# taz.de -- Lebensentscheidungen: Was hätte sein können | |
> Die Liebe, der Job, die (falschen) Freunde: Entscheidungen gehören zum | |
> Leben, nicht immer sind sie richtig. Vier Geschichten übers Hadern und | |
> Hoffen. | |
„Bis heute denke ich an meine erste große Liebe“ | |
Alexander Bohmbach (Name geändert), 51 Jahre, lebt in Berlin: | |
Frühe 90er-Jahre. Ich war Zivi in dem Altersheim, in dem sie arbeitete. Sie | |
fiel mir sofort auf: wie sie beherzt die kleinen täglichen Probleme anging | |
und sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ. Wie sie die Sorgen der | |
BewohnerInnen ernst nahm, ohne in diese als Fürsorglichkeit getarnte | |
Übergriffigkeit zu verfallen („Wir nehmen jetzt diese Tabletten, Frau | |
Müller“). | |
Sie hatte kurze blonde Haare und trug knallroten Lippenstift. Ich verliebte | |
mich sofort in sie. Das Problem: Ich wusste als schmaler 19-Jähriger nicht, | |
wie man einer sechs Jahre älteren Frau Avancen macht. | |
Eines Abends, ich hockte im Kellergeschoss in meiner Zivi-Bude und hörte | |
wie üblich U2, klopfte es. Sie hatte Nachtschicht, sie fragte, ob ich mal | |
hochkommen wolle. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Im Dienstzimmer saß | |
ich ihr aufgeregt gegenüber, wie bei einem Vorstellungsgespräch. Sie blies | |
souverän ihre Marlboro Light durch das offene Fenster in die laue | |
Frühlingsnacht. In der Nacht küssten wir uns zum ersten Mal. Von dem Tag an | |
fühlte sich alles leicht und licht an. Ein paar Tage später schliefen wir | |
das erste Mal miteinander, am nächsten Morgen sang ich überdreht in der | |
Heim-Großküche Gianna Nanninis „Bello e impossibile“ mit, das gerade im | |
Radio lief. Eine Kollegin grölte albern mit, sie dachte, es geht in dem | |
Lied um einen Hund. | |
Ein paar Wochen später zog ich mit meiner Reisetasche in die Wohnung der | |
Frau mit dem knallroten Lippenstift ein und wurde neben ihrem Kater der | |
zweite Mitbewohner. Der Kater akzeptierte mich umstandslos. | |
Sie war eine richtige Hamburgerin, was mich als Vorstadt-Hamburger mit | |
Ehrfurcht erfüllte: selbstbewusst, ein bisschen derb und direkt – was sie | |
wollte, das sagte sie geradeaus. Ich fand das gut. Wir lebten zusammen, als | |
ob wir nie etwas anderes getan hätten. Sie ging mit mir in die Hamburger | |
Clubs, ich ging mit ihr in die Programmkinos der Stadt. Wir entdeckten | |
durch den anderen jeweils eine neue Welt. | |
Sie zeigte mir auch ihre Zerbrechlichkeit hinter ihrer selbstbewussten | |
Seite: Ihr Vater war früh gestorben, das Verhältnis zur Mutter kühl. Sie | |
sah in uns eine neue kleine Familie. Mich engte das mit meinen 19 Jahren | |
nicht ein, ich teilte die Ernsthaftigkeit des Ganzen. | |
Ein paar Monate später ging es für mich fürs Studium in eine nicht weit | |
entfernte Stadt, wir blieben natürlich ein Paar. Während meine | |
MitstudentInnen das neue freie Leben ausgiebig nutzten, freute ich mich auf | |
unsere gegenseitigen Wochenendbesuche. Als ich einmal wieder bei ihr war, | |
spazierten wir durch eine Siedlung mit schmalen Reihenhäusern. Ich sah ein | |
junges Paar, das gerade einen Babysitz samt Baby aus dem Auto hievte. Wäre | |
doch eigentlich ganz schön, dieses ganz normale kleinbürgerliche Leben, | |
dachte ich: zwei Kinder und ein Häuschen, am Sonnabend Großeinkauf mit dem | |
VW Polo, am Sonntag zu zweit [1][„Tatort“ gucken]. | |
Wir beide stammten aus ebendiesem Milieu, aus dem ich doch eigentlich | |
hinauswollte. Und tatsächlich, mit der Zeit zerrieben mich meine zwei so | |
verschiedenen Leben – Studium und Beziehung – immer mehr. Wenn ihre | |
Freundinnen, allesamt Altenpflegerinnen und Krankenschwestern, zu Besuch | |
kamen, auf einen Weißwein von Blanchet, langweilten mich ihre Themen | |
zunehmend. Heute befremdet mich meine damalige Arroganz – aber mit seinem | |
Herkunftsmilieu geht man, wenn man jung ist, oft ungnädig um. | |
Einmal sagte sie zu mir, sie könne doch in meine Unistadt ziehen, da gebe | |
es genug Stellen für sie. Ich versuchte, meine intuitive innere Abwehr | |
hinter einem „Ja, gucken wir mal“ zu verbergen – und erschrak über meine | |
Reaktion. | |
Zwei Jahre später folgte die nächste Station für mich: Auslandsstudium. | |
Jetzt war mir klar, ich entscheide mich für das andere Leben. Arrogant | |
(oder unsicher?) und mit der Herkunftsscham vieler Aufsteiger stellte ich | |
mir vor, wie es wäre, den polyglotten MitbewohnerInnen meine Freundin, die | |
kaum Englisch sprach, vorzustellen. Als ich ihr eines Tages – die Abreise | |
nahte – beim Essen ankündigte, dass es das mit uns dann wohl gewesen sein | |
dürfte, reagierte sie nicht überrascht, aber tief getroffen. | |
Ein Jahr später sahen wir uns wieder und nahmen eine unverbindliche | |
Bettgeschichte auf. Aber es fühlte sich schlecht an. Ich merkte ihre tiefe | |
Kränkung durch die Trennung; gleichzeitig bedeutete es für sie mehr als für | |
mich. Irgendwann war auch das vorbei. | |
Als sie fast zwei Jahrzehnte später 50 wurde, nahm ich mir vor, sie | |
anzurufen. Wie geht es ihr? Hat sie die Kinder, die sie sich wünschte? Ist | |
sie glücklich? Das schlechte Gewissen ploppte wieder auf. Ich besorgte mir | |
bei ihrer überraschten Schwester, die ich ergoogeln konnte, ihre Nummer. | |
Mein Herz klopfte bis zum Hals, aber sie ging nicht ran. Ich versuchte es | |
nicht noch mal. Vielleicht soll es so sein, dachte ich. Oder mich verließ | |
der Mut. | |
Was wäre gewesen, wenn? Die Frage ist nicht realistisch – was war, das ist. | |
Ich wurde Vater, heiratete, später folgte eine „einvernehmliche“ – wie es | |
so unschön heißt – Scheidung. Aber es bleibt der schale Geschmack des | |
Verrats an der ersten großen Liebe. Wenn Frühling ist und die Luft diesen | |
besonderen Geruch hat, muss ich bis heute an die Frau mit dem knallroten | |
Lippenstift denken. | |
„Ich tat alles für das Prestige im Job“ | |
Eva Hartmann, 36 Jahre, lebt in Berlin: | |
Meine Mutter arbeitete als Pädagogin für Krankenpflege, mein Vater als | |
Architekt, selbständig, mit eigenem Büro. Sein Beruf war unfairerweise | |
deutlich präsenter in unserem Familienalltag als der meiner Mutter. Oft | |
brach er abends zu Veranstaltungen auf, in weißem Hemd. Als ich Kind war, | |
Anfang der 2000er, ging es zu Hause oft um die Baukrise und manchmal auch | |
um ganz konkrete Geldsorgen meiner Eltern. Aber das schreckte mich nicht | |
ab. Als Teenager nahm mich mein Vater ab und zu mit zu den Veranstaltungen. | |
Ich lernte, dass Architekt ein Beruf mit Ansehen war, einer, für den man | |
Anerkennung und Bestätigung bekam. | |
Wenn Freunde meiner Eltern zu Besuch waren, wurde ich oft gefragt: Und du? | |
Wirst du auch mal Architektin? Beim Besuch einer Berliner Kunstmesse | |
erklärte ich meinem Vater schließlich: Du, Papa, ich will auch Architektin | |
werden. | |
Nach dem Abitur reiste ich zuerst etwas herum, dann bewarb ich mich bei der | |
renommierten Weimarer Bauhaus-Uni für ein Architekturstudium. Es klappte, | |
und so saß ich kurz darauf aufgeregt, erwartungsvoll und ehrfürchtig in | |
meiner ersten Vorlesung. Doch mein Studium war schon bald geprägt von | |
Überforderung und Selbstzweifeln. Ich kämpfte mit den hohen Ansprüchen an | |
mich selbst, verglich mich und meine Leistungen ständig mit den Besten der | |
Besten. Es herrschte ein enormer Konkurrenzdruck. Wir Studierenden | |
kokettierten damit, wer am wenigsten geschlafen hatte, weil er oder sie | |
sich mal wieder die Nacht im Arbeitsraum mit einem Entwurf um die Ohren | |
geschlagen hatte. | |
Trotzdem zog ich es durch. Nach einigen Praktika bekam ich meine erste | |
Festanstellung in einem Architekturbüro. Nach einer Frist von zwei Jahren | |
ließ ich mich sofort in die Architektenkammer aufnehmen. Ich durfte mich | |
nun offiziell Architektin nennen und bekam einen eigenen Stempel mit dem | |
Berliner Bären drauf. Wieder spürte ich den Stolz meines Vaters, der auch | |
mich mit Stolz erfüllte. Ich hatte es geschafft. | |
Dann begann der Putz zu bröckeln. Auf der Baustelle nahmen mich die Männer | |
oft nicht ernst, obwohl ich mittlerweile die Bauleitung innehatte. „Junges | |
Fräulein“, sagte einmal einer zu mir. Ich ließ mir daraufhin einen | |
Kurzhaarschnitt schneiden. Ich verdiente wenig und arbeitete viel. Ich | |
erkannte, dass meine Gestaltungsspielräume deutlich begrenzter waren, als | |
ich sie mir im Studium noch ausgemalt hatte, und fühlte mich bald wie eine | |
Dienstleisterin. | |
Ich kündigte, nahm eine kurze Auszeit, dann stieß ich auf eine Stelle im | |
Bundesamt für Bauwesen und Bauordnung. Ich dachte, endlich könnte ich | |
Bauherrin sein. Maestra statt Dienstleisterin. Und öffentliche Gebäude zu | |
planen kam mir sinnstiftender vor als Gebäude für Investor:innen. Dazu mehr | |
Geld, weniger Arbeit, mehr Urlaubstage und ein 13. Gehalt. Ich bewarb mich | |
und bekam die Stelle. | |
Doch schon in der ersten Woche schlug die Ernüchterung ein. Gefühlt alle | |
Klischees über Verwaltungsjobs erfüllten sich in kürzester Zeit. Die | |
Prozesse waren zäh, jeder hatte seine eigene Kaffeetasse im Schrank, und | |
als ich die stellvertretende Projektleitung übernehmen sollte, fühlte ich | |
mich bald wie ein Spielball für politische Mätzchen. Hinter vielen | |
Entscheidungen, die ich mich gezwungen fühlte zu treffen, stand ich nicht. | |
Oft fühlte ich mich ausgebrannt und unglücklich. Ich nahm mir vor, das Jahr | |
noch zu Ende zu bringen und bis dahin einen neuen Plan gefasst zu haben. | |
Ich war nun Mitte 30. In meinem Umfeld tat sich viel. Eine Freundin | |
wechselte die Branche von Marketing zur Sozialen Arbeit, eine andere | |
verabschiedete sich aus der Theaterszene, um ein Lehramtsstudium zu | |
beginnen, ein Bekannter gab seinen Beruf als Dirigent auf und wurde Bäcker. | |
Sie alle tauschten einen Beruf mit Prestige gegen einen anderen mit | |
geringerem gesellschaftlichen Ansehen. Ein Gedanke, der mir nie in den | |
Sinn gekommen war oder den ich mir vielleicht nicht erlaubt hatte, nahm | |
immer mehr Gestalt an: Vielleicht war ich nicht oder nicht mehr die | |
geborene Architektin, die den Vater mit so viel Stolz erfüllt, sondern | |
jemand anderes. | |
Gleichzeitig musste ich immer wieder an diese eine Radiosendung denken, die | |
ich vor ein paar Jahren gehört hatte. Ein Bestatter war zu Gast und wurde | |
ausführlich zu seinem Leben und seinem Beruf interviewt. Ich war | |
fasziniert. Nun stellte ich mir immer wieder vor, mich als Bestatterin | |
selbständig zu machen. Reden, Zuhören, Dasein – das kann ich doch ganz gut, | |
dachte ich. Auch für meinen offenen Umgang mit Tod und Trauer hatte ich von | |
Freunden, die selbst Angehörige verloren hatten, schon Bestätigung | |
bekommen. In unserer Familie war das Thema nie ein Tabu gewesen, ich fühlte | |
mich nicht unbeholfen damit, sondern selbstsicher. | |
Mit meiner Mutter sprach ich schon bald über diese Gedanken, meinem Vater | |
wollte ich es erst erzählen, wenn ich einen konkreten Plan hätte. Ich | |
machte einen Deal mit meinem Chef auf dem Amt. Ich würde für zwei Monate | |
unbezahlten Urlaub nehmen, um in der Zeit ein Praktikum in einem | |
Bestattungsunternehmen zu machen. | |
Daraufhin erzählte ich bald auch meinem Vater davon. Ich hatte einen | |
Riesenkloß im Hals, aber er reagierte gut. Mit dem Beruf Bestatterin könne | |
er nicht so viel anfangen, aber die Selbständigkeit, die würde mir sicher | |
guttun. Obwohl ich die Rolle meines Vaters in der Wahl meines Berufes in | |
einer Therapie schon voll und ganz durchgekaut hatte, spürte ich trotzdem | |
eine riesige Erleichterung, ihn mit meiner Entscheidung gegen die | |
Architektur offenbar nicht enttäuscht zu haben. | |
Das Praktikum wenige Monate später machte mir Spaß. Ich konnte mich nun | |
klar als Bestatterin sehen. Ich fand über Kontakte eine Partnerin für die | |
Selbständigkeit und kündigte meine Stelle auf dem Amt. Ab Januar 2024 | |
widmete ich mich in Vollzeit dem Aufbau des Gewerbes, im August eröffneten | |
wir unseren kleinen Laden. | |
Manchmal treibt mich die Angst vor dem Statusverlust noch um, aber meine | |
Therapie hat mir geholfen, einen Umgang damit zu finden. Und manchmal habe | |
ich Sorge, dass ich in drei Jahren wieder unzufrieden bin und alles | |
hinschmeißen will. Aber dann sage ich mir, dass, selbst wenn es so käme, | |
ich doch jetzt gelernt habe, wie so ein Neuanfang geht – und dass er geht. | |
Protokoll: Nora Belghaus | |
„Einmal habe ich ohne Führerschein Drogen über die holländische Grenze | |
gebracht“ | |
Dennis Kimani (Name geändert), 26 Jahre, lebt in der Nähe von Frankfurt: | |
Meine erste Anzeige müsste jetzt zwölf Jahre her sein. Damals wurde ich mit | |
meinen Freunden beim Graffitimalen erwischt. Drogenkonsum, Anzeigen wegen | |
Diebstahls und Körperverletzung, das alles hat bei mir ziemlich früh | |
angefangen. Alkohol [2][habe ich mit Jahren getrunken], mit zwölf habe ich | |
geraucht, mit dreizehn gekifft. | |
Als ich dann die neunte Klasse beendet hatte, bin ich auf eine andere | |
Schule gewechselt, um mein Abitur zu machen. Dort habe ich mich einem | |
Freundeskreis angeschlossen, der nicht gerade positive Auswirkungen auf | |
mich hatte. Weil ich damals schon gekifft habe, bin ich mit teilweise fünf | |
Jahre älteren Jungs in Kontakt gekommen. Zwei von denen haben Drogen | |
verkauft, also habe ich auch damit angefangen. Durch die Jungs habe ich | |
außerdem selbst neue Drogen ausprobiert, LSD und Ecstasy zum Beispiel. Mit | |
fünfzehn. | |
Ich glaube, das ist ungefähr der Punkt, an dem ich angefangen habe, aktiv | |
falsche Entscheidungen zu treffen. Rückblickend kann ich nicht genau sagen, | |
warum. Ich glaube aber, es war eine Mischung aus vielem: nicht zu wissen, | |
was ich mit mir anfangen soll, und definitiv auch eine Form von Rebellion. | |
Ich hatte immer das Gefühl, das System ist nicht gerecht zu mir. Warum | |
sollte ich mich dann an alle Regeln halten? | |
Was ich damals sicherlich gebraucht hätte, sind männliche Vorbilder. Mein | |
Vater ist abgehauen, mein Opa zu ungefähr der gleichen Zeit verstorben. | |
Meine Mutter hat zwar versucht, das alles aufzufangen, trotzdem haben mir | |
gewisse Dinge wohl gefehlt. Dadurch habe ich immer Anschluss bei älteren | |
männlichen Personen gesucht und war bereit, viel zu tun, um deren | |
Anerkennung zu gewinnen. | |
Natürlich ist es nicht beim Drogenverkaufen geblieben. Wir haben uns | |
gegenseitig unsere Drogen geklaut und sie oft auch anderen Leuten | |
abgenommen. Das Ganze ist nicht immer gewaltfrei abgelaufen: Entweder die | |
haben die Drogen freiwillig rausgerückt oder eben nicht. Wenn nicht, haben | |
wir sie geschubst, geschlagen, getreten. Das sind Aktionen, die ich heute | |
keinesfalls wiederholen würde. Damals in diesem Umkreis haben sie zur | |
Routine gehört. Und sie haben Geld gebracht. So konnte ich mein | |
Kinderzimmer einrichten oder mir Klamotten kaufen, die meine Mutter sich | |
nicht hätte leisten können in der Zeit. | |
Mit den Jungs von damals habe ich heute keinen Kontakt mehr. Einige sind | |
ins Gefängnis gegangen, weil sie über die Jahre noch wesentlich schwerer | |
straffällig wurden. Der eine hat eine Tankstelle ausgeraubt, der andere hat | |
gezielt Beamte angegriffen. Zwei wurden noch einige Jahre von der Polizei | |
gesucht. Rückblickend hatte ich großes Glück, mich an manchen Dingen nicht | |
zu beteiligen, sonst hätte mir ein ähnliches Schicksal geblüht. | |
Als ich volljährig wurde, habe ich keine Drogen mehr verkauft. Trotzdem | |
hatte ich immer wieder ein unstillbares Bedürfnis danach, in irgendeiner | |
Form auffällig zu werden und Konsequenzen zu ignorieren. Zum Beispiel bin | |
ich ständig unter Drogeneinfluss Auto gefahren, das war fast schon | |
Normalität. Irgendwann wurde ich von der Polizei erwischt, daraufhin bin | |
ich konsequent ohne Führerschein weitergefahren. Ich weiß noch, dass ich | |
einmal sogar ohne Führerschein nach Holland bin und Drogen über die Grenze | |
mitgenommen habe. | |
In meinem Studium hatte ich dann eine Phase, in der ich so viel gestohlen | |
habe, dass man fast von Kleptomanie sprechen könnte. Ein halbes Jahr lang | |
war ich jeden zweiten Tag in einem Mediamarkt und habe Handys und andere | |
Geräte mitgenommen. Ich habe Tüten mit Alufolie ausgelegt, damit die Sender | |
nicht ausschlagen. Der Moment, in dem ich wusste, dass es funktioniert hat, | |
hat sich jedes Mal wie eine krasse Belohnung angefühlt. Vielleicht war das | |
mein Fluch und Segen zugleich: Ich bin niemand, der nach einer Straftat | |
direkt erwischt wurde. Ich musste erst tausende Male Drogen verkaufen, | |
bekifft Auto fahren und klauen, bis ich wieder vor Gericht saß. | |
Mein Wendepunkt war der Moment, als ich das erste Mal wegen Diebstahls | |
angezeigt wurde. Da war ich 21. Die Richterin hat mir damals eindrücklich | |
erklärt, dass jetzt die Grenze erreicht ist, dass das hier die letzte | |
Chance für mich sein könnte. Wenn ich noch mal in irgendeiner Form | |
auffällig würde, würde mir Gefängnis winken. Zu dem Zeitpunkt hatte ich | |
schon hunderte Sozialstunden gemacht und Tausende Euro beim Gericht | |
gelassen. | |
Da habe ich gemerkt, dass es tatsächlich um mein Wohl und meine Freiheit | |
geht. Ich hatte nicht nur [3][Angst vor dem Knast], sondern habe auch | |
erkannt, dass ich alles, was ich mir durch das Klauen angespart habe, durch | |
die Prozesse eh wieder verliere. Das Geld hat hinten und vorne nicht | |
gereicht, weil ich konstant Schulden abbezahlen musste. Und dann war da | |
noch die Gefährdung anderer Menschen. Das Fahren unter Drogeneinfluss, die | |
Körperverletzungen, das sind alles Situationen, wo jemand auch ernsthaft zu | |
Schaden hätte kommen können. Dafür empfinde ich bis heute Scham und Reue. | |
Ich frage ich mich oft, wer ich wäre, hätte ich das alles nicht gemacht. | |
Ich bin mir sicher, dass ich die Schule und mein Studium besser und früher | |
abgeschlossen hätte. Aber ich empfinde auch Glück, dass ich aus eigener | |
Kraft heraus die Kurve gekriegt habe. Heute arbeite ich im sozialen | |
Bereich, das hätte ich mit einem Eintrag im Führungszeugnis knicken können. | |
Seit meinem Gerichtsprozess habe ich vielleicht ein Spätibier mal nicht | |
bezahlt. | |
Bis heute habe ich manchmal das Bedürfnis, etwas Verbotenes zu tun – für | |
den Kick. In solchen Momenten meine Vernunft nicht einfach zu ignorieren, | |
kostet mich Überwindung. Aber es klappt. | |
Protokoll: Katharina Federl | |
„Wofür mein Geld genau draufging, habe ich irgendwann nicht mehr | |
überblickt“ | |
Marion Meyer (Name geändert), 65 Jahre: | |
Am meisten vermisse ich das Haus, in dem ich gelebt habe. Die Bäder waren | |
mit Marmor verkleidet, die Wände mit Edelstahlputz. Die Möbel bestanden aus | |
dem feinsten Holz und wurden eigens für mich angefertigt. Es war alles vom | |
Feinsten, ja, wirklich. | |
Zu dieser Zeit war ich jung und strotzte vor Selbstbewusstsein. Die Bilder | |
von früher mag ich mir gar nicht mehr anschauen. Alle nannten mich eine | |
Traumfrau. Bei Festen fühlte ich mich wie eine Königin, in schulterfreien | |
Kleidern, funkelndem Glitzer und teurem Schmuck. | |
Mein Vater hat mich finanziell sehr unterstützt, da ich als | |
alleinerziehende Mutter nicht besonders gut verdiente. Er hat auch das Haus | |
bezahlt. Im Gegenzug habe ich ihn gepflegt. Trotzdem gab ich meinen Job | |
nicht auf. Ich wollte selbstständig sein. | |
Ich habe mich um meinen Vater gekümmert, meinen Sohn großgezogen und dabei | |
noch gearbeitet. Dass ich das alles geschafft habe, machte mich sehr stolz. | |
Mein Leben war schön. Ich hatte alles und hätte gar keinen Mann gebraucht. | |
Bis ich 1986 eben doch einen kennenlernte und mich stark in ihn verliebte. | |
Jeden Tag hat er meinen Sohn aus dem Kindergarten abgeholt, um mich zu | |
entlasten. Da bin ich geschmolzen. Ein Jahr später haben wir geheiratet. | |
Irgendwann habe ich dann meinen Job gekündigt, um im Lebensmittelhandel | |
meines Mannes zu arbeiten. Wir bekamen einen zweiten Sohn und ich habe mehr | |
Zeit zu Hause verbracht. Rückblickend wünsche ich mir, ich wäre einfach | |
alleine geblieben. | |
Es fing langsam an: Erst bat er mich einmal um Geld. Zwanzigtausend Mark | |
für die Firma. Dann ein zweites Mal. Dann wieder und wieder. Ich hatte Geld | |
von meinem Vater, über das nur ich verfügen konnte. Davon habe ich die | |
Summen gezahlt. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich einen | |
ganzen Kühlwagen für sein Unternehmen bar bezahlt habe. Fünfzigtausend Mark | |
auf die Hand. | |
Wofür mein Geld genau draufging, habe ich irgendwann nicht mehr überblickt. | |
Trotzdem habe ich immer Ja gesagt. Auch dann, als ich gesamtschuldnerisch | |
eine Bürgschaft unterschreiben sollte. Weil bereits so viel Geld von mir in | |
der Firma steckte, fühlte ich mich verpflichtet, immer weiterzuzahlen. Als | |
gäbe es kein Zurück. | |
Mein Mann hat dazu auf mich eingeredet. Alles wird gut, meinte er. Dass ich | |
auf keinen Fall mein Haus verliere, hat er mir versprochen. Deshalb habe | |
ich die Bürgschaft unterschrieben. Seiner Firma ging es schlechter und | |
schlechter, ich wollte sie retten. Hätte ich damals schon verstanden, was | |
mich erwartet, hätte ich nicht unterzeichnet. Am Ende habe ich alles | |
verloren. | |
Über die Jahre musste ich mein ganzes Vermögen flüssig machen. Meine | |
Aktien, Geschäftsanteile. Als Letztes wurde mein Haus zwangsgeräumt. Ich | |
musste mit meinen Kindern zu meiner Mutter ziehen, in ihre kleine Wohnung. | |
Mein Mann zog woandershin. | |
Nachdem das Haus weg war, wollte ich mich scheiden lassen. Nach ein paar | |
Wochen ist mein Mann dann mit Blumen angekommen, um mich aufzuheitern. Wir | |
packen das zusammen, wir kommen wieder auf die Beine, hat er zu mir gesagt. | |
Da bin ich wieder weich geworden. Ein paar Jahre später, 2007, zogen wir | |
zusammen in eine Wohnung. Eine richtige Familie sind wir aber nicht mehr | |
geworden. Kurze Zeit später, 2008, erlitt er einen Schlaganfall. Drei Jahre | |
später ist er gestorben. | |
Heute, mit 65, lebe ich in der Wohnung, in der ich meine Mutter bis zu | |
ihrem Tod gepflegt habe. Hier fühle ich mich sehr unwohl. Ich habe keinen | |
Balkon und keinen Garten. Dafür leben neun Parteien im Haus, und es ist | |
immer laut. Die Gegend ist nicht schön. Meine persönlichen Gegenstände, die | |
mir nach der [4][Zwangsräumung] geblieben sind, lagern seit Jahren in | |
Garagen – weil aber mein Auto kaputt und die Reparatur zu teuer ist, kann | |
ich nicht mehr dorthin fahren. Meine Füße sind zu kaputt. Mein letztes | |
Stück Selbstständigkeit habe ich verloren. | |
Geld habe ich nur wenig. Als ich zuletzt auf meinen Rentenbescheid geschaut | |
habe, ist mir schlecht geworden. Ich habe so viel Zeit damit verbracht, die | |
Menschen in meinem Leben zu pflegen. Meine Mutter, meinen Vater und selbst | |
meinen Mann habe ich, nachdem er all mein Vermögen vernichtet hat, bis zum | |
Tod gepflegt. Dass ich jetzt so wenig Rente kriege, [5][liegt auch daran]. | |
Das finde ich enttäuschend. Es lohnt sich in diesem Land weder Kinder | |
großzuziehen noch alte Leute zu pflegen. | |
Ich habe kaum Perspektiven für mein Leben. Ich bin froh, dass sich | |
wenigstens die Seniorenhilfe Lichtblick um mich kümmert. Vergangenes Jahr | |
im Dezember wurde ich von ihnen zu einer Musicalaufführung eingeladen. | |
Vorher gab es Kaffee und Kuchen für uns. Das war schön. Gleichzeitig fühlte | |
ich mich etwas unwohl, weil alle anderen so schick angezogen waren. Schöne | |
Kleidung kann ich mir ja nicht mehr leisten. | |
Im Alltag versuche ich, nicht an das zu denken, was ich verloren habe, an | |
das, was hätte sein können. Es fällt mir schwer. Es fühlt sich an, als wäre | |
die Zwangsräumung gestern gewesen. Mein ganzes Leben habe ich nie etwas für | |
mich getan. Irgendwann habe ich es vermutlich verlernt und bin auf der | |
Strecke geblieben. Ich wollte immer nur helfen. | |
Hätte ich damals einfach Nein gesagt, zu der Bürgschaft, zu den Zahlungen, | |
wäre heute alles anders. Es ist der Fehler, der mir mein Leben kaputt | |
gemacht hat. Protokoll: Jerrit Schlosser | |
31 Dec 2024 | |
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