| # taz.de -- Lebensentscheidungen: Was hätte sein können | |
| > Die Liebe, der Job, die (falschen) Freunde: Entscheidungen gehören zum | |
| > Leben, nicht immer sind sie richtig. Vier Geschichten übers Hadern und | |
| > Hoffen. | |
| „Bis heute denke ich an meine erste große Liebe“ | |
| Alexander Bohmbach (Name geändert), 51 Jahre, lebt in Berlin: | |
| Frühe 90er-Jahre. Ich war Zivi in dem Altersheim, in dem sie arbeitete. Sie | |
| fiel mir sofort auf: wie sie beherzt die kleinen täglichen Probleme anging | |
| und sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ. Wie sie die Sorgen der | |
| BewohnerInnen ernst nahm, ohne in diese als Fürsorglichkeit getarnte | |
| Übergriffigkeit zu verfallen („Wir nehmen jetzt diese Tabletten, Frau | |
| Müller“). | |
| Sie hatte kurze blonde Haare und trug knallroten Lippenstift. Ich verliebte | |
| mich sofort in sie. Das Problem: Ich wusste als schmaler 19-Jähriger nicht, | |
| wie man einer sechs Jahre älteren Frau Avancen macht. | |
| Eines Abends, ich hockte im Kellergeschoss in meiner Zivi-Bude und hörte | |
| wie üblich U2, klopfte es. Sie hatte Nachtschicht, sie fragte, ob ich mal | |
| hochkommen wolle. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Im Dienstzimmer saß | |
| ich ihr aufgeregt gegenüber, wie bei einem Vorstellungsgespräch. Sie blies | |
| souverän ihre Marlboro Light durch das offene Fenster in die laue | |
| Frühlingsnacht. In der Nacht küssten wir uns zum ersten Mal. Von dem Tag an | |
| fühlte sich alles leicht und licht an. Ein paar Tage später schliefen wir | |
| das erste Mal miteinander, am nächsten Morgen sang ich überdreht in der | |
| Heim-Großküche Gianna Nanninis „Bello e impossibile“ mit, das gerade im | |
| Radio lief. Eine Kollegin grölte albern mit, sie dachte, es geht in dem | |
| Lied um einen Hund. | |
| Ein paar Wochen später zog ich mit meiner Reisetasche in die Wohnung der | |
| Frau mit dem knallroten Lippenstift ein und wurde neben ihrem Kater der | |
| zweite Mitbewohner. Der Kater akzeptierte mich umstandslos. | |
| Sie war eine richtige Hamburgerin, was mich als Vorstadt-Hamburger mit | |
| Ehrfurcht erfüllte: selbstbewusst, ein bisschen derb und direkt – was sie | |
| wollte, das sagte sie geradeaus. Ich fand das gut. Wir lebten zusammen, als | |
| ob wir nie etwas anderes getan hätten. Sie ging mit mir in die Hamburger | |
| Clubs, ich ging mit ihr in die Programmkinos der Stadt. Wir entdeckten | |
| durch den anderen jeweils eine neue Welt. | |
| Sie zeigte mir auch ihre Zerbrechlichkeit hinter ihrer selbstbewussten | |
| Seite: Ihr Vater war früh gestorben, das Verhältnis zur Mutter kühl. Sie | |
| sah in uns eine neue kleine Familie. Mich engte das mit meinen 19 Jahren | |
| nicht ein, ich teilte die Ernsthaftigkeit des Ganzen. | |
| Ein paar Monate später ging es für mich fürs Studium in eine nicht weit | |
| entfernte Stadt, wir blieben natürlich ein Paar. Während meine | |
| MitstudentInnen das neue freie Leben ausgiebig nutzten, freute ich mich auf | |
| unsere gegenseitigen Wochenendbesuche. Als ich einmal wieder bei ihr war, | |
| spazierten wir durch eine Siedlung mit schmalen Reihenhäusern. Ich sah ein | |
| junges Paar, das gerade einen Babysitz samt Baby aus dem Auto hievte. Wäre | |
| doch eigentlich ganz schön, dieses ganz normale kleinbürgerliche Leben, | |
| dachte ich: zwei Kinder und ein Häuschen, am Sonnabend Großeinkauf mit dem | |
| VW Polo, am Sonntag zu zweit [1][„Tatort“ gucken]. | |
| Wir beide stammten aus ebendiesem Milieu, aus dem ich doch eigentlich | |
| hinauswollte. Und tatsächlich, mit der Zeit zerrieben mich meine zwei so | |
| verschiedenen Leben – Studium und Beziehung – immer mehr. Wenn ihre | |
| Freundinnen, allesamt Altenpflegerinnen und Krankenschwestern, zu Besuch | |
| kamen, auf einen Weißwein von Blanchet, langweilten mich ihre Themen | |
| zunehmend. Heute befremdet mich meine damalige Arroganz – aber mit seinem | |
| Herkunftsmilieu geht man, wenn man jung ist, oft ungnädig um. | |
| Einmal sagte sie zu mir, sie könne doch in meine Unistadt ziehen, da gebe | |
| es genug Stellen für sie. Ich versuchte, meine intuitive innere Abwehr | |
| hinter einem „Ja, gucken wir mal“ zu verbergen – und erschrak über meine | |
| Reaktion. | |
| Zwei Jahre später folgte die nächste Station für mich: Auslandsstudium. | |
| Jetzt war mir klar, ich entscheide mich für das andere Leben. Arrogant | |
| (oder unsicher?) und mit der Herkunftsscham vieler Aufsteiger stellte ich | |
| mir vor, wie es wäre, den polyglotten MitbewohnerInnen meine Freundin, die | |
| kaum Englisch sprach, vorzustellen. Als ich ihr eines Tages – die Abreise | |
| nahte – beim Essen ankündigte, dass es das mit uns dann wohl gewesen sein | |
| dürfte, reagierte sie nicht überrascht, aber tief getroffen. | |
| Ein Jahr später sahen wir uns wieder und nahmen eine unverbindliche | |
| Bettgeschichte auf. Aber es fühlte sich schlecht an. Ich merkte ihre tiefe | |
| Kränkung durch die Trennung; gleichzeitig bedeutete es für sie mehr als für | |
| mich. Irgendwann war auch das vorbei. | |
| Als sie fast zwei Jahrzehnte später 50 wurde, nahm ich mir vor, sie | |
| anzurufen. Wie geht es ihr? Hat sie die Kinder, die sie sich wünschte? Ist | |
| sie glücklich? Das schlechte Gewissen ploppte wieder auf. Ich besorgte mir | |
| bei ihrer überraschten Schwester, die ich ergoogeln konnte, ihre Nummer. | |
| Mein Herz klopfte bis zum Hals, aber sie ging nicht ran. Ich versuchte es | |
| nicht noch mal. Vielleicht soll es so sein, dachte ich. Oder mich verließ | |
| der Mut. | |
| Was wäre gewesen, wenn? Die Frage ist nicht realistisch – was war, das ist. | |
| Ich wurde Vater, heiratete, später folgte eine „einvernehmliche“ – wie es | |
| so unschön heißt – Scheidung. Aber es bleibt der schale Geschmack des | |
| Verrats an der ersten großen Liebe. Wenn Frühling ist und die Luft diesen | |
| besonderen Geruch hat, muss ich bis heute an die Frau mit dem knallroten | |
| Lippenstift denken. | |
| „Ich tat alles für das Prestige im Job“ | |
| Eva Hartmann, 36 Jahre, lebt in Berlin: | |
| Meine Mutter arbeitete als Pädagogin für Krankenpflege, mein Vater als | |
| Architekt, selbständig, mit eigenem Büro. Sein Beruf war unfairerweise | |
| deutlich präsenter in unserem Familienalltag als der meiner Mutter. Oft | |
| brach er abends zu Veranstaltungen auf, in weißem Hemd. Als ich Kind war, | |
| Anfang der 2000er, ging es zu Hause oft um die Baukrise und manchmal auch | |
| um ganz konkrete Geldsorgen meiner Eltern. Aber das schreckte mich nicht | |
| ab. Als Teenager nahm mich mein Vater ab und zu mit zu den Veranstaltungen. | |
| Ich lernte, dass Architekt ein Beruf mit Ansehen war, einer, für den man | |
| Anerkennung und Bestätigung bekam. | |
| Wenn Freunde meiner Eltern zu Besuch waren, wurde ich oft gefragt: Und du? | |
| Wirst du auch mal Architektin? Beim Besuch einer Berliner Kunstmesse | |
| erklärte ich meinem Vater schließlich: Du, Papa, ich will auch Architektin | |
| werden. | |
| Nach dem Abitur reiste ich zuerst etwas herum, dann bewarb ich mich bei der | |
| renommierten Weimarer Bauhaus-Uni für ein Architekturstudium. Es klappte, | |
| und so saß ich kurz darauf aufgeregt, erwartungsvoll und ehrfürchtig in | |
| meiner ersten Vorlesung. Doch mein Studium war schon bald geprägt von | |
| Überforderung und Selbstzweifeln. Ich kämpfte mit den hohen Ansprüchen an | |
| mich selbst, verglich mich und meine Leistungen ständig mit den Besten der | |
| Besten. Es herrschte ein enormer Konkurrenzdruck. Wir Studierenden | |
| kokettierten damit, wer am wenigsten geschlafen hatte, weil er oder sie | |
| sich mal wieder die Nacht im Arbeitsraum mit einem Entwurf um die Ohren | |
| geschlagen hatte. | |
| Trotzdem zog ich es durch. Nach einigen Praktika bekam ich meine erste | |
| Festanstellung in einem Architekturbüro. Nach einer Frist von zwei Jahren | |
| ließ ich mich sofort in die Architektenkammer aufnehmen. Ich durfte mich | |
| nun offiziell Architektin nennen und bekam einen eigenen Stempel mit dem | |
| Berliner Bären drauf. Wieder spürte ich den Stolz meines Vaters, der auch | |
| mich mit Stolz erfüllte. Ich hatte es geschafft. | |
| Dann begann der Putz zu bröckeln. Auf der Baustelle nahmen mich die Männer | |
| oft nicht ernst, obwohl ich mittlerweile die Bauleitung innehatte. „Junges | |
| Fräulein“, sagte einmal einer zu mir. Ich ließ mir daraufhin einen | |
| Kurzhaarschnitt schneiden. Ich verdiente wenig und arbeitete viel. Ich | |
| erkannte, dass meine Gestaltungsspielräume deutlich begrenzter waren, als | |
| ich sie mir im Studium noch ausgemalt hatte, und fühlte mich bald wie eine | |
| Dienstleisterin. | |
| Ich kündigte, nahm eine kurze Auszeit, dann stieß ich auf eine Stelle im | |
| Bundesamt für Bauwesen und Bauordnung. Ich dachte, endlich könnte ich | |
| Bauherrin sein. Maestra statt Dienstleisterin. Und öffentliche Gebäude zu | |
| planen kam mir sinnstiftender vor als Gebäude für Investor:innen. Dazu mehr | |
| Geld, weniger Arbeit, mehr Urlaubstage und ein 13. Gehalt. Ich bewarb mich | |
| und bekam die Stelle. | |
| Doch schon in der ersten Woche schlug die Ernüchterung ein. Gefühlt alle | |
| Klischees über Verwaltungsjobs erfüllten sich in kürzester Zeit. Die | |
| Prozesse waren zäh, jeder hatte seine eigene Kaffeetasse im Schrank, und | |
| als ich die stellvertretende Projektleitung übernehmen sollte, fühlte ich | |
| mich bald wie ein Spielball für politische Mätzchen. Hinter vielen | |
| Entscheidungen, die ich mich gezwungen fühlte zu treffen, stand ich nicht. | |
| Oft fühlte ich mich ausgebrannt und unglücklich. Ich nahm mir vor, das Jahr | |
| noch zu Ende zu bringen und bis dahin einen neuen Plan gefasst zu haben. | |
| Ich war nun Mitte 30. In meinem Umfeld tat sich viel. Eine Freundin | |
| wechselte die Branche von Marketing zur Sozialen Arbeit, eine andere | |
| verabschiedete sich aus der Theaterszene, um ein Lehramtsstudium zu | |
| beginnen, ein Bekannter gab seinen Beruf als Dirigent auf und wurde Bäcker. | |
| Sie alle tauschten einen Beruf mit Prestige gegen einen anderen mit | |
| geringerem gesellschaftlichen Ansehen. Ein Gedanke, der mir nie in den | |
| Sinn gekommen war oder den ich mir vielleicht nicht erlaubt hatte, nahm | |
| immer mehr Gestalt an: Vielleicht war ich nicht oder nicht mehr die | |
| geborene Architektin, die den Vater mit so viel Stolz erfüllt, sondern | |
| jemand anderes. | |
| Gleichzeitig musste ich immer wieder an diese eine Radiosendung denken, die | |
| ich vor ein paar Jahren gehört hatte. Ein Bestatter war zu Gast und wurde | |
| ausführlich zu seinem Leben und seinem Beruf interviewt. Ich war | |
| fasziniert. Nun stellte ich mir immer wieder vor, mich als Bestatterin | |
| selbständig zu machen. Reden, Zuhören, Dasein – das kann ich doch ganz gut, | |
| dachte ich. Auch für meinen offenen Umgang mit Tod und Trauer hatte ich von | |
| Freunden, die selbst Angehörige verloren hatten, schon Bestätigung | |
| bekommen. In unserer Familie war das Thema nie ein Tabu gewesen, ich fühlte | |
| mich nicht unbeholfen damit, sondern selbstsicher. | |
| Mit meiner Mutter sprach ich schon bald über diese Gedanken, meinem Vater | |
| wollte ich es erst erzählen, wenn ich einen konkreten Plan hätte. Ich | |
| machte einen Deal mit meinem Chef auf dem Amt. Ich würde für zwei Monate | |
| unbezahlten Urlaub nehmen, um in der Zeit ein Praktikum in einem | |
| Bestattungsunternehmen zu machen. | |
| Daraufhin erzählte ich bald auch meinem Vater davon. Ich hatte einen | |
| Riesenkloß im Hals, aber er reagierte gut. Mit dem Beruf Bestatterin könne | |
| er nicht so viel anfangen, aber die Selbständigkeit, die würde mir sicher | |
| guttun. Obwohl ich die Rolle meines Vaters in der Wahl meines Berufes in | |
| einer Therapie schon voll und ganz durchgekaut hatte, spürte ich trotzdem | |
| eine riesige Erleichterung, ihn mit meiner Entscheidung gegen die | |
| Architektur offenbar nicht enttäuscht zu haben. | |
| Das Praktikum wenige Monate später machte mir Spaß. Ich konnte mich nun | |
| klar als Bestatterin sehen. Ich fand über Kontakte eine Partnerin für die | |
| Selbständigkeit und kündigte meine Stelle auf dem Amt. Ab Januar 2024 | |
| widmete ich mich in Vollzeit dem Aufbau des Gewerbes, im August eröffneten | |
| wir unseren kleinen Laden. | |
| Manchmal treibt mich die Angst vor dem Statusverlust noch um, aber meine | |
| Therapie hat mir geholfen, einen Umgang damit zu finden. Und manchmal habe | |
| ich Sorge, dass ich in drei Jahren wieder unzufrieden bin und alles | |
| hinschmeißen will. Aber dann sage ich mir, dass, selbst wenn es so käme, | |
| ich doch jetzt gelernt habe, wie so ein Neuanfang geht – und dass er geht. | |
| Protokoll: Nora Belghaus | |
| „Einmal habe ich ohne Führerschein Drogen über die holländische Grenze | |
| gebracht“ | |
| Dennis Kimani (Name geändert), 26 Jahre, lebt in der Nähe von Frankfurt: | |
| Meine erste Anzeige müsste jetzt zwölf Jahre her sein. Damals wurde ich mit | |
| meinen Freunden beim Graffitimalen erwischt. Drogenkonsum, Anzeigen wegen | |
| Diebstahls und Körperverletzung, das alles hat bei mir ziemlich früh | |
| angefangen. Alkohol [2][habe ich mit Jahren getrunken], mit zwölf habe ich | |
| geraucht, mit dreizehn gekifft. | |
| Als ich dann die neunte Klasse beendet hatte, bin ich auf eine andere | |
| Schule gewechselt, um mein Abitur zu machen. Dort habe ich mich einem | |
| Freundeskreis angeschlossen, der nicht gerade positive Auswirkungen auf | |
| mich hatte. Weil ich damals schon gekifft habe, bin ich mit teilweise fünf | |
| Jahre älteren Jungs in Kontakt gekommen. Zwei von denen haben Drogen | |
| verkauft, also habe ich auch damit angefangen. Durch die Jungs habe ich | |
| außerdem selbst neue Drogen ausprobiert, LSD und Ecstasy zum Beispiel. Mit | |
| fünfzehn. | |
| Ich glaube, das ist ungefähr der Punkt, an dem ich angefangen habe, aktiv | |
| falsche Entscheidungen zu treffen. Rückblickend kann ich nicht genau sagen, | |
| warum. Ich glaube aber, es war eine Mischung aus vielem: nicht zu wissen, | |
| was ich mit mir anfangen soll, und definitiv auch eine Form von Rebellion. | |
| Ich hatte immer das Gefühl, das System ist nicht gerecht zu mir. Warum | |
| sollte ich mich dann an alle Regeln halten? | |
| Was ich damals sicherlich gebraucht hätte, sind männliche Vorbilder. Mein | |
| Vater ist abgehauen, mein Opa zu ungefähr der gleichen Zeit verstorben. | |
| Meine Mutter hat zwar versucht, das alles aufzufangen, trotzdem haben mir | |
| gewisse Dinge wohl gefehlt. Dadurch habe ich immer Anschluss bei älteren | |
| männlichen Personen gesucht und war bereit, viel zu tun, um deren | |
| Anerkennung zu gewinnen. | |
| Natürlich ist es nicht beim Drogenverkaufen geblieben. Wir haben uns | |
| gegenseitig unsere Drogen geklaut und sie oft auch anderen Leuten | |
| abgenommen. Das Ganze ist nicht immer gewaltfrei abgelaufen: Entweder die | |
| haben die Drogen freiwillig rausgerückt oder eben nicht. Wenn nicht, haben | |
| wir sie geschubst, geschlagen, getreten. Das sind Aktionen, die ich heute | |
| keinesfalls wiederholen würde. Damals in diesem Umkreis haben sie zur | |
| Routine gehört. Und sie haben Geld gebracht. So konnte ich mein | |
| Kinderzimmer einrichten oder mir Klamotten kaufen, die meine Mutter sich | |
| nicht hätte leisten können in der Zeit. | |
| Mit den Jungs von damals habe ich heute keinen Kontakt mehr. Einige sind | |
| ins Gefängnis gegangen, weil sie über die Jahre noch wesentlich schwerer | |
| straffällig wurden. Der eine hat eine Tankstelle ausgeraubt, der andere hat | |
| gezielt Beamte angegriffen. Zwei wurden noch einige Jahre von der Polizei | |
| gesucht. Rückblickend hatte ich großes Glück, mich an manchen Dingen nicht | |
| zu beteiligen, sonst hätte mir ein ähnliches Schicksal geblüht. | |
| Als ich volljährig wurde, habe ich keine Drogen mehr verkauft. Trotzdem | |
| hatte ich immer wieder ein unstillbares Bedürfnis danach, in irgendeiner | |
| Form auffällig zu werden und Konsequenzen zu ignorieren. Zum Beispiel bin | |
| ich ständig unter Drogeneinfluss Auto gefahren, das war fast schon | |
| Normalität. Irgendwann wurde ich von der Polizei erwischt, daraufhin bin | |
| ich konsequent ohne Führerschein weitergefahren. Ich weiß noch, dass ich | |
| einmal sogar ohne Führerschein nach Holland bin und Drogen über die Grenze | |
| mitgenommen habe. | |
| In meinem Studium hatte ich dann eine Phase, in der ich so viel gestohlen | |
| habe, dass man fast von Kleptomanie sprechen könnte. Ein halbes Jahr lang | |
| war ich jeden zweiten Tag in einem Mediamarkt und habe Handys und andere | |
| Geräte mitgenommen. Ich habe Tüten mit Alufolie ausgelegt, damit die Sender | |
| nicht ausschlagen. Der Moment, in dem ich wusste, dass es funktioniert hat, | |
| hat sich jedes Mal wie eine krasse Belohnung angefühlt. Vielleicht war das | |
| mein Fluch und Segen zugleich: Ich bin niemand, der nach einer Straftat | |
| direkt erwischt wurde. Ich musste erst tausende Male Drogen verkaufen, | |
| bekifft Auto fahren und klauen, bis ich wieder vor Gericht saß. | |
| Mein Wendepunkt war der Moment, als ich das erste Mal wegen Diebstahls | |
| angezeigt wurde. Da war ich 21. Die Richterin hat mir damals eindrücklich | |
| erklärt, dass jetzt die Grenze erreicht ist, dass das hier die letzte | |
| Chance für mich sein könnte. Wenn ich noch mal in irgendeiner Form | |
| auffällig würde, würde mir Gefängnis winken. Zu dem Zeitpunkt hatte ich | |
| schon hunderte Sozialstunden gemacht und Tausende Euro beim Gericht | |
| gelassen. | |
| Da habe ich gemerkt, dass es tatsächlich um mein Wohl und meine Freiheit | |
| geht. Ich hatte nicht nur [3][Angst vor dem Knast], sondern habe auch | |
| erkannt, dass ich alles, was ich mir durch das Klauen angespart habe, durch | |
| die Prozesse eh wieder verliere. Das Geld hat hinten und vorne nicht | |
| gereicht, weil ich konstant Schulden abbezahlen musste. Und dann war da | |
| noch die Gefährdung anderer Menschen. Das Fahren unter Drogeneinfluss, die | |
| Körperverletzungen, das sind alles Situationen, wo jemand auch ernsthaft zu | |
| Schaden hätte kommen können. Dafür empfinde ich bis heute Scham und Reue. | |
| Ich frage ich mich oft, wer ich wäre, hätte ich das alles nicht gemacht. | |
| Ich bin mir sicher, dass ich die Schule und mein Studium besser und früher | |
| abgeschlossen hätte. Aber ich empfinde auch Glück, dass ich aus eigener | |
| Kraft heraus die Kurve gekriegt habe. Heute arbeite ich im sozialen | |
| Bereich, das hätte ich mit einem Eintrag im Führungszeugnis knicken können. | |
| Seit meinem Gerichtsprozess habe ich vielleicht ein Spätibier mal nicht | |
| bezahlt. | |
| Bis heute habe ich manchmal das Bedürfnis, etwas Verbotenes zu tun – für | |
| den Kick. In solchen Momenten meine Vernunft nicht einfach zu ignorieren, | |
| kostet mich Überwindung. Aber es klappt. | |
| Protokoll: Katharina Federl | |
| „Wofür mein Geld genau draufging, habe ich irgendwann nicht mehr | |
| überblickt“ | |
| Marion Meyer (Name geändert), 65 Jahre: | |
| Am meisten vermisse ich das Haus, in dem ich gelebt habe. Die Bäder waren | |
| mit Marmor verkleidet, die Wände mit Edelstahlputz. Die Möbel bestanden aus | |
| dem feinsten Holz und wurden eigens für mich angefertigt. Es war alles vom | |
| Feinsten, ja, wirklich. | |
| Zu dieser Zeit war ich jung und strotzte vor Selbstbewusstsein. Die Bilder | |
| von früher mag ich mir gar nicht mehr anschauen. Alle nannten mich eine | |
| Traumfrau. Bei Festen fühlte ich mich wie eine Königin, in schulterfreien | |
| Kleidern, funkelndem Glitzer und teurem Schmuck. | |
| Mein Vater hat mich finanziell sehr unterstützt, da ich als | |
| alleinerziehende Mutter nicht besonders gut verdiente. Er hat auch das Haus | |
| bezahlt. Im Gegenzug habe ich ihn gepflegt. Trotzdem gab ich meinen Job | |
| nicht auf. Ich wollte selbstständig sein. | |
| Ich habe mich um meinen Vater gekümmert, meinen Sohn großgezogen und dabei | |
| noch gearbeitet. Dass ich das alles geschafft habe, machte mich sehr stolz. | |
| Mein Leben war schön. Ich hatte alles und hätte gar keinen Mann gebraucht. | |
| Bis ich 1986 eben doch einen kennenlernte und mich stark in ihn verliebte. | |
| Jeden Tag hat er meinen Sohn aus dem Kindergarten abgeholt, um mich zu | |
| entlasten. Da bin ich geschmolzen. Ein Jahr später haben wir geheiratet. | |
| Irgendwann habe ich dann meinen Job gekündigt, um im Lebensmittelhandel | |
| meines Mannes zu arbeiten. Wir bekamen einen zweiten Sohn und ich habe mehr | |
| Zeit zu Hause verbracht. Rückblickend wünsche ich mir, ich wäre einfach | |
| alleine geblieben. | |
| Es fing langsam an: Erst bat er mich einmal um Geld. Zwanzigtausend Mark | |
| für die Firma. Dann ein zweites Mal. Dann wieder und wieder. Ich hatte Geld | |
| von meinem Vater, über das nur ich verfügen konnte. Davon habe ich die | |
| Summen gezahlt. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich einen | |
| ganzen Kühlwagen für sein Unternehmen bar bezahlt habe. Fünfzigtausend Mark | |
| auf die Hand. | |
| Wofür mein Geld genau draufging, habe ich irgendwann nicht mehr überblickt. | |
| Trotzdem habe ich immer Ja gesagt. Auch dann, als ich gesamtschuldnerisch | |
| eine Bürgschaft unterschreiben sollte. Weil bereits so viel Geld von mir in | |
| der Firma steckte, fühlte ich mich verpflichtet, immer weiterzuzahlen. Als | |
| gäbe es kein Zurück. | |
| Mein Mann hat dazu auf mich eingeredet. Alles wird gut, meinte er. Dass ich | |
| auf keinen Fall mein Haus verliere, hat er mir versprochen. Deshalb habe | |
| ich die Bürgschaft unterschrieben. Seiner Firma ging es schlechter und | |
| schlechter, ich wollte sie retten. Hätte ich damals schon verstanden, was | |
| mich erwartet, hätte ich nicht unterzeichnet. Am Ende habe ich alles | |
| verloren. | |
| Über die Jahre musste ich mein ganzes Vermögen flüssig machen. Meine | |
| Aktien, Geschäftsanteile. Als Letztes wurde mein Haus zwangsgeräumt. Ich | |
| musste mit meinen Kindern zu meiner Mutter ziehen, in ihre kleine Wohnung. | |
| Mein Mann zog woandershin. | |
| Nachdem das Haus weg war, wollte ich mich scheiden lassen. Nach ein paar | |
| Wochen ist mein Mann dann mit Blumen angekommen, um mich aufzuheitern. Wir | |
| packen das zusammen, wir kommen wieder auf die Beine, hat er zu mir gesagt. | |
| Da bin ich wieder weich geworden. Ein paar Jahre später, 2007, zogen wir | |
| zusammen in eine Wohnung. Eine richtige Familie sind wir aber nicht mehr | |
| geworden. Kurze Zeit später, 2008, erlitt er einen Schlaganfall. Drei Jahre | |
| später ist er gestorben. | |
| Heute, mit 65, lebe ich in der Wohnung, in der ich meine Mutter bis zu | |
| ihrem Tod gepflegt habe. Hier fühle ich mich sehr unwohl. Ich habe keinen | |
| Balkon und keinen Garten. Dafür leben neun Parteien im Haus, und es ist | |
| immer laut. Die Gegend ist nicht schön. Meine persönlichen Gegenstände, die | |
| mir nach der [4][Zwangsräumung] geblieben sind, lagern seit Jahren in | |
| Garagen – weil aber mein Auto kaputt und die Reparatur zu teuer ist, kann | |
| ich nicht mehr dorthin fahren. Meine Füße sind zu kaputt. Mein letztes | |
| Stück Selbstständigkeit habe ich verloren. | |
| Geld habe ich nur wenig. Als ich zuletzt auf meinen Rentenbescheid geschaut | |
| habe, ist mir schlecht geworden. Ich habe so viel Zeit damit verbracht, die | |
| Menschen in meinem Leben zu pflegen. Meine Mutter, meinen Vater und selbst | |
| meinen Mann habe ich, nachdem er all mein Vermögen vernichtet hat, bis zum | |
| Tod gepflegt. Dass ich jetzt so wenig Rente kriege, [5][liegt auch daran]. | |
| Das finde ich enttäuschend. Es lohnt sich in diesem Land weder Kinder | |
| großzuziehen noch alte Leute zu pflegen. | |
| Ich habe kaum Perspektiven für mein Leben. Ich bin froh, dass sich | |
| wenigstens die Seniorenhilfe Lichtblick um mich kümmert. Vergangenes Jahr | |
| im Dezember wurde ich von ihnen zu einer Musicalaufführung eingeladen. | |
| Vorher gab es Kaffee und Kuchen für uns. Das war schön. Gleichzeitig fühlte | |
| ich mich etwas unwohl, weil alle anderen so schick angezogen waren. Schöne | |
| Kleidung kann ich mir ja nicht mehr leisten. | |
| Im Alltag versuche ich, nicht an das zu denken, was ich verloren habe, an | |
| das, was hätte sein können. Es fällt mir schwer. Es fühlt sich an, als wäre | |
| die Zwangsräumung gestern gewesen. Mein ganzes Leben habe ich nie etwas für | |
| mich getan. Irgendwann habe ich es vermutlich verlernt und bin auf der | |
| Strecke geblieben. Ich wollte immer nur helfen. | |
| Hätte ich damals einfach Nein gesagt, zu der Bürgschaft, zu den Zahlungen, | |
| wäre heute alles anders. Es ist der Fehler, der mir mein Leben kaputt | |
| gemacht hat. Protokoll: Jerrit Schlosser | |
| 31 Dec 2024 | |
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