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# taz.de -- Trauer in der Pandemie: „Dann hab ich Papa einfach umarmt“
> Rund 80.000 Coronatote werden inzwischen gezählt. Abschied zu nehmen ist
> schwer, wenn Menschen sich nicht nah sein dürfen. Vier Angehörige
> erzählen.
Bild: Trauer im Dezember in Berlin
Ein oder zweimal wurde mir in dieser Zeit der Trauer gesagt: „Na, du weißt
ja, wie's geht.“ Das war schon verletzend. Ich bin im Bistum Speyer
Referentin für Hospiz- und Trauerseelsorge. Mein Mann ist Diakon und macht
auch Beerdigungen. Im Dezember haben wir beide innerhalb von wenigen Tagen
unsere Väter verloren. Obwohl wir diesen professionellen Zugang haben, ist
mir wichtig: Wir dürfen auch einfach als Menschen trauern.
Am 11. Dezember haben wir die Nachricht aus dem Seniorenheim bekommen, mein
Schwiegervater sei positiv. Er lebte dort nach einem Schlaganfall. Der
Herbert hatte Fieber, nach kurzer Zeit schien es ihm besser zu gehen. Dann
aber rief eine Schwester an: Er sehe gar nicht gut aus. Wir bekamen die
Erlaubnis, ihn zu besuchen.
Ich habe geweint, weil ich Sorge hatte, dass ich, wenn ich jetzt dorthin
gehe, möglicherweise nicht zu meinem eigenen kranken Vater kann, wenn dort
etwas ist. Die Pflegedienstleiterin hat mir dann angeboten, mich alle zwei
Tage zu testen, damit ich kommen kann. So ein Geschenk!
Wir hatten Visier, Mundschutz, Kittel und doppelte Handschuhe an und
durften eine halbe Stunde bleiben. Als erstes bin ich ans Bett und habe
gesagt: „Herbert, wir sehen schon komisch aus, so hast du uns auch noch
nicht gesehen.“ Da hat er geschmunzelt.
Wir haben gleich gemerkt, dass es Zeit für einen Sterbesegen ist. Wir haben
ihn gesalbt, ihm gedankt und es war klar: Wir nehmen voneinander Abschied.
Er wollte etwas antworten und konnte nicht. Da habe ich das formuliert: „Du
wolltest uns vielleicht sagen, dass du uns auch lieb hast.“ Er hat genickt
und unsere Hände fest gedrückt.
Für meinen Mann war es am Tag darauf sehr schwer, dass sein Vater fünf
Kilometer weiter im Sterben liegt und er nicht an seiner Seite ist. Dass
niemand an dem Bett war und seinem Vater die Hand hielt. Unter normalen
Umständen hätten wir uns Tag und Nacht abgewechselt.
Dann kam auch noch die Nachricht, dass mein Vater mit Corona infiziert ist.
Er war im Krankenhaus, weil er gestürzt war, kurze Zeit vorher war er schon
mal in der Klinik gewesen, möglicherweise hat er sich da infiziert. Er
hatte vielen Baustellen: Diabetes, Fußamputation, das Herz schwach,
Aneurysma.
Einen Tag nach der Nachricht, dass mein Vater positiv ist, ist mein
Schwiegervater gestorben. Er war 81 Jahre alt.
Am Morgen nach dem Tod von Herbert, als wir mit der Bestatterin da saßen,
kam die Nachricht, dass mein Vater intubiert worden war. Manchmal frage ich
mich im Nachhinein, wie wir diese Tage geschafft haben.
Mein Gefühl damals war: Wenn ich jetzt von meinem Vater nicht Abschied
nehme, dann kann ich meinen Beruf als Trauerbegleiterin an den Nagel
hängen. Ins Krankenhaus durfte eigentlich niemand rein. Das war das erste
Mal in meinem Leben, dass ich die Karte ausgespielt habe, Seelsorgerin zu
sein. Als ich ans Bett kam, hat mein Vater als erstes nach Herbert gefragt,
und ich musste ihm sagen, dass der gestorben ist. Ich habe gemerkt: Mein
Vater möchte leben.
Bei Herbert wollten wir nochmal als Familie Abschied nehmen. Bei einem
Corona-Infizierten ist das am offenen Sarg nicht möglich, aber am
geschlossenen. Wir haben zwei Tage nach seinem Tod eine kleine Feier
gemacht, Holzherzen mit Gedanken beschrieben und Gegenstände, die wir mit
ihm verbinden, auf den Sarg geklebt. Und wir haben gemeinsam auch die Urne
bemalt.
Das war am 19. Dezember und ich ging weiter alle zwei Tage zum Testen. Am
22. war ich negativ und fragte, ob am 24. auch mein Mann und Sohn mit zum
Testen kommen könnten wegen Weihnachten. Am 24. Dezember waren wir dann
alle positiv.
Ich bekam Gliederschmerzen, mein Mann Markus Husten, Fieber und
Schüttelfrost. Ich habe mir wirklich Sorgen um ihn gemacht und irgendwann
eine Tasche gepackt, weil ich dachte, er muss ins Krankenhaus.
Zur gleichen Zeit ging es meinem Vater immer schlechter. Er hatte immer
lustige Bilder per Whatsapp geschickt, aber nun kam gar nichts mehr. Auf
der Intensivstation hat er zum Oberarzt gesagt: „Ich möchte nur noch meine
Frau sehen.“ Und der Arzt hat eine Ausnahme gemacht und meine Mutter
tatsächlich reingelassen. Noch so ein Geschenk. Sich nicht verabschieden zu
können, da muss man nicht drumherumreden: Das ist scheiße. Sechs Stunden
danach ist mein Vater gestorben. Er wurde 73 Jahre alt.
Ich sage, mein Schwiegervater ist an Corona und mein Vater ist mit Corona
verstorben. Mein Schwiegervater würde noch leben, wenn es Corona nicht
gebe. 14 Tage später wurde in dem Heim geimpft.
In einer Trauerkarte stand: „Corona hat ja auch was Gutes, jetzt habt ihr
Zeit zu trauern“, Da haben wir gesagt: „Nee. Corona hat uns diesen Menschen
genommen.“
Die Erfahrung von mir und meinen Kollegen in dieser Zeit ist: Je höher die
Zahlen steigen, je gravierender Corona wütet, desto mehr tauchen Trauernde
ab. Sie sind dann im Krisenmodus. Erst wenn es wieder besser wird, so wie
vorigen Sommer, melden sich ganz viele. Trauer schafft Abstand und Distanz.
Ich sage immer, Trauer ist ein Geschenk. Aber viele wollen sie loswerden.
Deswegen macht Trauer oft einsam. Und Corona auch – das ist die
Herausforderung.
Kerstin Fleischer, 44, Referentin für Hospiz- und Trauerseelsorge, Speyer
## Nach Corona fällt auf, wer fehlt
Am 23. Dezember hat sich meine Oma infiziert, im Altersheim. Es war absurd:
Am 24. saß ich mit meinem Bruder und meinem Vater dann vor Skype, alle in
Quarantäne, alle allein in unseren Zimmern, und wir haben Weihnachten
gefeiert.
Am Anfang zeigte meine Oma keine Symptome und es war so gut, wie es eben
sein kann. Aber dann ging es total schnell, am 28. ist sie ins Krankenhaus
gekommen, weil sie kurzatmig wurde. In der Nacht vom 30. auf den 31.
Dezember ist sie gestorben.
Die Beerdigung war drei oder vier Wochen später. Wir haben lange überlegt,
ob wir uns vorher isolieren sollen, damit wir Zeit miteinander verbringen
können. Aber keiner hat sich damit sicher gefühlt, weil wir wussten, wie
schnell es gehen kann und wie unberechenbar das Virus einfach ist. Man ist
in so einem komischen Angstmodus.
Es durften dann nur 15 Leute in die Kirche. Und auch das war komisch, weil
die Stühle mit viel Abstand herumstanden. Keiner umarmt sich, also
streichelt man nur gegenseitig die Arme, aber kommt sich nicht zu nahe …
Am Morgen der Beerdigung kam meine Tante ins Krankenhaus. Es hatte sich
herausgestellt, dass sie total mit Krebs durchfressen war. Deswegen haben
wir gar nicht so wirklich um Oma getrauert und trotzdem alle geweint. Man
wusste schon: Es sieht nicht gut aus.
Meine Tante hatte sich viel um meine Oma gekümmert, das war ihre
Hauptaufgabe, jahrelang. Die Ärzte meinten, meine Tante muss schon
Ewigkeiten Schmerzen gehabt haben. Nach dem Tod meiner Oma hat sich der
Krebs bemerkbar gemacht, als wäre jetzt Platz dafür.
Sie kam wenig später ins Hospiz. Ohne Corona hätte man sie besuchen können,
man hätte diesen Abschiedsmoment gehabt. Aber so ging das nicht. Mein Vater
telefonierte mit ihr, mein Bruder und ich nicht. Man redet sich ein, man
hat noch Zeit, und wir beide haben das aufgeschoben. Ich hatte das Gefühl:
Das ist das letzte Gespräch, dann legt man auf und hört die Stimme nie
wieder.
Die Beerdigung meiner Tante war ganz anders. Wir sind alle mit Maske
hingegangen und haben uns erstmal nicht umarmt. Sie war viel jünger, es kam
viel plötzlicher, sie war nicht mal 70 und das ist ja heute kein Alter
mehr. Sie spielte in der Familie eine wichtige Rolle, war wie ein sicherer
Hafen. Mein Vater hat mich in der Kirche gefragt, ob ich mit dem Stuhl ein
bisschen näher rücken kann. Dann haben wir Händchen gehalten. Was aber
trotzdem komisch war, weil man sich Gedanken gemacht hat, ob das sicher
ist. Mein Vater gehört zu einer Risikogruppe.
Mein Onkel verliert seine Frau und man gibt sich die Faust. Wie absurd. Wir
Jüngeren haben uns dann einfach umarmt. Und meinen Vater habe ich auch in
den Arm genommen, mit dem Kopf weggestreckt und der Maske noch auf dem
Gesicht …
Mein Onkel meinte dann: Kommt vorbei, es gibt Kaffee und Kuchen. Aber wir
wollten natürlich nicht, dass es zu einer Beerdigungskette wird, aus diesem
Bedürfnis heraus, sich nahe sein zu wollen. Ich habe gesagt: Es tut mir
leid, aber ich traue mich gerade nicht. Ich will nicht das Gefühl haben,
ich sei wie ein Todesengel.
Weil es so normal ist, dass man seine Familie gerade nicht sieht, fällt es
wahrscheinlich erst nach Corona wirklich auf, wer fehlt. Ich glaube, danach
wird das für alle nochmal richtig hart. Man sitzt dann mit der Familie,
aber die Tante ist nicht mehr da, und Oma kann man nicht mehr im Altersheim
besuchen.
Worüber ich viel nachgedacht habe, ist der Umgang mit Trauer generell. Das
hat mich wütend gemacht. Ich habe das Gefühl, Trauer spielt bei uns keine
Rolle, erst wenn es so weit ist. Mein Bruder und ich haben beide drei Tage
gebraucht, bis wir unserem Onkel eine Nachricht geschrieben haben, was
eigentlich viel zu lange ist. Wir wussten nicht, was. Ich habe irgendwann
angefangen zu googlen, was sich total albern angefühlt hat.
Oder auch dieser Mechanismus, zu arbeiten, damit man nicht mehr darüber
nachdenkt. Das war bei meinem Vater so, und ich habe das auch gemacht,
meine Oma und meine Tante starben kurz vor der wichtigsten Prüfung in
meinem Studium. Ich habe bis zum Limit weiter gelernt, bis es gar nicht
mehr ging. Und als ich die Prüfung dann hinter mir hatte, sind mir
unkontrolliert Tränen gekommen und ich wusste gar nicht so wirklich warum.
Ich glaube, dass es manchmal gar nicht so schlecht wäre, wenn man den
Anspruch an sich ablegen würde, immer funktionieren zu müssen. Man fühlt
sich so allein, man stößt gerade ständig an Grenzen, weil man noch nie mit
einer Einsamkeit auf dieser Ebene konfrontiert gewesen ist.
Ann-Franziska Mai, Studentin, 23 Jahre alt, aus Köln
## Der Vater klagte nicht
Mein Vater wohnte in Witebsk. Die Stadt war von Corona schlimm betroffen,
am stärksten in ganz Belarus. Fast alle meine Freunde im Land waren
infiziert. In Belarus wird wenig getestet, es gibt kaum Schutzmaßnahmen und
Einschränkungen. Jeder muss sich um sich selbst kümmern.
Ich hatte Sorgen um meine Familie dort. In dem Mehrfamilienhaus, in dem
mein Vater lebte, waren schon drei Männer an Covid gestorben. Er hatte auch
große Angst, das hat mir meine Schwester erzählt. Mein Vater war kein
Mensch, der viel spricht. Er klagte nicht.
Anfang Dezember dann bekam mein Vater Fieber. Die Hausärztin sagte nur, er
solle Zuhause bleiben. Als seine Frau den Notarzt rufen wollte, kam der
nicht – es sei schließlich nur Fieber.
Über Bekannte schaffte seine Frau es dann, dass er getestet wurde. Er war
positiv. Es ging ihm überhaupt nicht gut und er kam ins Krankenhaus. Drei
Wochen konnte ihn dort niemand besuchen. Man konnte ihn nur per Handy
erreichen.
Er hat Sauerstoff bekommen und wurde schließlich Anfang Januar entlassen –
in einem Zustand, in dem er eigentlich kaum gehen konnte. Da habe ich mit
ihm telefoniert, es war das letzte Mal, dass wir gesprochen haben. Ich habe
schon am Telefon gehört, wie schlecht er Luft bekommt. Aber mein Vater war
immer Optimist, er war überzeugt, dass er gesund wird.
Schon Dinge wie auf die Toilette zu gehen, kosteten ihn Kraft. Wieder durch
Bekannte ist er dann noch mal in eine große Klinik gekommen. Dort sagte die
Oberärztin nach einer Computertomografie: „Da ist keine Lunge mehr“. So
einen schweren Fall habe sie noch nicht gesehen.
Für Belarus war das ein sehr gutes Krankenhaus. Mein Vater hatte ein
eigenes Zimmer mit Dusche und Toilette. Die Ärztin, das Pflegepersonal –
alle waren sehr gut zu ihm. Ich freue mich, dass er am Ende gut versorgt
wurde. „Mir geht es so gut hier, ich möchte gar nicht nach Hause“, hat er
mal zu seiner Frau gesagt.
Er war schon stabil und brauchte keinen Sauerstoff mehr, da hat er sich im
Krankenhaus einen Infekt geholt. Seine Lunge war durch Covid so schwach und
auch das Immunsystem, da ging alles ganz schnell. Er kam auf die
Intensivstation, sollte wieder an die künstliche Beatmung kommen. Aber er
hat den Ärzten gesagt: Ich will selber atmen. Die hatten alle Respekt. Ein
Bettnachbar, 36 Jahre alt, war intubiert und ist gestorben, das hat meinen
Vater mitgenommen. Er war ja wach und bekam alles mit.
Ich stand so unter Spannung. Ich hatte Angst vor dem Handy, weil ich nicht
wusste, was da kommt, wenn es klingelt.
Als ich von meiner Schwester gehört habe, wie schlecht es ihm geht, habe
ich sofort einen Brief geschrieben, eine Karte. Für alle Fälle habe ich sie
abfotografiert. Er wäre 73 geworden am 1. März. Am 10. Februar ist er
gestorben.
Ohne Corona hätte ich meinen Vater im Krankenhaus besuchen dürfen, da hätte
ich mich sicher auf den Weg gemacht. Aber jetzt? Selbst wenn ich geflogen
wäre, hätte ich nach der Einreise in Quarantäne gehen müssen. Und dann noch
einmal nach der Rückreise nach Deutschland. Ich kann mir das finanziell
nicht leisten: zwei Wochen Quarantäne.
Eigentlich wollte ich voriges Jahr nach Belarus und hatte schon
Flugtickets. Aber dann wurden die Grenzen dicht gemacht und alle Flüge
gecancelt.
In den letzten Tagen, bevor mein Vater starb, bekam seine Frau eine
Sondererlaubnis, sie durfte vormittags und nachmittags für eine Minute zu
ihm gehen. In Schutzkleidung, auf eigene Verantwortung. „Schau mal, wieviel
Kraft ich habe“, hat er ihr anfangs noch gesagt.
Als er die Maske nicht mehr halten konnte, wurde er doch intubiert. „Helfen
Sie mir!“, das war das letzte, was er gesagt hat. Er hatte wohl Panik
bekommen, als sie ihm die Sauerstoffmaske abnahmen, um ihn zu intubieren.
Um 2 Uhr nachts ist er gestorben. Seine Frau hat es um 7 Uhr morgens
erfahren. Mich hat dann meine Schwester angerufen. Ich habe mich
krankgemeldet.
In Belarus wird man am nächsten Tag beerdigt. Es gibt dort auch kaum
Beschränkungen für Trauerfeiern. Papa wurde in einer orthodoxen Kirche
aufgebahrt und dort wurden ganze Nacht Gebete gesprochen und viele Menschen
kamen, um sich zu verabschieden. Nur manche blieben aus Angst weg.
Ich konnte nicht Abschied nehmen. Meine Schwester habe ich gebeten, dass
sie für mich ein paar Fotos macht. Sie sagte mir, zu welcher Zeit sie in
der Kirche sein würde, so dass ich hier auch zur selben Zeit eine Kirche
ging.
Es war eine katholische Kirche, ich habe Kerzen aufgestellt und gebetet. In
der orthodoxen Kirche gibt es ein besonderes Gebet für den verstorbenen
Vater, das wird vierzig Tage jeden Tag gebetet. Das habe ich gemacht. Ich
habe zu Hause Fotos von uns auf den Tisch gestellt, Kerzen, Blumen.
Den letzten Brief, den ich meinem Vater geschrieben hatte, hat meine
Schwester ihm am offenen Sarg vorgelesen und mit ins Grab gelegt. Das war
für mich ein gutes Gefühl, dass ihn die Worte noch erreicht haben.
Jeanne Adamowitsch, Kunsttherapeutin, 50 Jahre alt, aus Mönchengladbach
## Da war Trauer, aber vor allem Wut
Ich kann nur mit angezogener Handbremse erzählen, das muss ich gleich
sagen. Es fällt mir noch sehr schwer. Ich habe meinen Vater verloren, er
war erst Mitte 60.
Ende letzten Jahres ist es passiert, der zweite Lockdown war gerade
losgegangen. Als mich mein Bruder anrief, an einem Donnerstag, wusste ich
komischerweise sofort: Es ist etwas mit dem Vati. Mein Bruder sagte, dass
er in der Nacht verstorben sei. Das war erst einmal die Information, die
ich aufnehmen musste.
Man hat ihn zuhause gefunden, er muss schon Stunden tot gewesen sein. Sein
Zustand war sehr schlimm. Und dann der Zusammenhang mit Corona. Seine
Lebenspartnerin war positiv getestet, ihr ging es sehr schlecht. Sie hatte
hohes Fieber, war ins Bett gegangen und hatte ihn deshalb erst in der Nacht
gefunden. Auch mein Vater hatte schon starke Symptome. Der Notarzt ging
aufgrund der Schilderung davon aus, dass er Corona hatte. Also haben sie
ihn nicht einmal angefasst, sondern er wurde in eine Tüte gesteckt und
mitgenommen. Ich bin direkt hingefahren, aber auch wir durften ihn nicht
noch einmal sehen. Diese erste Woche, das Bewusstsein, dass er irgendwo in
einer Tüte liegt …
Wir hatten das Thema Corona immer wieder. Mein Vater gehörte zur
Risikogruppe, hatte Vorerkrankungen. Ich habe ihn angefleht, dass er
aufpassen soll.
Man muss dazu sagen, dass er aus einer Gegend kommt, in der Corona lange
Zeit nicht angekommen ist, viele Leute haben sich nicht an die Regeln
gehalten, das Ganze abgetan. Mein Vater hatte zwar Respekt vor der Sache,
aber er war auch immer schon in Richtung Verschwörungstheorien unterwegs
gewesen, hat allen möglichen Sachen aus dem Internet geglaubt. Es gibt
Verwandte, die bis heute leugnen, dass mein Vater mit Corona gestorben ist.
Ich habe den Bestatter dann angefleht, dass ich wenigstens den Sarg noch
einmal sehen darf, bevor er verbrannt wird. Immer wieder habe ich ihn
angerufen, schließlich konnten mein Bruder und ich tatsächlich in einer
Trauerhalle am Sarg zusammenkommen und positive Erinnerungen an unseren
Vater teilen. Bis zur Beerdigung zogen sich dann Monate hin und bis zuletzt
war nicht klar, wann es möglich sein wird, uns in einem Rahmen zu
verabschieden, der für mich und meine Geschwister angemessen ist. Diese
offene Stelle, der fehlende Abschied, das hat mir Schmerzen bereitet.
Da war Trauer, aber vor allem Wut. Ich bin mehrmals in den Heimatort meines
Vaters gefahren. Ich habe im Auto nur geschrien. Ich habe mit ihm
geschimpft. Ich war so wütend auf ihn, weil er nicht aufgepasst hat, weil
er sich doch mit Menschen getroffen hat, weil er es am Ende nicht ernst
genommen hat. Ich denke, er wusste, dass er Corona hatte. Aber er wollte es
einfach nicht wahrhaben, weil dann hätten die anderen ja doch recht gehabt.
Ich war so wütend und das war am Anfang gepaart mit ganz schlimmer Angst.
Mein Bruder und ich hatten den Ort gereinigt, an dem er mehrere Stunden
gelegen hatte, das war sehr traumatisch. „Warum hast du das denn gemacht“,
haben viele Leute gefragt. Aber wer hätte es denn machen sollen? Es traute
sich doch keiner mehr, das Haus zu betreten. Und auch ich hatte Angst, ob
ich mich angesteckt haben könnte. Furchtbare Angst. Mit dem Bild vor Augen,
was passieren kann.
Dann folgte Weihnachten und das neue Jahr und ich hatte Probleme, das
überhaupt zu begreifen. Ich hatte immer wieder Momente, wo ich das Telefon
nehmen wollte, ihm was erzählen, Weihnachten planen. Die Momente gibt es
immer noch. Und dann muss ich mir sagen, halt, er ist jetzt nicht mehr da.
Er ist nicht mehr da.
Trauer im Lockdown war superschwierig. Mit kleinen Kindern zuhause. Man hat
keine Möglichkeit, sich mal zurückzuziehen. Mal richtig zu weinen, es
rauszulassen. Man konnte nirgendwohin, es konnte niemand kommen. Ich hatte
meine Kinder da und ich wollte ihnen auch keine Angst machen. Und dann
erzählst du Leuten, dass dein Vater gestorben ist und sofort kommt die
Frage: An Corona? Irgendwie verständlich, aber das war wie so eine
Attraktion. Was? Wirklich Corona? Da ging es mehr um Neugier, als darum,
wie es mir damit geht. Das hat mich wütend gemacht.
Eigentlich bin ich gar nicht diejenige, die Trauer oder Schmerz teilt. Aber
hier habe ich mich irgendwann entschieden, genau das zu tun. Ich habe
Freunde angerufen und gesagt, hey, mein Vati ist gestorben. Ich habe auch
über die schlimmen Details geredet, die mich so belasteten. Am Anfang hatte
ich deswegen ein schlechtes Gewissen. Aber genau das hat mir gut getan. Und
auch meine Freunde haben gesagt, ja lass das raus, friss das nicht in dich
rein. Ich habe die Trauer mit vielen geteilt, das hätte ich sonst
vielleicht nicht gemacht. Aber in diesem Lockdown, in dieser Isolation: es
hätte ja nicht mal jemand gemerkt, was mir passiert ist.
Die Frage, ob das mit meinem Vater passieren musste, ist eine, die ich
beginne auszublenden. Es wurde an vielen Stellen zu spät reagiert, es gab
viel Verantwortungslosigkeit. Und es gibt sie immer noch. Aber ich kann
mich damit nicht auseinandersetzen, ich will die Wut darauf nicht
weitertragen. Ich meide diese Gedanken, aber weg sind sie nicht. Das ist
nur eine ganz dünne Schicht.
Christiane Zimmer (Name geändert), Mitte 30
18 Apr 2021
## AUTOREN
Luise Strothmann
Marius Ochs
Manuela Heim
## TAGS
Podcast „Vorgelesen“
Trauer
GNS
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Schluss jetzt
Hebamme
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Sterben
Schwerpunkt Coronavirus
Kolumne Die Woche
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