# taz.de -- Todesfälle in der Familie: Trauern aus der Ferne | |
> Nicht nur wegen der Coronapandemie können Familienangehörige bei | |
> Todesfällen nicht persönlich Abschied nehmen. Oft geht es nur im | |
> Videochat. | |
Bild: Der Abschied von Verstorbenen ist ein wichtiger Teil des Trauerprozesses | |
Die letzten Tage habe ich viel über Trauer nachgedacht. Vor zwei Wochen | |
verstarb meine Großmutter. Sie starb [1][im Iran, dem Land,] aus dem meine | |
Familie und ich stammen, in dem ich geboren wurde, und in das wir aus | |
politischen Gründen schon lange nicht mehr reisen können. Zum dritten Mal | |
innerhalb weniger Jahre starb ein Großelternteil, ohne dass meine Familie | |
und ich uns verabschieden konnten, ohne dass wir mit unseren Angehörigen | |
trauern konnten, ohne dass wir je ihre Gräber werden besuchen können. | |
Studien zeigen, dass vor allem geflüchtete Menschen Gefahr laufen, starke | |
und andauernde Trauerreaktionen zu entwickeln. Das liegt unter anderem | |
daran, dass die Distanz und die Trennung von Angehörigen den Trauerprozess | |
erschweren. Es liegt aber auch daran, dass Geflüchtete oft, insbesondere | |
wenn sie noch nicht lange im Einwanderungsland leben, kein soziales Netz | |
und keinen Zugang zu psychologischen Hilfsangeboten haben. Dabei wiegt | |
[2][der Verlust eines geliebten Menschen] nicht weniger schwer, oder sogar | |
umso schwerer, wenn man nicht von ihnen Abschied nehmen kann. | |
Als meine andere Großmutter vor einigen Jahren starb, war ich allein, als | |
ich davon erfuhr, wusste ich nicht wohin. Ich ging in eine Kirche, zündete | |
eine Kerze an, schloss die Augen, sah meine Großmutter vor mir, in ihrem | |
Tschador mit den weißen Pünktchen. Mein WG-Zimmer schien so banal, also saß | |
ich allein in der Kirche und stellte mir vor, meine Großmutter | |
verabschieden zu können, gemeinsam mit der ganzen Familie. | |
## Nur via Videochat dabei | |
Als mein Großvater starb, schrieb ich die letzte Begegnung, die ich mit ihm | |
einige Jahre zuvor hatte, in mein Tagebuch. Wir konnten nicht in den Iran, | |
er und meine anderen Verwandten nicht nach Deutschland, also trafen wir uns | |
in Istanbul. Wir wohnten in einem Hotel auf dem Taksim-Platz und just | |
brachen die [3][Gezi-Proteste] aus. Tagelang manövrierten wir meinen | |
93-jährigen Großvater durch die Proteste, er betrachtete das alles stoisch, | |
selbst wenn das Tränengas ihm in den Augen brannte. | |
Als meine Großeltern starben, dachte ich wie beim Tod meiner Großmutter | |
heute an die vielen anderen Menschen, die ähnliches erleben, die getrennt | |
sind von ihren Familien, die nicht einfach so einen Flug buchen können, | |
nach Syrien, nach Afghanistan oder in den Iran. Die, vielleicht, wie ich | |
nach dem Tod meiner Großmutter vor zwei Wochen, Livevideos von Beerdigungen | |
bekommen und mit anderen exilierten Familienmitgliedern weinen und denken, | |
wie wahnsinnig die Welt ist, dass sie einen solchen, sinnlosen Schmerz | |
verursacht. | |
Der erste Gedanke, den ich hatte, als ich vor zwei Wochen vom Tod meiner | |
Großmutter erfuhr, war: [4][Der Schmerz,] den ich gerade verspüre, ist nur | |
ein winzig kleiner Bruchteil des Schmerzes, der weltweit durch politische | |
Gewalt verursacht wird. Und doch fühlt er sich an wie die Welt. | |
1 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Gilda Sahebi | |
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