| # taz.de -- Trauerbegleiterin über Abschiede: „Gefühle erzeugen Nähe zum T… | |
| > Trauerbegleiterin Ute Arndt hilft Hinterbliebenen, ihre Emotionen | |
| > „normal“ zu finden. Denn viele glauben, sie müssten schnell wieder | |
| > funktionieren. | |
| Bild: Haben oft das Gefühl, „falsch“ zu sein: Trauernde fühlen sich oft u… | |
| taz: Frau Arndt, wer kommt zu einer Trauerbegleiterin? | |
| Ute Arndt: Zu mir kommen Trauernde, die das Gefühl haben, dass sie in ihrem | |
| Umfeld nicht gesehen werden, sich nicht äußern dürfen und deshalb einen | |
| Außenstehenden brauchen. | |
| Ist das der einzige Grund? | |
| Nein. Viele haben auch das Gefühl, die Trauer belastet sie so sehr, dass | |
| sie nicht wissen, wie sie in ihrem Alltag damit umgehen sollen. Sie haben | |
| das Gefühl, „falsch“ zu sein und denken: „Das muss jetzt verschwinden. W… | |
| kann ich daran arbeiten, dass ich wieder im Beruf funktionstüchtig und auch | |
| sozial wieder anerkannt werde?“ | |
| Kommen auch Menschen mit einer Depression zu Ihnen? | |
| In der Tat wird Trauer oft mit depressiven Stimmungen verwechselt, und es | |
| fühlt sich auch ganz ähnlich an. Aber man kann ziemlich schnell | |
| herausarbeiten, ob jemand an der Krankheit Depression leidet oder ob er | |
| sich aufgrund seiner Trauer so depressiv fühlt. | |
| Wo liegt der Unterschied? | |
| Die Depressiven haben oft diese Grundstimmung von „Alles ist schwarz, | |
| nichts wird sich ändern“. Nicht depressionskranke Trauernde dagegen nehmen | |
| wahr, dass das ihre momentane Situation ist. Sie sagen: „Ich hatte früher | |
| Ideen, Ziele – aber momentan fehlen sie mir.“ Bei ihnen gibt es immer | |
| Bezüge zum Alltag und dazu, dass früher etwas möglich war, das momentan | |
| versperrt ist, weil sie so viel Energie für ihre Trauer brauchen. | |
| Wie können Sie helfen? | |
| Begleiten. Die Trauernden darin bestärken, dass sie so richtig sind, wie | |
| sie sind. Dass alles, was sie fühlen, in Ordnung ist und nicht von heute | |
| auf morgen „repariert“ werden muss. | |
| Empfinden viele den Druck, nicht trauern zu dürfen? | |
| Dieser gesellschaftliche Druck ist natürlich da. Diese ständige | |
| Aufforderung zur Selbstoptimierung, um hundertprozentig leistungsfähig zu | |
| sein. Und genau das geht nicht in Trauerphasen. Da merken die Menschen oft, | |
| wie viel Anstrengung ihnen ihr sonstiges Leben bereitet. Wie viel sie an | |
| sich herumdoktern – und für welches Ziel? Trauernde fangen oft an, ihre | |
| Lebensentwürfe infrage zu stellen. Und wenn sie das dürfen, ist es oft ein | |
| erster Schritt aus dem Gefängnis, das man sich auch selbst geschaffen hat. | |
| Kommen Trauernde leichter von der Fixierung auf sich selbst weg? | |
| Auch. Einerseits ist es ein Genauer-Hingucken, um sich der Wertigkeit | |
| seines Lebens bewusst zu werden. Andererseits ist da das Bedürfnis, etwas | |
| weiterzugeben von den tiefen Erfahrungen, die sie gemacht haben. Zu Trauern | |
| bedeutet ja nicht nur, jemanden zu verabschieden, sondern auch, eine | |
| elementare Erfahrung zu machen. Wer das wirklich an sich heran lässt, kann | |
| nicht weiterleben, ohne das zu integrieren. Oft wird das auch praktisch | |
| umgesetzt nach dem Motto: „Ich wollte schon immer eine Katze haben, und | |
| bevor ich morgen überfahren werde wie mein Mann, schaffe ich mir eine an.“ | |
| Erleben Sie, dass Menschen mit ihrer schlechten Beziehung zum Verstorbenen | |
| hadern? | |
| Zum Teil. Es gibt sehr viel Aufarbeitung von Konflikten, Nichtgesagtem, | |
| aufgespartem Streit. Das muss alles erst einmal formuliert und gesagt | |
| werden. Erst dann kann es mit bestimmten Ritualen oder psychologischen | |
| Methoden nochmals zum Gespräch kommen. | |
| In welcher Form? | |
| Ich als Begleiterin würde zum Beispiel ein Setting organisieren, in dem der | |
| Lebende mit dem Verstorbenen – für den Figuren oder Symbole stehen können �… | |
| spricht. Auch der Tote wird dann sprechen – aus dem Mund des | |
| Hinterbliebenen, nicht aus meinem. Der Tote wird vielleicht vergeben, | |
| vielleicht vergibt der Hinterbliebene auch sich selbst. Ich bin dabei nur | |
| Zeugin. | |
| Haben Trauernde oft Schuldgefühle? | |
| Schuldgefühle sind ein großes Thema in der Trauerbegleitung. Die begleiten | |
| die Trauernden eine ganze Zeitlang – auch deshalb, weil das Gefühl von | |
| Schuld die Nähe zum Verstorbenen intensiviert. Schuldgefühle stellen eine | |
| Nähe her, sodass ich mich getröstet fühle. Eine Mutter, die ihren Sohn | |
| verloren hatte, wurde in der Trauerbegleitung gefragt: „Was wäre, wenn Sie | |
| keine Schuldgefühle mehr hätten?“ Die Antwort: „Dann wäre ich ja von ihm | |
| getrennt.“ | |
| Wie gehen Sie mit Schuldgefühlen von Suizid-Hinterbliebenen um? | |
| Da gibt es bei jedem erst mal die Überlegung: „Ich stamme aus dem sozialen | |
| Gefüge desjenigen, wie viel Anteil habe ich?“ Das muss so lange besprochen, | |
| angeschaut und durchgehalten werden, bis die Menschen selbst sagen: „Ja, | |
| ich hatte an bestimmten Dingen einen Anteil. Aber nicht daran, dass | |
| derjenige diese Entscheidung gefällt hat. Und nicht daran, dass er die | |
| [1][Krankheit Depression] bekam.“ Was ich als Trauerbegleiterin nie tun | |
| darf – das ist meine tiefste, aus Erfahrung gespeiste Überzeugung: den | |
| Menschen die Schuldgefühle absprechen. Das Schuldgefühl muss so lange Raum | |
| haben, bis es sich verändert. | |
| Dazu kommen derzeit coronabedingte Schuldgefühle. | |
| Ja. Die Menschen kommen und sagen: „Ich durfte ihn in seinen letzten Tagen | |
| nicht im Krankenhaus begleiten. Hätte ich rein gedurft und mit ihm sprechen | |
| können, wäre mein Vater nicht so aufgeregt gewesen und nicht gestorben.“ | |
| Das ist dieses Moment von „jeder Trauernde organisiert“ sich seine | |
| „Schuld“, um in Verbindung zu bleiben und noch mal abzuleuchten: Habe ich | |
| für den Verstorbenen alles richtig gemacht? | |
| Bei Corona käme dazu: Habe ich ihn angesteckt? | |
| Ich selbst hatte den Fall noch nicht, aber das kommt sicher vor. Aber wir | |
| werden noch ein paar Monate warten müssen, bevor wir die Corona-Erfahrungen | |
| auswerten. Menschen, die in dieser Zeit – unabhängig von der Todesursache – | |
| jemanden verloren haben, sind noch in diesem Ausnahmezustand des Ausharrens | |
| nach dem Motto: „Wir müssen das alles erst mal überstehen. Auch die | |
| [2][Coronakrise.] Danach dürfen wir zugeben, dass wir als Trauernde | |
| vielleicht Hilfe brauchen.“ | |
| Bieten Sie derzeit überhaupt Vor-Ort-Gespräche an? | |
| Ja. Es gibt aber auch gute Erfahrungen mit der Videoberatung. Im Zuge | |
| unseres „Netzwerks Trauerkultur“ biete ich gemeinsam mit der | |
| Urnengestalterin Ina Hattebier seit 2016 regelmäßig „Death Cafés“ in | |
| Hamburg an. Seit sie coronabedingt online stattfinden, haben wir deutlich | |
| mehr Zulauf. Besonders die Jüngeren sagen: „Mir fällt es hier leichter, | |
| über meine Trauer, Schuldgefühle, Verzweiflung zu sprechen, als wenn ich | |
| euch in der realen Gruppe gegenüber säße.“ Das ist erstaunlich, denn auch | |
| in der Vor-Ort-Trauergruppe könnte man dasitzen und nichts sagen. Aber in | |
| der Videokonferenz fühlen sie sich wohl geschützter. | |
| Erzwingt die Coronakrise auch neue Trauerrituale? | |
| Für die Trauerbegleitung nicht. Aber bei [3][Bestattungen,] Trauer- und | |
| Erinnerungsfeiern durchaus. Und da ich auch Trauerrednerin bin, ist mir das | |
| vertraut. Da stellen zum Beispiel alle – auch die Bestatter – mehr Zeit und | |
| Raum zur Verfügung. Wir dürfen ja nicht mit so vielen Leuten da sein. Also | |
| organisiert der Bestatter, dass immer nur fünf gleichzeitig kommen, ein | |
| kleines Ritual machen und wieder gehen. Oder: Es dürfen nicht 50 Leute | |
| gemeinsam die Urne ins Grab begleiten. Dann organisiert man eben, dass die | |
| Leute vorweg ihre Blumen ablegen und der Blumenberg immer höher wird. Zum | |
| Schluss kommt die engste Familie und gibt die Urne ins Grab. | |
| Betrachten Sie die Coronakrise als gesamtgesellschaftliche Trauersituation? | |
| Ja. Wir alle befinden uns in einer Krise, in der uns Alltägliches | |
| weggenommen wurde. Daraufhin fängt der Mensch an zu trauern. Was die | |
| Coronasituation so schwer macht, ist das, was Trauernde auch empfinden: | |
| Wir wissen nicht, wann es endet, und niemand kann es uns sagen. Wir fühlen | |
| uns machtlos und im Stich gelassen. Als Trauerbegleiterin kann ich dazu nur | |
| sagen: Du bist mutig, wenn du diesen Weg der Wandlung gehst und versuchst, | |
| dich zu öffnen, das nicht runterzuschlucken. Es geht darum, die Resilienz | |
| zu stärken. Das gilt auch für uns Coronatrauernde. | |
| 9 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Isabel-Bogdan-ueber-ihren-Roman-Laufen/!5704874 | |
| [2] /Gedenken-an-Coronatote/!5766941 | |
| [3] /Trauer-in-der-Pandemie/!5763118 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
| ## TAGS | |
| Tod | |
| Trauer | |
| Sterben | |
| Bestattung | |
| Trauerfeier | |
| Hamburg | |
| wochentaz | |
| Trauer | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Sterben | |
| Schluss jetzt | |
| Schluss jetzt | |
| Tod | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Krankenhausseelsorger über Sterben: „Abschied geschieht stückchenweise“ | |
| Der Krankenhausseelsorger Borris Pietzarka über das Sterben an einem Ort, | |
| der dafür gar nicht gedacht ist. | |
| Autorinnen über ihren Umgang mit Trauer: Gegen die Hilflosigkeit | |
| Jeder Mensch trauert anders. Caroline Kraft und Susann Brückner haben über | |
| ihren persönlichen Umgang damit ein Buch geschrieben. Ein Treffen. | |
| Expert*innen über Resilienz: „In die Ursprungsform zurückkehren“ | |
| Psychotherapeutin Isabella Helmreich und Stressforscher Omar Hahad | |
| erklären, was Resilienz mit einem Schwamm zu tun hat. Und warum sie so | |
| wichtig ist. | |
| Neuer Studiengang: Alles übers Sterben lernen | |
| Ein neuer Master widmet sich Trauer und Tod. Die Studierenden lernen | |
| Totenversorgung und Sterbebegleitung. | |
| Selbstbestimmte Trauer-Rituale: Würde der Bestattung ist antastbar | |
| Die Zeit zwischen Tod und Bestattung ist wichtiger, als viele glauben. Und | |
| die Wahl der richtigen Bestatter*in ist existenziell. | |
| Kosten von Bestattungen: Nicht mal im Tod sind wir gleich | |
| Eine Bestattung kostet mehrere tausend Euro. Viele können sich das gar | |
| nicht leisten. Wieso wird auch noch beim Sterben mit zweierlei Maß | |
| gemessen? | |
| Trauerfeiern in Corona-Zeiten: Abschied mit Mundschutz | |
| Ein Bestatter und Trauerredner erzählt, warum trotz Lockerungen der Zwang | |
| zur bescheidenen Trauerfeier auf vielen Friedhöfen bleibt. Ein Protokoll. |