiratet.
Irgendwann habe ich dann meinen Job gekündigt, um im Lebensmittelhandel
meines Mannes zu arbeiten. Wir bekamen einen zweiten Sohn und ich habe mehr
Zeit zu Hause verbracht. Rückblickend wünsche ich mir, ich wäre einfach
alleine geblieben.
Es fing langsam an: Erst bat er mich einmal um Geld. Zwanzigtausend Mark
für die Firma. Dann ein zweites Mal. Dann wieder und wieder. Ich hatte Geld
von meinem Vater, über das nur ich verfügen konnte. Davon habe ich die
Summen gezahlt. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich einen
ganzen Kühlwagen für sein Unternehmen bar bezahlt habe. Fünfzigtausend Mark
auf die Hand.
Wofür mein Geld genau draufging, habe ich irgendwann nicht mehr überblickt.
Trotzdem habe ich immer Ja gesagt. Auch dann, als ich gesamtschuldnerisch
eine Bürgschaft unterschreiben sollte. Weil bereits so viel Geld von mir in
der Firma steckte, fühlte ich mich verpflichtet, immer weiterzuzahlen. Als
gäbe es kein Zurück.
Mein Mann hat dazu auf mich eingeredet. Alles wird gut, meinte er. Dass ich
auf keinen Fall mein Haus verliere, hat er mir versprochen. Deshalb habe
ich die Bürgschaft unterschrieben. Seiner Firma ging es schlechter und
schlechter, ich wollte sie retten. Hätte ich damals schon verstanden, was
mich erwartet, hätte ich nicht unterzeichnet. Am Ende habe ich alles
verloren.
Über die Jahre musste ich mein ganzes Vermögen flüssig machen. Meine
Aktien, Geschäftsanteile. Als Letztes wurde mein Haus zwangsgeräumt. Ich
musste mit meinen Kindern zu meiner Mutter ziehen, in ihre kleine Wohnung.
Mein Mann zog woandershin.
Nachdem das Haus weg war, wollte ich mich scheiden lassen. Nach ein paar
Wochen ist mein Mann dann mit Blumen angekommen, um mich aufzuheitern. Wir
packen das zusammen, wir kommen wieder auf die Beine, hat er zu mir gesagt.
Da bin ich wieder weich geworden. Ein paar Jahre später, 2007, zogen wir
zusammen in eine Wohnung. Eine richtige Familie sind wir aber nicht mehr
geworden. Kurze Zeit später, 2008, erlitt er einen Schlaganfall. Drei Jahre
später ist er gestorben.
Heute, mit 65, lebe ich in der Wohnung, in der ich meine Mutter bis zu
ihrem Tod gepflegt habe. Hier fühle ich mich sehr unwohl. Ich habe keinen
Balkon und keinen Garten. Dafür leben neun Parteien im Haus, und es ist
immer laut. Die Gegend ist nicht schön. Meine persönlichen Gegenstände, die
mir nach der [4][Zwangsräumung] geblieben sind, lagern seit Jahren in
Garagen – weil aber mein Auto kaputt und die Reparatur zu teuer ist, kann
ich nicht mehr dorthin fahren. Meine Füße sind zu kaputt. Mein letztes
Stück Selbstständigkeit habe ich verloren.
Geld habe ich nur wenig. Als ich zuletzt auf meinen Rentenbescheid geschaut
habe, ist mir schlecht geworden. Ich habe so viel Zeit damit verbracht, die
Menschen in meinem Leben zu pflegen. Meine Mutter, meinen Vater und selbst
meinen Mann habe ich, nachdem er all mein Vermögen vernichtet hat, bis zum
Tod gepflegt. Dass ich jetzt so wenig Rente kriege, [5][liegt auch daran].
Das finde ich enttäuschend. Es lohnt sich in diesem Land weder Kinder
großzuziehen noch alte Leute zu pflegen.
Ich habe kaum Perspektiven für mein Leben. Ich bin froh, dass sich
wenigstens die Seniorenhilfe Lichtblick um mich kümmert. Vergangenes Jahr
im Dezember wurde ich von ihnen zu einer Musicalaufführung eingeladen.
Vorher gab es Kaffee und Kuchen für uns. Das war schön. Gleichzeitig fühlte
ich mich etwas unwohl, weil alle anderen so schick angezogen waren. Schöne
Kleidung kann ich mir ja nicht mehr leisten.
Im Alltag versuche ich, nicht an das zu denken, was ich verloren habe, an
das, was hätte sein können. Es fällt mir schwer. Es fühlt sich an, als wäre
die Zwangsräumung gestern gewesen. Mein ganzes Leben habe ich nie etwas für
mich getan. Irgendwann habe ich es vermutlich verlernt und bin auf der
Strecke geblieben. Ich wollte immer nur helfen.
Hätte ich damals einfach Nein gesagt, zu der Bürgschaft, zu den Zahlungen,
wäre heute alles anders. Es ist der Fehler, der mir mein Leben kaputt
gemacht hat. Protokoll: Jerrit Schlosser
31 Dec 2024
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Nora Belghaus
Jerrit Schlosser
Katharina Federl
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