# taz.de -- Leben und Tod: Vom Anfang, vom Ende und dem Danach | |
> Unsere Autorin begleitet ihre Mutter beim Sterben. Sie fragt sich, was | |
> wir im Umgang mit dem Tod besser machen können. | |
Das Sterben meiner Mutter fühlt sich an wie eine schwere Geburt. Es | |
passiert etwas mit ihrem Körper, worüber sie kaum Kontrolle hat. Sie liegt | |
in einem Bett in einem Berliner Hospiz, über ihr an der Decke ein Bild mit | |
Wolkenhimmel. Sie ist unruhig, sie kämpft. Ständig versucht sie sich | |
aufzusetzen, es wirkt, als würde sie von etwas auf die Matratze | |
zurückgezogen. Sie zupft und zieht an unseren Ärmeln, zaghaft, mit letzter | |
Kraft. | |
Wir versuchen herauszufinden, was sie möchte, mit Ja-Nein-Fragen, der Tumor | |
hat ihr die Stimme genommen. Wir, ihre Kinder, sitzen neben ihr, jedes zu | |
einer Seite, Tochter und Sohn. Einmal noch, ganz nah. Irgendwann sagt sie | |
ihre letzten verständlichen Worte: „Schöne Scheiße.“ | |
Das trifft ziemlich genau, was ich in den vergangenen Monaten erlebt habe. | |
Ich habe meine Mutter beim Sterben begleitet, und weder sie noch ich waren | |
darauf vorbereitet. Seither treibt mich die Frage um, warum es so kam und | |
nicht anders, und ob es mit mehr Tod im Alltag nicht vielleicht – | |
wenigstens ein kleines bisschen – einfacher wäre, einen geliebten Menschen | |
sterben zu sehen. | |
Meine Mutter ist an Krebs erkrankt, eine von jährlich 500.000 Menschen in | |
Deutschland, in deren Leben diese Diagnose wie ein Komet einschlägt. Uns | |
erreicht der Komet am 17. Dezember 2020. Meine Mutter, 63 Jahre alt und vor | |
kurzem als Requisiteurin für Film und Fernsehen in Frührente gegangen, ist | |
schon seit Wochen heiser. Ich tingle gerade für eine Recherche von | |
Querdenker-Demo zu Querdenker-Demo. Am Tag zuvor schreibt sie mir eine | |
Whatsapp: | |
„Huhu, ich hoffe du gehst nicht im Querdenker Stress unter? Meine | |
Stimmlosigkeit kommt von einer linksseitigen Stimmbandlähmung. | |
(verunsichertes Emoji) war am Montag beim HNO Arzt und heute beim CT… jetzt | |
warte ich auf den Befund und mir ist schon etwas mulmig. (zwei | |
Kussmund-Herz-Emojis)“ | |
Ich frage sie, wann der Befund kommt, ob sie Schmerzen hat, ob der Arzt | |
etwas zur Ursache gesagt hat. Keine Antwort, bis zum nächsten Abend nicht. | |
Ich rufe sie an, genervt, weil sie mir nicht geantwortet hat. | |
In einem Tagebuch habe ich den Einschlag des Kometen festgehalten: | |
Dann kommt der Satz, vor dem ich mich in Gedanken schon so oft gefürchtet | |
hatte: „Ich muss dir was sagen.“ Mir wird schlecht, mein Herz schlägt | |
schneller, wie ein Trommelwirbel, der einen Schicksalsschlag ankündigt. | |
„Ich habe ein Bronchialkarzinom und Metastasen an den Lymphknoten.“ Ich | |
schweige nicht, da sind sofort Worte, die rauswollen, „Scheiße“ und „Fuc… | |
Ich stehe vom Küchenstuhl auf, gehe drei Schritte zur Tür und wieder | |
zurück, sitzen, aufstehen, drei Schritte vor und zurück, sitzen, wieder | |
aufstehen, bis wir auflegen. | |
Die Schriftstellerin Joan Didion beschreibt einen solchen Moment so: „Life | |
changes fast, life changes in the instant. You sit down to dinner and life | |
as you know it ends.“ In ihrem Buch „The Year of Magical Thinking“ | |
verarbeitet sie den plötzlichen Tod ihres Mannes, und immer wieder schiebt | |
sie – wie um sich selbst zu vergewissern – diesen einen Satz ein: Life as | |
you know it ends. Meine Mutter ist noch nicht tot, aber: Mit dem Kometen | |
ist der Tod in unser Leben eingeschlagen, und ich frage mich, ob er nicht | |
hätte anklopfen können. | |
Warum bin ich dem Tod bisher so selten begegnet, und warum überrascht er | |
mich so sehr? Ich lese mich ein. Auf die erste Frage finde ich eine profane | |
Antwort: Es wird weniger gestorben, weil wir seltener schwer krank werden | |
und länger leben. | |
Die zweite Frage ist komplizierter. Der Psychologe Joachim Wittkowski | |
begründet den Überraschungseffekt [1][in einem Artikel] der Zeitschrift | |
fluter so: Weil wir ab einem Alter von 8 bis 10 Jahren verstehen würden, | |
„dass Zeit linear ist und der Tod irreversibel“, das mache uns Angst, also | |
verdrängten wir ihn, bis er vor der Tür steht. | |
Der Kulturhistoriker Norbert Fischer sagt, das sei noch nicht immer so | |
gewesen, erst seit der Moderne, als das christliche Weltbild anfing zu | |
bröckeln. Da sei die Idee aufgekommen, „dass doch nicht Gott allein alles | |
bestimmt“. Im 20. Jahrhundert sei der Tod immer weiter aus der Gesellschaft | |
und in die Tabuzone gedrängt worden. | |
Und in einem Psychologie heute-Interview [2][mit dem Therapeuten Jürgen | |
Grieser] lässt sich nachlesen: „In großem Maßstab manifestiert sich unsere | |
Haltung gegen den Tod in einer Überbeschäftigung mit Fortschritt und | |
Konsum, die uns nicht zur Ruhe kommen lässt. {…} Solange ich kaufen kann, | |
lebe ich – das ist gewissermaßen ein Gegengedanke zum Sterben.“ | |
Schuld sind also Gott, der nicht mehr da ist, der Kapitalismus, der ihn | |
ersetzt hat, und unsere Psyche, die bei allem mitspielt, wie eine Komplizin | |
des Bösen? | |
Nach dem Telefonat am Küchentisch zieht das erste von vielen | |
Gedankengewittern auf: Lungenkrebs, das bekommen doch nur die anderen. Die | |
vom Hörensagen, die Freundin eines Freundes, der Vater einer Bekannten. | |
Aber meine Mutter doch nicht, bestimmt ein Irrtum. Sie ist doch nur heiser. | |
Und was, wenn doch? | |
Ich denke an die Reportagen über den Pflegenotstand, die Bilder von | |
Menschen, die für alles Hilfe brauchen, weil sie sowas haben wie Krebs. Und | |
dann daran sterben. Es wird eng in meiner Brust. Wo ist mein großer Bruder? | |
Den brauche ich jetzt. Aber der weiß noch von nichts, außerdem lebt er in | |
Hongkong und wegen Corona kommt er da gerade auch nicht weg. In mein | |
Tagebuch schreibe ich: | |
Ich wünschte, ich könnte alle Verantwortung abstreifen, sie wie einen | |
Mantel an einen Haken hängen und gehen. Ich schäme mich dafür, jetzt schon. | |
Im Licht des ersten Gewitters wird sichtbar, was ab diesem Tag unser Leben | |
prägen wird: Angst, Ohnmacht und viele offene Fragen. Was passiert, wenn | |
ein Mensch, den man liebt, an einer unheilbaren Krankheit erkrankt, was | |
passiert, wenn er stirbt? Wer kümmert sich und welche Grenzen hat das | |
Kümmern? | |
In den Wochen danach fühle ich mich wie vom Leben betrogen. Das | |
Gedankengewitter ist abgezogen, nun drehen sich meine Gedanken im Kreis: | |
Warum sie, warum ich, warum wir? Innen ist alles seltsam dumpf, außen geht | |
das Leben weiter wie eine schlechte Vorabendserie. Erst drei Wochen später | |
bricht sich der Kummer Bahn, ich weine und weine und fühle mich danach wie | |
eine verschrumpelte Birne. | |
Und mein Körper tut Dinge, die ich nicht kenne. Ich google die Symptome | |
„Plötzlich auftretendes Herzrasen, schwitzige Hände, Druck auf der Brust“. | |
Doktor Googles Diagnose: Womöglich Panikattacke. Ich schreibe meiner | |
ehemaligen Therapeutin eine Mail. Haben Sie noch Kapazitäten? Sie | |
vermittelt mich an eine Kollegin, was für ein Glück, vorerst. | |
Am 18. Februar beginnt die erste Chemo, und der tennisballgroße Tumor in | |
der Lunge unserer Mutter heißt jetzt Hermann. Mein Bruder hat ihn so | |
getauft. Irgendwo hat er gelesen, dass das helfen kann. Nicht gegen das | |
Krebsgeschwür, aber gegen die Ohnmacht. Unsere Mutter bezieht ihr Zimmer in | |
einem Krankenhaus am Rand von Berlin. Nach dem Mittagessen schreibt sie | |
eine Nachricht in die Familiengruppe, an meinen Bruder und mich: | |
„Alle sind sehr nett hier (Daumen-hoch-Emoji). Ein Arzt kommt irgendwann, | |
ich darf im Park spazieren gehen… der Erbsen Graupen Eintopf war lecker und | |
bestimmt sehr gesund. Damit ich mich nicht langweile, ist jetzt noch eine | |
Omi zu mir ins Zimmer gekommen (Zwinker-Emoji)“ | |
Mein Bruder antwortet: | |
„Das ist doch mal ein guter Einstand. Und jetzt – Hermann – bugger off!“ | |
Mein Bruder bemüht sich um Optimismus. Unsere Mutter, eine kleine, | |
zierliche Frau, hat es schon seit ein paar Jahren schwer, ihr Gewicht zu | |
halten. Nichts half, weil niemand darauf kam, dass es Hermann sein könnte, | |
der mitisst. Sie wurde immer weniger, wie ihre Hoffnung auf Heilung. Aber | |
mein Bruder, aus der Ferne, gibt nicht auf. Jetzt erst recht, | |
zusammenhalten, durchhalten. | |
Er ist es auch, der sich einliest, in die Welt der Tumore und Karzinome, | |
während ich regelmäßig Befunde abfotografiere, um sie nie wieder | |
anzuschauen. „Information is control“ schrieb Joan Didion, aber für mich | |
gilt dieses Gesetz nicht. Ich gehe für Mama einkaufen und mit dem Hund, | |
sitze in ihrer Küche und erzähle ihr aus meinem Leben. Der Einschlag des | |
Kometen hat einen Krater des Grauens hinterlassen. Wir balancieren an | |
seinen Rändern und versuchen nicht reinzuschauen. | |
Nach der Chemo wird bestrahlt. Am 13. April schreibt unsere Mutter in die | |
Gruppe: | |
„Hermann ist geschrumpft (Sektgläser-Emoji, umarmendes Emoji, | |
Sektflaschen-Emoji) und ab übermorgen wird das Bestrahlungsfeld verkleinert | |
(umarmendes Emoji)“ | |
Wird jetzt doch alles wieder so, wie es neulich noch war? | |
Für ein paar Wochen kehrt so was wie eine Vor-Diagnosen-Normalität zurück. | |
Der Frühling macht, dass alles wächst, auch unsere Zuversicht. Meine Mutter | |
geht wieder einkaufen, und manchmal zum Yoga. Sie kommt in die taz-Kantine | |
zum Mittagessen, wir sitzen draußen und blinzeln in die Sonne. Mutter und | |
Tochter im Alles-wird-gut-Modus. | |
Im Juli geht der Kampf gegen Hermann in die nächste Phase. Denn Hermann hat | |
meiner Mutter heimlich wieder ein Stück Leben abgegraben. Der nächste | |
Schritt: eine Immuntherapie. Ich google die Nebenwirkungen und lande auf | |
daskwort.de, einer Seite des Pharmakonzerns Roche. Ich lese den Slogan „Das | |
K Wort – Diagnose Krebs, Sag Ja zum Leben!“ und wundere mich. | |
Das K Wort? Das klingt wie ein billiges Rezept: einfach nicht mehr „Krebs“ | |
sagen und stattdessen das Leben bejahen. Ist auch das nicht Spiegel einer | |
Gesellschaft, die versucht, die Krankheit, an der Menschen in Deutschland | |
am zweithäufigsten sterben, aus dem Leben zu verbannen? | |
## Die Emojis sind traurig und haben Schweißperlen | |
In den Nachrichten, die meine Mutter diesmal aus dem Krankenhaus schreibt, | |
häufen sich die Wörter „müde“ und „schlapp“, die Emojis sind traurig… | |
haben Schweißperlen auf der Stirn. Mein Alles-wird-gut-Modus schlägt um in | |
Aktionismus. Je getrübter die Stimmung meiner Mutter, desto schneller werde | |
ich: Ich kümmere mich um Vieles, aber wenig um mich selbst. Ich mache | |
selten eine Pause, gehe oft ins Büro. Trinke mehr und esse weniger. Ringe | |
um Kontrolle am Tag, suche ihren Verlust in der Nacht. | |
Ich glaube, ich verdränge. Die Journalistin und Autorin Gabriele von Arnim | |
beschreibt das Phänomen in ihrem Buch „Das Leben ist ein vorübergehender | |
Zustand“ als Gratwanderung: „Flucht in Verdrängung ist so oft beides. Erst | |
Notwendigkeit und dann Versäumnis. Und wenn man nicht spürt, wann der eine | |
Zustand in den anderen kippt und man sich zu oft vor sich in sich | |
versteckt, dann verliert man sich.“ | |
Immer wieder finde ich mich auf dem Grat wieder, den von Arnim beschreibt. | |
Also verlängere ich meine Therapie. Manchmal sitze ich dort im Sessel und | |
lasse los. Dann weine ich und fühle mich leichter, als hätte jede Träne | |
zuvor ein tausendfaches ihres Gewichts gewogen. Immer öfter aber höre ich | |
mich die immer gleichen Dinge sagen. Dinge wie: „Ich fühle mich so hilflos | |
und klein. Wie kann ich bloß lernen, den Tod zu akzeptieren?“ Es tut gut, | |
sie auszusprechen, doch sie finden keinen Widerhall. Kann eine „normale“ | |
Therapie so etwas leisten? | |
In diesen Tagen stoße ich online [3][auf einen Artikel] im Süddeutsche | |
Zeitung Magazin. Darin wird die Autorin und ehrenamtliche Sterbebegleiterin | |
Ilka Piepgras zitiert. Piepgras schrieb einmal über die Faszination der | |
Sterbebegleitung, „den eigenen Turbo-Lebensrythmus der langsamen Gangart | |
eines verlöschenden Menschen unterzuordnen“. Während ich das lese, werde | |
ich wütend. Ich will meinen Turbo-Lebensrhythmus, weil da Leben drin | |
steckt, und ich will den auch für Mama, für den „verlöschenden Menschen“! | |
Als ich mich beruhigt habe, denke ich, ehrenamtliche Sterbebegleitung, das | |
könnte doch Teil der Lösung sein – für Sterbende und Zugehörige, denen im | |
besten Fall Angst und Sprachlosigkeit genommen wird, und für die | |
Begleitenden, die dem Tod eines Fremden schon mal die Hand schütteln | |
können. Sollte das nicht zu einem festeren Bestandteil des | |
gesellschaftlichen Lebens werden? | |
Verdrängen kann zwar eine Bewältigungsstrategie sein, die uns vor | |
psychischen Totalausfällen bewahrt, wenn wir die Täler existenzieller | |
Krisen wie Krankheit oder Tod durchschreiten. Nur was, wenn eine ganze | |
Gesellschaft verdrängt, was für jeden Menschen unausweichlich ist? | |
„Dann fehlen ihr die Werkzeuge“, sagt Claudia Cardinal. Sie hat vor über 20 | |
Jahren damit begonnen, analog zur Geburtsheilkunde eine Sterbeheilkunde zu | |
begründen, sie begleitet Sterbende und Trauernde und bildet andere zu | |
Sterbeammen und Sterbegefährten aus. Diese Analogie ist so klar, | |
eigentlich: Wenn ein Mensch ins Leben kommt, bereiten sich werdende Eltern | |
oft akribisch vor, es gibt Hebammen, die sie begleiten, die darüber | |
sprechen, wie sich der Körper verändert, ob es wehtut. Wenn ein Mensch | |
geht, ist das Schweigen laut. | |
Bei einem Gespräch erklärt Cardinal, dass mit der Aufklärung eine | |
spirituelle Leerstelle um unsere Vergänglichkeit entstanden sei. „Man | |
braucht nur die Frage nach der Seele zu stellen und gleich wird man | |
gefragt: Bist du Esoterikerin oder so was?“ Dabei gehe es darum, Wege und | |
Werkzeuge zu finden, bewusster und angstfreier mit dem Tod und den | |
Gefühlen, die ihn umgeben, umzugehen, „die Sprachlosigkeit zu überwinden“. | |
Auch ich bin sprachlos. Und ich frage mich unentwegt: Bin ich genug? | |
Empathisch genug? Genug für sie da? Ist da genug Nähe? Genug Zuversicht? | |
Aber auch: Bin ich ehrlich genug – mit ihr, mit mir, mit der Endlichkeit? | |
Und: Wie weit reicht meine Verantwortung? Müsste ich mehr aufgeben von | |
meinem Leben für das, was noch bleibt von ihrem? Wem würde ich damit | |
gerecht werden wollen, mir, meiner Mutter, der Gesellschaft? Meine | |
Therapeutin sagt: Sie tun, was Sie können, und das ist genug. Manchmal | |
hilft es. | |
Im September geht Mama in die Reha. Da ist Erleichterung, sie ist versorgt, | |
ich kann weg, in die Berge, wandern, Luft holen. Am 22. September schreibt | |
sie mir am Abend: | |
„Verdacht auf Lungenentzündung | |
(Schweißperle-auf-Stirn-Emoji/Kackhaufen-Emoji) keine Luft und keinen Bock | |
mehr“ | |
Wir wissen es noch nicht, aber sie hat ihren letzten freien Atemzug schon | |
getan. | |
Am 12. Oktober ist die Reha vorbei. Rehabilitiert hat sie nur die | |
Gewissheit, dass Hermann wächst und gedeiht. Meine Mutter liefert sich | |
selbst ein. Die Lungenentzündung geht weg, aber die Atemnot bleibt. Die | |
Ärztin bittet um ein Gespräch mit meiner Mutter und mir. Sie empfiehlt ein | |
Hospiz. „Und vielleicht wäre es gut, über den Tod zu sprechen“, sagt sie. | |
Ja verdammt, aber wie?, denke ich, nicke stumm und weine. | |
Im Zimmer meiner Mutter hänge ich später auf dem Stuhl neben ihrem Bett und | |
schaue in den grauen Himmel. Kraniche ziehen vorbei und ich will ihnen | |
folgen, mit ihnen wegfliegen, egal wohin. Ich fühle mich schlecht. Da ist | |
sie wieder, die Schuld. Wie sie abstecken, die eigenen Grenzen? Wie | |
erspüren, dass sie erreicht oder überschritten sind? Oder hat die Schuld | |
eine soziale Funktion, die richtig und wichtig ist? Das Individuum dazu zu | |
bringen, über sich hinauszuwachsen und der Fürsorge für andere mehr Gewicht | |
zu geben als sich selbst? | |
Ende Oktober ist Mama wieder zu Hause. Ein Pflegedienst kommt nun zweimal | |
am Tag, bringt Medikamente, einen Ständer für den Tropf, ein | |
Sauerstoffgerät wird per Kurier geliefert. Es ist schwer und röchelt. Wir | |
taufen es Darth Vader. | |
Meine Mutter ist immer ein Küchen-Mensch gewesen. Dort saßen wir, tranken | |
Kaffee, manchmal rauchte ich mit ihr, Pall Mall rot, obwohl ich eigentlich | |
gar nicht rauche, immer lief das Radio. In der Küche ist Mama kaum mehr, | |
sie liegt jetzt meistens im Bett. | |
Vieles in ihrer Wohnung erinnert an ein Leben, das sie nicht mehr führt und | |
nie mehr führen wird. Die bunten Klamotten auf der Kleiderstange, der | |
Restaurant-Gutschein, den sie zu ihrem 64. Geburtstag bekommen hat, die | |
Yogamatte, der Autoschlüssel. Ihr Schlafzimmer indes füllt sich mit | |
Requisiten der Palliativmedizin. | |
Ich lerne, dass Palliativ von palliare kommt, lateinisch für zudecken, | |
bemänteln. Das ist irgendwie schön, fast tröstlich. Auch wenn das Wort | |
Medizin hier eine Nebelkerze ist, denn mit medicina, der Kunst des Heilens, | |
hat das Ummanteln nichts mehr gemein. Der Mantel lindert das Leid, aber er | |
bekämpft es nicht mehr. | |
An einem Samstag wasche ich Mama die dünnen, weißen Haare, kopfüber über | |
der Badewanne. Ein paar Tränen tropfen mir vom Kinn, sie verschwinden mit | |
dem Shampoo im Abfluss, Glück gehabt. Ich finde, sie soll mich nicht weinen | |
sehen, nicht noch meinen Kummer mittragen. Also lasse ich keine Nähe zu, | |
werde roboterhaft, liebevoll höflich, aber distanziert. Doch ist es nicht | |
gerade Nähe, die sie jetzt braucht, und ich auch? Ich frage mich, wie | |
Menschen es schaffen, ihre Angehörigen zu pflegen, manchmal jahrelang. Wie | |
kriegen sie das hin, das mit der Nähe? | |
Am Abend frage ich sie, ob sie sich fürchtet, und wie es sich anfühlt, an | |
ein Hospiz zu denken. Sie zuckt mit den Schultern, „Ich weiß nicht. | |
Komisch.“ Die Woche darauf telefoniere ich im Büro Hospize ab, zum Weinen | |
verziehe ich mich auf die Feuertreppe, und schäme mich dafür, weil ich das | |
Gefühl habe, das passt hier nicht hin, das darf hier nicht sein. | |
Ob ich lieber mal zu Hause bleiben sollte oder ein paar Tage Urlaub | |
angebracht wären, frage ich mich nicht. Ich weiß: Nicht arbeiten ist keine | |
Option, und zu Hause sitzt auf dem Sofa die Angst. Dann doch lieber ins | |
Büro. | |
In einem Anfall von „Ich muss mich doch irgendwie vorbereiten“ kaufe ich | |
das Buch „So sterben wir“ von Roland Schulz. Der Autor adressiert darin den | |
Leser als sterbende Person, beschreibt den Prozess bis ins kleinste Detail. | |
Ich komme bis zu Seite 32. Da steht: | |
„Du bist schwach. Du hast Schmerzen. Du hast plötzlich zu viel und zu wenig | |
Zeit zugleich. Zu wenig, weil du spürst, dein Leben verrinnt. Zu viel, weil | |
du das, was dein Leben ausgemacht hat, nach und nach nicht mehr ausführen | |
kannst.“ | |
Mein Brustkorb ist wie zugeschnürt, ich lege das Buch weg. | |
Warum haben wir so etwas nicht in der Schule gelesen, frage ich mich | |
später, und finde heraus, dass es in den USA seit den 1970er Jahren die | |
Fachrichtung „death education“ gibt, auf deutsch „Unterrichtung über | |
Sterben, Tod und Trauer“ (USTT). Sie soll „Kenntnisse über die | |
Todesthematik vermitteln“ und den Menschen „den Umgang mit Sterbenden und | |
Trauernden durch den Abbau von Ängsten erleichtern“. | |
Während die Palliativmedizin seit 2009 in Deutschland im Medizinstudium | |
gelehrt werden muss, hat es Unterricht über das Sterben bisher nur | |
vereinzelt in die Schulen geschafft. Vor allem dort, wo Lehrer:innen | |
selbst die Initiative ergreifen, sagt Claudia Cardinal, die professionelle | |
Sterbeamme. Sie selbst habe eine Zeit lang jedes Jahr drei Tage mit | |
Oberstufenschüler:innen zum „Sinn des Lebens“ gearbeitet, inklusive | |
Besuch in einem stationären Hospiz. Das sei aber nur gegangen, weil ein | |
befreundeter Lehrer ihr seine Unterrichtszeit zur Verfügung gestellt habe. | |
Sonst gelte: „Das Thema wird in die Religionsfächer abgeschoben“. | |
Seit Jahren fordere die Hospizbewegung, die Inhalte in die Lehrpläne | |
aufzunehmen, aber immer wieder werde argumentiert, „es könne von den | |
Lehrkräften nicht verlangt werden, da sie selbst unsicher mit dem Thema | |
seien“. Weil schon die Erwachsenen nicht gelernt haben, mit dem Tod | |
umzugehen, lernen es auch die Kinder nicht? Klingt nach Teufelskreis. | |
## Mama, sage ich, es ist Zeit für das Hospiz | |
Am 28. November ist Mamas Angst vor der Atemnot so groß, dass sie die Nacht | |
nicht mehr allein sein will. Es ist Sonntagabend, ich schiebe Darth Vader | |
ins Wohnzimmer. Dann hole ich Mama hinterher, die durch den langen | |
Schlauch, der ihr in der Nase klemmt, mit dem Gerät verbunden ist. Sie legt | |
sich aufs Sofa, ich setze mich daneben. Wir schauen „Tatort“ – wie frühe… | |
als ich noch zur Schule ging –, ein letztes Mal. | |
Später liegt sie im Bett und ich auf dem Sofa, die Türen stehen offen, | |
damit ich ihr Not-Glöckchen höre, wenn sie die Angst heimsucht. Rufen kann | |
sie nicht mehr. Das leise Gurgeln, Zischen, Röcheln des Sauerstoffgeräts im | |
Nachbarzimmer macht mich schläfrig, aber ein Gedankengewitter zieht auf, | |
hält mich wach, mit Fragen: Was mache ich, wenn sie panisch wird? Wenn sie | |
große Schmerzen hat? Wenn sie kollabiert? | |
Am nächsten Morgen, draußen ist es noch dunkel, klingelt der Pflegedienst | |
sein kurzes Ankündigungsklingeln und öffnet die Tür. Puh, nochmal gut | |
gegangen. Aber so geht es nicht weiter. Mama, sage ich, es ist Zeit für das | |
Hospiz. Sie nickt, mit einem Blick, der sagt, es tut mir leid. | |
Zwei Tage später, am 30. November, ziehen wir um. Ich packe ihre Tasche mit | |
Dingen, die man braucht, wenn man auf eine Reise geht. Und ein paar | |
Weihnachtskugeln, ein kleines Schaf aus Draht und Wolle, eine Lichterkette. | |
Ich habe gehört, dass manche Menschen in einem Hospiz nochmal zu Kräften | |
kommen und noch Monate leben, und selten, aber manchmal, kommen sie sogar | |
wieder raus. Daran halte ich mich fest. | |
Und als mein Freund und ich am Abend die letzte Tasche aus dem Auto geholt | |
haben und durch die Tür des Hospizes kommen, läuft meine Mutter ohne | |
Sauerstoffgerät, eingehakt bei einem Pfleger, aufrecht und mit einem | |
schelmischen Grinsen den Flur auf und ab. Als wolle sie sagen: Ich bin | |
gekommen, um zu bleiben. | |
Doch die Tage darauf werden die Nachrichten immer seltener und kürzer, | |
nicht mal für Emojis hat sie noch Kraft. Am Abend rase ich mit dem Rad zu | |
ihr. Sie verlässt das Bett kaum noch, auch nicht zum Zähneputzen. Sie | |
wünscht sich trotzdem eine neue elektrische Zahnbürste. Ich sage: „Ich | |
kümmer mich.“ | |
Sie nimmt keine feste Nahrung mehr auf, trotzdem will sie wissen: Was essen | |
wir an Heiligabend? Ich sage: „Ich überleg mir was“, und massiere ihr dabei | |
die dürren Beine, die Haut, dünn wie Pergament. | |
Am 7. Dezember am frühen Nachmittag kommen mein Bruder und sein Mann aus | |
Hongkong an. Ab hier sind meine Erinnerungen fragmentiert, ich kann sie nur | |
in Fetzen abrufen. Irgendwann rufe ich meinen Freund an und sage: „Ich | |
glaub, es geht los.“ Wie bei einer Geburt. | |
Die letzten 48 Stunden verschmelzen zu einer zeitlosen Masse. Es ist, als | |
ob es nur noch diesen Raum, dieses Bett und uns gäbe. Vor dem Fenster die | |
kalte, graue Stadt mit ihren Autos, den irgendwohin eilenden Menschen, den | |
Touristen, den Hundehalterinnen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite | |
fällt der Blick auf einen zugewucherten Friedhof mit verwitterten | |
Grabsteinen – alles wirkt kulissenhaft und weit, weit weg. | |
Die Pfleger:innen kommen und gehen wie stille Held:innen. Sie beobachten | |
unsere Mutter, legen den Handrücken auf ihre Stirn, ersetzen leere Beutel | |
am Tropf, geben neues Morphium rein, und Mama dämmert ihrem Tod entgegen. | |
Wie lange dauert es noch?, frage ich, sehne mich nach Erlösung und wieder | |
schäme ich mich dafür. | |
Ich bleibe über Nacht, baue mir aus zwei Sesseln ein Bett und rolle mich | |
darauf wie ein Embryo zusammen, mit dem Gesicht zu Mama. In meinem Handy | |
habe ich die Erinnerungsfetzen ihrer letzten 12 Stunden festgehalten: | |
Die Nacht hat sie tief geschlafen, den Mund weit geöffnet, langsam | |
verändert sich ihr Körper, der Daumen wird als erstes blau, die Hand ist | |
noch lange warm, zwischendurch leuchten ihre Wangen rot, Tumorfieber sagt | |
die Pflegerin, der Tumor sondert Stoffe ab, das Immunsystem reagiert, immer | |
noch, dann zerfällt auch Hermann irgendwann, ein schwacher Trost, eine | |
kleine absurde Genugtuung, dass auch er mit ihr zu Grunde geht. | |
Mein Bruder zählt die Atemzüge pro Sekunde, die Pausen werden länger; wir | |
beobachten sie, als wären wir Medizinstudenten in einem Praxisseminar. | |
Am frühen Morgen aufrichten, wieder in die Kissen fallen, mit den Armen | |
rudern, die Hände greifen ins Leere, Flockenlesen nennt man das, die Augen | |
weit aufgerissen, dann wieder fast geschlossen, im Delirium, die Lunge | |
rasselt, sie röchelt, etwas brodelt, gluggert, man möchte es mit ihr | |
aushusten, Todesrasseln sagen sie dazu. | |
9 Uhr letzte halbe Stunde | |
Der erste Schnee ist gefallen | |
Um 9.28 Uhr fangen die Friedhofsglocken an zu schlagen | |
Fast auf den letzten Schlag schlägt auch ihr Herz ein letztes Mal, nimmt | |
sie den letzten Atemzug, japst ihre Lunge ein letztes Mal nach Luft, sie | |
hat ihr Gesicht unter ihren Händen vergraben | |
Wir halten inne, einen zeitlosen Moment. Ich weine, aus verzweifelter | |
Erleichterung. Um sie, um mich, um uns, um das, was war, was nicht war, was | |
nie sein wird, oder nie mehr. Hatte sie Angst? Hatte sie Schmerzen? | |
Verstand sie, was vor sich ging, oder fühlte sie sich ausgeliefert? War sie | |
bereit zu gehen? Kann man das sein, bereit zu sterben? Ich glaube, sie war | |
es nicht. Und ich auch nicht. Aber nun ist es vorbei und da liegt, was von | |
Mama übrig geblieben ist, eine Hülle mit halbgeöffneten Augen und leerem | |
Blick. | |
Sie wurde 64 Jahre alt. | |
Roland Schulz schreibt in seinem Buch: | |
„Dein Anblick erschreckt. Gerade in einer Gesellschaft, in der Tod weniger | |
als Gewissheit, sondern als Folge schlechter Lebensentscheidungen gilt. | |
Einer Gesellschaft, die jung oder alt kaum mehr als körperliche Zustände, | |
sondern als Geisteshaltung begreift.“ | |
Und ja, ich bin erschrocken, zutiefst, monatelang verfolgen mich die Bilder | |
ihrer letzten Stunden, tauchen einfach auf, beim Abwaschen, beim | |
Fahrradfahren, beim Einschlafen und Aufwachen. | |
Für mich war der Tod keine Gewissheit, er existierte nur als abstraktes | |
Konzept, auf die vermeintlich lange Bank des Lebens geschoben. Dann lernte | |
ich am Donnerstag, den 9. Dezember um 9.29 Uhr in all seiner Endgültigkeit | |
und in den Worten von Joan Didion: Life as you know it. | |
Ein Jahr später, es geht auf den Dezember 2022 zu, schreibe ich an diesem | |
Text. Ich blicke auf das erste Trauerjahr zurück, von dem die meisten | |
glauben, mit seinem Ende überwinde man den Verlust. Eine enge Freundin, die | |
auch ihre Mutter verloren hat, fand kluge Worte dafür, wie es wirklich ist: | |
„Die Trauer bleibt, der Schmerz bleibt, aber man baut sein Leben | |
drumherum.“ Der Alltag ohne Mama nimmt langsam Konturen an, und dem Tod | |
habe ich einen Platz in meinem Leben eingeräumt, dort, wo vorher eine | |
Leerstelle war. | |
Vor dem ersten Todestag fürchte ich mich fast. Dann ist er da, der 9. | |
Dezember, der für mich für immer einen der größten Verluste markieren wird, | |
und er wird schön. Wir gehen in dem Kiez frühstücken, in dem ich mit meiner | |
Mutter lange Zeit gelebt habe, wir kaufen eine Amaryllis zum Einpflanzen, | |
so eine hatte sie in der Adventszeit immer in der Küche stehen, wir treffen | |
uns am Grab mit ein paar engen Freund:innen von mir, die meine Mutter vor | |
allem aus der Schulzeit kannten, als die mit den bunten Hosen. | |
Wir buddeln die Amaryllis ein, ein Freund hängt ein selbstgebasteltes | |
Gesteck aus Mamas getrockneten Hortensien an einen Busch. Und all die | |
Anspannung der letzten Wochen blättert langsam von mir ab. | |
22 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.fluter.de/na-endlich | |
[2] https://www.psychologie-heute.de/leben/artikel-detailansicht/41058-geh-mit-… | |
[3] https://sz-magazin.sueddeutsche.de/leben-und-gesellschaft/tod-leben-obligat… | |
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Nora Belghaus | |
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Ausstellung über Leben und Tod: Wer will schon unsterblich sein? | |
Mit den Osterfeiertagen steht auch das Thema Tod und Auferstehung vor der | |
Tür. Die Ausstellung „Un_endlich. Leben mit dem Tod“ stellt letzte Fragen. | |
Bestatter über seine Arbeit: „Überrascht, dass ich das konnte“ | |
Nach einer Trauerfeier bedanken sich die Angehörigen „oft wie in der Bar | |
für den schönen Abschied“, sagt Frank Blume. Der Hamburger muss es wissen. | |
Nachdenken über das Sterben: Der Tod wohnt im Zimmer nebenan | |
Trost kann helfen, den Tod zu verarbeiten. Doch unsere Autorin ist beim | |
Denken ans Sterben mittlerweile untröstlich, seitdem sie eigene Kinder hat. | |
Neuer Studiengang: Alles übers Sterben lernen | |
Ein neuer Master widmet sich Trauer und Tod. Die Studierenden lernen | |
Totenversorgung und Sterbebegleitung. | |
Selbstbestimmte Trauer-Rituale: Würde der Bestattung ist antastbar | |
Die Zeit zwischen Tod und Bestattung ist wichtiger, als viele glauben. Und | |
die Wahl der richtigen Bestatter*in ist existenziell. |