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# taz.de -- Neuer Studiengang: Alles übers Sterben lernen
> Ein neuer Master widmet sich Trauer und Tod. Die Studierenden lernen
> Totenversorgung und Sterbebegleitung.
Bild: Die Maskenbildnerin Janika Kreutzer richtet Tote für ihre Bestattung her
Berlin taz | In Deutschland gibt es Studiengänge über die Wissenschaft des
Puppenspielens, Herstellung von Papyrus, Kristallzucht oder die Kunst des
Kaffeebrauens. Wer lieber „was mit Menschen“ machen will, hat zum Beispiel
frühkindliche Bildung zur Auswahl, Alterswissenschaften und natürlich
Medizin. Abwegiges und Existenzielles, alles möglich an der Uni. Obwohl:
Nicht ganz. Was bisher fehlte, war das Ende. Ein Studiengang, der sich
ausschließlich mit Sterben, Tod und Trauer befasst. Die Uni Regensburg hat
das geändert und bietet seit vergangenem Wintersemester „Perimortale
Wissenschaften“ an.
Am Anfang war der Begriff. „Perimortal“ gibt es eigentlich gar nicht, das
Kunstwort ist an das medizinische „perinatal“ angelehnt. Dieses wiederum
beschreibt den Zeitraum um die Geburt und impliziert, dass
Geburtsbegleitung nicht erst mit den Wehen einsetzt und nicht schlagartig
aufhört, wenn das Kind auf der Welt ist. „Perimortal“ soll ausdrücken, da…
der Tod für Sterbende und Angehörige ein komplexes, hochdynamisches
Ereignis ohne klare zeitliche Grenzen ist.
Rupert Scheule ist Professor für Moraltheologie an der Uni Regensburg und
arbeitet außerdem als Diakon. Zu seinen Aufgaben gehören dabei
seelsorgerische Tätigkeiten und Bestattungen. „Dabei fällt mir jedes Mal
auf, dass Abschiedsprozesse oft schon lange vor der [1][Beerdigung]
beginnen und diese Prozesse auch nicht vorbei sind, wenn man den Friedhof
verlässt“, sagt er. „Und da hab’ ich mich gefragt, ob man das nicht
akademisch interdisziplinär aufschlüsseln kann.“
Die Studierenden in Regensburg sollen lernen, wie sie gute
Begleiter:innen durch den „perimortalen Raum“ werden. Dafür braucht es
umfassendes Wissen, beispielsweise über die Physiologie des Sterbens, die
Psychologie der Trauer und die Bürokratie, die der Tod verursacht. Sie
beschäftigen sich mit philosophischen Betrachtungen der Endlichkeit, mit
ethischen Fragen wie der Sterbehilfe und setzen sich mit dem eigenen Ende
auseinander.
## Seelsorge ausbaufähig
„Denn wir können nicht so tun, als wäre der Tod nur das Thema der anderen�…
sagt Scheule. „Indem wir es in die dritte Person verbannen, findet ein
Othering statt, das sehr verbreitet ist in der Gesellschaft. Sterbende, das
sind die Anderen.“ Scheule will im Studiengang vermitteln, wie ein gutes
„Nähe-Distanz-Management“ funktionieren kann zwischen sich selbst und den
Menschen, die man durch den „perimortalen Raum“ begleitet.
Im Fokus stehen allerdings nicht nur Sterbende und ihre Angehörigen – auch
die Bedürfnisse von Menschen, die in der Totenversorgung arbeiten, sollen
ergründet werden. Das seelsorgerische Angebot für
Krematoriumsmitarbeiter:innen sei beispielsweise ausbaufähig,
sagt Scheule. Gemeinsam mit seinen Studierenden konzipiert er zurzeit eine
Erhebung für diese Berufsgruppe.
Andere Forschungsfragen, mit denen sich der „PeWi“-Master bisher
beschäftigt hat, sind Todesfälle an Schulen und der Umgang mit Trauer im
Klassenverband oder auch „verdeckte normative Spuren“ rund ums Sterben. An
den oder die Sterbende gäbe es oft eine Art Anspruchshaltung, so der
Theologe. „Als ‚guter Sterbender‘ gilt der diskursive Sterbende, der sich
mitteilt, der in der Nähe des Todes plötzlich Weisheiten abgeben kann.“ Das
sei belastend für Menschen, die nie besonders mitteilsam waren und auf dem
Sterbebett nun erst recht keine tiefsinnigen Erkenntnisse über das Leben zu
verbreiten haben.
Womit man sich im Bachelor beschäftigt hat, spielt für die Zulassung zum
neuen Masterstudiengang keine Rolle. Die Studierenden sind
Psycholog:innen oder Soziolog:innen, haben Theologie, Jura oder
Ingenieurswissenschaften studiert. Eine Aufnahmeprüfung gibt es nicht,
allerdings ein Beratungsgespräch. Scheule und sein Team möchten
sichergehen, dass der Studiengang zu den aktuellen Lebensumständen passt.
Frisch Trauernde sollten vielleicht noch etwas Zeit verstreichen lassen,
bevor sie sich in Vollzeit mit dem Sterben auseinandersetzen.
## Im Psychologiestudium kleine Rolle
Karin Müller gehört zur ersten Generation von Pewi-Studierenden. Die
32-Jährige hat zuvor Psychologie studiert. Die Atmosphäre in den
PeWi-Seminaren findet sie – trotz Zoom – sehr viel lebendiger als in ihrer
bisherigen Unizeit. „Alle haben ein unglaubliches Interesse, sind
neugierig, diskussionsfreudig.“
Einen ähnlichen Hintergrund hat Janina Rogoll. Sie ist Mitte 30 und
psychologische Psychotherapeutin, mittlerweile mit Schwerpunkt auf Eltern,
die ein Kind verloren haben. Vor ein paar Jahren meldete sich ein junges
Paar bei ihr, dessen Baby kurz nach der Geburt gestorben war. Seitdem
beschäftigt sie sich mit den Bedürfnissen sogenannter „Sterneneltern“.
Im Verlauf des Masters will sie dazu forschen, welche Betreuung Eltern nach
einer Totgeburt im Krankenhaus angeboten wird und wie man sie verbessern
könnte. „Zum Beispiel wissen die wenigsten, dass sie ein Recht darauf
haben, ihr totes Kind noch ein paar Tage mit nach Hause zu nehmen.“
„Perimortale Wissenschaften“ sprach sie auf Anhieb an, auch weil die Themen
Trauer und Trauerbewältigung im Psychologiestudium keine gesonderte Rolle
spielen. Rogoll könnte sich vorstellen, nach ihrem Abschluss andere
Therapeut:innen zur Arbeit mit verwaisten Eltern weiterzubilden. „Ich
bin einfach wie alle in meinem Studiengang ziemlich angefixt von diesem
Thema.“
## Pandemie wirkt sich auf Trauerriten aus
Zu ihren angefixten Kommiliton:innen gehört auch Raphael Herpich. Er
hat während seines Philosophie-Bachelors in einem Bestattungsinstitut
gejobbt und war danach bei den Städtischen Friedhöfen München angestellt.
„Das bedeutet Grabstätten vergeben und verkaufen, Aufbahrungen organisieren
und Beerdigungstermine koordinieren.“
Der Start des Studiums im Herbst 2020 fiel in eine Zeit, in der Tod und
Trauern gesellschaftlich allgegenwärtig waren. Die Zahl der an Corona
Verstorbenen stieg in Deutschland von Woche zu Woche an, in der
Weihnachtszeit waren es über 1.000 Menschen täglich.
„Wir haben uns im Studiengang zum Beispiel genauer angeschaut, wie die
Pandemie in unsere einzelnen Trauerriten hineinregiert“, sagt Rupert
Scheule. Einer sterbenden Person nicht nah sein zu dürfen, sei für viele
Menschen ein traumatisches Erlebnis, das die Trauer verkomplizieren könne.
Seine Studierenden befassten sich daher auch mit der Frage, wie die
Digitalisierung das Abschiednehmen erleichtern könne – etwa durch Facetime
auf der Intensivstation oder Livestreams von der Trauerfeier.
Ein weiterer Aspekt sind religiöse Riten. Bei Bestattungen ist es derzeit
verboten, den Sarg oder die Urne mit Weihwasser zu bespritzen. „Für
gläubige Katholiken ist das tragisch, weil dieser Moment eine Erinnerung an
die Taufe darstellt, und daran, dass ein Happy End für jede und jeden schon
von Anfang an feststeht“, erklärt Scheule. Gemeinsam mit ihren
Kommiliton:innen hat sich Karin Müller Gedanken gemacht, wie sich
dieser Ritus mit den Coronamaßnahmen vereinbaren ließe. „Eine Möglichkeit
wären Rosen, die man am Stiel hält, ins Wasser tunkt und ins Grab fallen
lässt.“
Die Studierenden beschäftigen sich auch damit, inwiefern Medien versuchten,
den zigtausenden Coronatoten und deren Angehörigen Gesichter zu geben, ihre
Geschichten zu erzählen. „Denn das [2][Othering sterbender Menschen] wird
durch die Pandemie natürlich verstärkt“, so der Theologe. Der Tod sei nun
mal ein großes Menschheitsthema, in dieser Zeit mehr denn je, sagt er.
Warum also keinen Master darin machen?
12 May 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Leonie Gubela
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