| # taz.de -- Stücke über selbstbestimmtes Sterben: So geht Enttabuisierung | |
| > Das Hamburger Schauspielhaus und das Schauspiel Hannover beschäftigen | |
| > sich mit selbstbestimmtem Sterben. Beide Stücke sind höchst gelungen. | |
| Bild: Fast wie in Mexiko: Eine Beerdigung, im Stück „Aus dem Leben“ als Fe… | |
| Wenn der Arzt die tödliche Diagnose stellt oder einen die Nachricht vom | |
| Ableben eines geliebten Menschen erreicht, dann bestimmt plötzlich der Tod | |
| das Bewusstsein – während sonst und bis dahin ja die | |
| Verdrängungsmechanismen recht gut wirken. Seitdem vor allem im Hospital, | |
| Hospiz oder allein daheim gestorben wird, also nicht in der Gemeinschaft, | |
| ist der Tod aus dem Alltag verschwunden. Wer steht schon gerne ohnmächtig | |
| dem Fakt gegenüber, hinfällig zu sein? | |
| Einerseits ist genau das der Anfang allen Denkens: Der unhintergehbare Tod | |
| lässt die Idee eines selbstbestimmten Individuums als Illusion erscheinen, | |
| verdeutlicht die Begrenztheit des Daseins und Begreifens. Andererseits | |
| definiert der alte Schnitter auch das Ende allen Denkens: Da der Tod nicht | |
| zu unserer [1][Erfahrungswelt] gehört, lässt sich vieles glauben über ihn, | |
| aber wenig sagen. | |
| Das macht Angst, und die will niemand. Vielleicht hilft die Beschäftigung | |
| damit, das Vorwegnehmen der eigenen Endlichkeit, besser damit umgehen zu | |
| können? Zumindest fällt auf: Gerade in der derzeitigen dunklen Jahreszeit | |
| richten Theater gerne Abende über den Tod aus. Mit „Anatomy of a suicide“ | |
| am Schauspiel Hannover und „Aus dem Leben“ am Schauspielhaus Hamburg sind | |
| derzeit zwei höchst gelungene Produktionen im Norden zu sehen. | |
| Künstlerisch so schlicht wie überzeugend gehen in Hamburg Regisseurin Karin | |
| Beier und die Journalistin Brigitte Venator ans Werk: Sie wollen | |
| darstellen, was sich geändert hat seit dem [2][Verfassungsgerichtsurteil | |
| aus dem Frühjahr 2020], das ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben | |
| anerkennt. Venator führte daher Interviews mit Akteuren an der Grenze | |
| zwischen Leben und Tod. | |
| Die O-Töne wurden zu monologischen Textblöcken verdichtet, mit denen ein | |
| famoses Ensemble nun plastische Charaktere entwickelt. Da erzählen zwei | |
| Sterbebegleiter:innen (Markus John, Julia Wieninger) ihre | |
| Lebensgeschichte und berichten darüber, [3][welche Menschen warum um | |
| Sterbehilfe bitten], wie die Begleitung in den Tod konkret abläuft und wie | |
| sie straffrei bleibt: Es sei Dienst am Menschen, ein Akt der | |
| Barmherzigkeit. | |
| „Der Freitod ist ein Privileg des Humanen“, schrieb 1976 bereits Jean Améry | |
| in seinem Buch „Hand an sich legen“. Und spätestens wenn der Mitschnitt des | |
| letzten Telefonats einer unheilbar qualvoll dahinlebenden | |
| Querschnittgelähmten eingespielt wird, ist dem kaum zu widersprechen. Alle | |
| Befragten berichten, wie fröhlich und entspannt Suizidwillige werden, wenn | |
| ihr Todestermin feststeht: Sie erlebten so ihre Autonomie und „haben keine | |
| Angst mehr, elendig zu verrecken“, sagen die Sterbebegleiter:innen. | |
| Eine Palliativpflegerin (Lina Beckmann) beschreibt dann den Hospizalltag | |
| zwischen letzten Wünschen und letztem Röcheln. Der Sohn (Maximilian | |
| Scheidt) suizidwilliger Eltern vitalisiert seine anfängliche Empörung wie | |
| auch das schlussendliche Verständnis, ein Krebspatient (Carlo Ljubek) legt | |
| die Verzweiflung offen, angesichts hilflosen Leidens oder der unendlichen | |
| Traurigkeit in palliativer Benebelung den Mut aufbringen zu wollen zum | |
| bewusst gegen sich selbst zu vollziehenden Gewaltakt. | |
| Locker werden die Sprech-Spielpassagen ineinander verschränkt und dezent | |
| mit szenischer Aktion illustriert. Zu erleben sind ausschließlich | |
| Befürworter*innen des Freiheitsrechts auf Suizid, die Regie | |
| konterkariert diese Position nur marginal durch eingeblendete kritische | |
| Stimmen aus einer einschlägigen Bundestagsdebatte. | |
| Beeindruckend ist die uneitle Kunst der Menschendarstellung bis hinein in | |
| Momente, wo die Stimmen brechen, Tränen nicht mehr zurückzuhalten sind oder | |
| mit betont sachlichem Tonfall gegen tobende Gefühle angekämpft wird. Die | |
| Bühne dafür ist ein Trauerfeiersaal, der aber auch zur Party-Location | |
| werden kann: So wird den ganzen Abend über ein opulentes Büfett mit immer | |
| neuen Speisen und Getränken aufgetragen sowie final eine Beerdigung wie in | |
| Mexiko als überbordende Feier des Lebens zelebriert. | |
| Die anfangs scheu bis beschämt artikulierte Beschäftigung mit dem Sterben | |
| hat zur Akzeptanz des Todes geführt, was ihn nicht schöner, erträglicher, | |
| schmerzloser macht. Aber normaler. Ein erhellend informativer und dank des | |
| einfühlsamen Spiels eindrücklicher Abend. So geht Enttabuisierung. | |
| Um Suizid, einen ganz konkreten, geht es in Alice Birchs „Anatomy of a | |
| suicide“, das nun in Hannover auf die Bühne gebracht wird: Depression, | |
| geringe Selbstachtung, Hoffnungslosigkeit sind häufig der Grund dafür, dass | |
| sich in Deutschland jährlich rund 10.000 Menschen selbst töten. Global ist | |
| Statistiken zufolge die Zahl der Betroffenen größer als die von Kriegs- und | |
| Mordopfern. | |
| In Lilja Rupprechts „Anatomy“-Inszenierung wird eines sofort klar: die | |
| Unfähigkeit, über solche Dinge ins Gespräch zu kommen. Carol (Sabine | |
| Orléans) tritt mit bandagiertem Unterarm auf, „tut mir leid“, sagt sie in | |
| trostloser Beiläufigkeit. Ihr ratlos-liebevoller Gatte stottert schamvoll | |
| herum ums Pulsadernaufschneiden. | |
| Still litt und leidet Carol am unheilvollen Rollenmuster Hausfrau, aber | |
| genauso an schmerzhaften Erinnerungen, Ängsten und erbarmungslosen | |
| Selbstzweifeln – eine überwältigende Antriebslosigkeit macht sich breit. | |
| „Ich bringe es gerade noch fertig einzuatmen“, sagt sie, zunehmend in sich | |
| zusammengesunken. Elektroschocks und Psychotherapie hat Carol über sich | |
| ergehen lassen. Nun greift sie zum letzten Verbindungsstrohhalm zur Welt: | |
| Sie fügt sich dem gesellschaftlichen Gebot der Mutterschaft. | |
| Das paralysierende Gefühl bleibt. Tapfer hält die Mutter durch bis zum | |
| Schulabschluss der Tochter. Danach ist die Selbsttötung keine bloße Option | |
| mehr, sondern hat sich ausgewachsen zur Notwendigkeit: Am Leben zu bleiben, | |
| das erscheint Carol einfach als noch schrecklicher. | |
| Dem Stück zufolge werden Erfahrungen mit der suizidalen Mutter als soziale | |
| Prägung weitergegeben. Wie in antiken Dramen, wo Kinder oder ein ganzes | |
| Geschlecht für die Sünden der Väter gestraft werden, gelingt in „Anatomy“ | |
| der weiblichen Erbfolge keine erfolgreiche Suche nach Unabhängigkeit, | |
| Selbstbestimmung und erfüllendem Leben: Anna (Amelle Schwerk) versucht die | |
| innere Leere mit Sex, Partys und Drogen zu betäuben, lässt sich auch auf | |
| fatale Beziehungsmuster ein, wiederum inklusive Kinderkriegens – und gibt | |
| dann entkräftet ihr Leben auf. Tochter Bonnie (Caroline Junghanns) ist eine | |
| unsicher augenklimpernde, mürrische Ärztin. Nähe erträgt sie nicht. Familie | |
| ist ihr ein Graus, Gebärfähigkeit zuwider. Um ganz sicherzugehen, dass mit | |
| ihr die Depressionsfortpflanzung endet, lebt sie lesbisch und will sich | |
| sterilisieren lassen. | |
| Die Inszenierung collagiert die Geschichten der drei, faszinierend verzahnt | |
| sich dabei die Wortpartitur, wenn Sätze aus der einen wie Antworten aus | |
| einer anderen Handlungsebene klingen, Formulierungen mehrerer Figuren | |
| synchron sind oder Diskurse, Situationen und Charaktere unheimliche Echos | |
| in den unterschiedlichen Zeiträumen erzeugen. | |
| Als Ausdruck ihres Entsetzens, nicht mutterglücklich korrekt zu empfinden, | |
| skandiert Carol in einer vergeblichen Befreiungstanzszene immer wieder | |
| „mein Kind!“, während sich Anna für einen Dokumentarfilm des Freundes ihr | |
| Drogenelend von der Seele redet und Bonnie in ruckelige | |
| Selbstumarmungskrämpfe versinkt. In Gegenüberstellung und Spiegelung wird | |
| die Form zum Inhalt und behauptet, wie die Biografien der Frauen | |
| zusammengehören, ja, einander geradezu bedingen. | |
| Fraglos taugt die Inszenierung zur Verständigung über Depression als | |
| mögliche Krankheit zum Tode. Da die Darstellerinnen ihre Schmerzensfrauen | |
| tiefenscharf als Menschen ernst nehmen, kann sich das Publikum hineinfühlen | |
| – auf dass vielleicht die stumme Verzweiflung und Einsamkeit der | |
| Sterbewilligen, ihre Unbeholfenheit und ihre Not nicht erst beim Quietschen | |
| der Vollbremsung hörbar werden: Wenn wieder mal ein Lokführer vergeblich | |
| einen Suizid zu verhindern versucht. | |
| 5 Jan 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Hebamme-und-Bestatterin/!5782313 | |
| [2] /Urteil-des-Bundesverfassungsgerichts/!5666846 | |
| [3] /Suizid-Assistenz-in-Deutschland/!5815551 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Fischer | |
| ## TAGS | |
| Theater | |
| Selbstbestimmung | |
| Suizid | |
| Schauspiel Hannover | |
| Deutsches Schauspielhaus | |
| Schwerpunkt Emmanuel Macron | |
| Wochenendkrimi | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Sterbehilfe Deutschland | |
| Sterben | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Debatte über Sterbehilfe in Frankreich: Im Dickicht der ethischen Fragen | |
| Frankreichs Regierung legt ein von Präsident Macron gebilligtes Gesetz zur | |
| Sterbehilfe vor. Doch wer bestimmt, ab wann ein Leiden unerträglich ist? | |
| Neuer Rostock-„Polizeiruf“: Nächtlicher Anruf, neue Wendung | |
| Ein deutscher Fernseh-Krimi, der eine Trigger-Warnung verdient hat: Das | |
| müssen sich die Beteiligten erstmal erarbeiten. Und das machen sie sehr | |
| gut! | |
| Telefonseelsorge in Krisenzeiten: Am Notruf | |
| Wenn bei Ulrike Feldhoff das Telefon läutet, muss sie auf alles gefasst | |
| sein: Suizidgefährdete und Einsame melden sich bei ihr, aber auch | |
| Scherzkekse. | |
| Suizid-Assistenz in Deutschland: Strategie: Exit | |
| Seit die Begleitung in den Freitod legal ist, haben die Sterbehilfevereine | |
| Zulauf. Auch der 96-jährige Karl T. will selbstbestimmt sterben. | |
| Neuer Studiengang: Alles übers Sterben lernen | |
| Ein neuer Master widmet sich Trauer und Tod. Die Studierenden lernen | |
| Totenversorgung und Sterbebegleitung. |