# taz.de -- Autorinnen über ihren Umgang mit Trauer: Gegen die Hilflosigkeit | |
> Jeder Mensch trauert anders. Caroline Kraft und Susann Brückner haben | |
> über ihren persönlichen Umgang damit ein Buch geschrieben. Ein Treffen. | |
Bild: Darüber sprechen statt schweigen: Susann Brückner und Caroline Kraft | |
Trauer hat viele Gesichter. Wir können um ein verlorenes Zuhause trauern, | |
eine verpasste Chance, um vergangene Liebe, Leben, das nie war oder zu Ende | |
gegangen ist. Um Haustiere, Freund*innen oder Familie. Um die Seele eines | |
Menschen und um dessen Körper. Trauer gehört zum Leben dazu, jede*n | |
betrifft sie irgendwann auf die ein oder andere Weise. | |
Trotzdem fällt es uns schwer, über sie zu sprechen. Warum ist das so? Das | |
ist eine der Fragen, denen Caroline Kraft und Susann Brückner in ihrem Buch | |
nachgehen: In „endlich. über trauer reden“ (Goldmann-Verlag, 240 Seiten, 17 | |
Euro) sammeln sie Anekdoten und Interviews, geben anhand eigener | |
Erfahrungen wertvolle Tipps sowie Musik- und Serienempfehlungen rund ums | |
Thema Trauer. | |
Dem Buch vorangegangen sind [1][eine taz-Kolumne von Caroline Kraft] und | |
ein Podcast, in dem Brückner und Kraft seit 2017 miteinander und mit Gästen | |
übers Trauern, den Tod und das Leben sprechen. Unter den Gästen finden sich | |
unter anderem Menschen, die Kinder verloren, Verwandte beim Sterben | |
begleitet, und solche, die von Berufs wegen mit dem Tod zu tun haben. „Mal | |
ernst, mal traurig, manchmal auch lustig“ geht es dabei zu, eines sind die | |
beiden aber immer: ehrlich. Und das tut richtig gut. | |
Begonnen hat das Ganze mit einer E-Mail: „Wenn du mit jemandem reden | |
willst, der dich nicht betroffen anschaut, sag Bescheid“, schreibt Susanne | |
Brückner damals an Caroline Kraft. Die beiden Frauen arbeiten zu der Zeit | |
im selben Berliner Verlag. Außer dem Arbeitgeber verbindet sie der Tod | |
geliebter Menschen durch Suizid. | |
Kraft ist damals oft krank, steht häufig neben sich, weint viel. Einige | |
Monate zuvor hat sich ihr Ex-Freund Stephan das Leben genommen. „Ich wollte | |
über nichts anderes sprechen als über diesen Tod, über diese Trauer und | |
über den Verlust“, sagt sie, als wir uns abends zu dritt in | |
Berlin-Kreuzberg treffen. | |
## Tabus und Stigmata | |
In Krafts Umfeld reagieren viele hilflos auf ihre Trauer. Nicht so Susann | |
Brückner: „Ich weiß nicht, ob ich die Mail geschrieben hätte, wenn es sich | |
um eine andere Todesart gehandelt hätte“, sagt sie. Mit dem Verlust durch | |
Suizid kennt sich die 43-Jährige allerdings aus. Mit 19 Jahren verlor | |
Brückner ihren Vater; als sie 36 ist, nimmt sich auch ihr Bruder das Leben. | |
[2][Über Suizid gesprochen wird immer noch viel zu wenig.] Tabus und | |
Stigmata sind der Grund dafür, was in keinem Verhältnis dazu steht, wie oft | |
das Thema Menschen direkt oder indirekt betrifft. In Deutschland sterben | |
laut Statistischem Bundesamt täglich rund 25 Menschen (im Jahr 2020 waren | |
es insgesamt 9.206) durch Selbsttötung – die Zahl der Suizidversuche ist um | |
ein Vielfaches höher (in ihrem 2016 erschienenen Suizidpräventionsbericht | |
geht die WHO schätzungsweise von 600 Fällen täglich deutschlandweit aus). | |
Besonders in der Medienberichterstattung wird das Thema gerne umgangen, aus | |
Angst vor dem sogenannten Werther-Effekt. Sich namentlich von Goethes Figur | |
ableitend, stellt er eine Kausalität zwischen dem Berichten über Suizid und | |
etwaigen Nachahmungen her. Ihm entgegen steht übrigens der Papageno-Effekt, | |
der eine Berichterstattung unter Einhaltung gewisser Standards als | |
suizidpräventiv einstuft. | |
## Der Verlust eines Menschen | |
„Um Suizid herum sind so viele Assoziationen, so viele Urteile“, sagt Jens | |
Möller, die Todesart rücke oft derart in den Mittelpunkt, dass da kein Raum | |
für anderes bleibe. Möller ist Bestatter, Trauerbegleiter und einer der | |
Menschen, mit denen Brückner und Kraft in ihrem Podcast sprechen. Man | |
verliere oft den Menschen, der gestorben ist, in seiner Komplexität aus den | |
Augen, dabei sei Suizid im Grunde „eine Art zu sterben“. | |
Möllers Worte sind für Caroline Kraft eine Offenbarung: „Für mich stand die | |
Todesart so krass im Vordergrund, dass meine ganze Trauer davon beeinflusst | |
war“, sagt sie. Bis sie an die eigentliche Trauer herankam, die über den | |
Verlust eines Menschen, mit dem man ein Stück seines Weges gegangen ist, | |
habe es lange gebraucht. „Suizid verführt dazu, das ganze Leben auf diese | |
Tat am Ende hin zu rekonstruieren.“ Dass das dem Menschen dahinter und dem | |
Leben, das dieser bis zu seinem Tod führte, nicht gerecht wird, weiß Kraft | |
heute. „Suizid ist einfach für alle beschissen“, subsumiert Brückner im | |
Buch. | |
Wir sitzen an diesem Abend vorm Fährhaus, einem alternativen | |
Bestattungsinstitut in Kreuzberg. Von außen erinnert hier wenig an Tod und | |
Trauer – auf all diese grässlichen Artefakte, die sonst die Schaufenster | |
von Bestatter*innen zieren, verzichtet man hier. Stattdessen kann man | |
bei Sahra Ratgeber und Birgit Scheffler selber entscheiden, wie weit man | |
den Bestattungsprozess aktiv begleiten möchte. | |
## Keine verschämten Blicke | |
Die Szenerie vor dem Ladengeschäft gleicht der unzähliger anderer Orte in | |
dieser Stadt an diesem Abend: ein Tisch, darauf Bier, Schnaps, ein | |
Aschenbecher. So ähnlich muss es auch beim ersten Treffen von Kraft und | |
Brückner ausgesehen haben. Nach Brückners E-Mail trafen sie und Kraft sich | |
nämlich in einer Kreuzberger Kneipe. „Ohne Rumgedruckse, keine verschämten | |
Blicke, keine Floskeln oder peinliches Schweigen. Stattdessen kam das ganze | |
Trauerding auf den Tisch“, steht im Vorwort des Buches. Zwei Frauen in | |
vergleichbaren Situationen aus einem ähnlichen Umfeld, und doch unterschied | |
sich ihre Trauer voneinander. | |
Während Brückner vorher wenig über ihre Verluste und die damit | |
einhergehende Trauer sprach, stets funktionierte, ja eher ein | |
„Resilienzmonster“ war – wie sie selbst sagt –, hatte Kraft quasi nur | |
dieses eine Thema nach dem Tod ihres Ex-Partners. „Es ist so spannend, wie | |
individuell Trauer ist“, sagt Kraft. Darüber, was Trauer alles sein kann, | |
müsse man sprechen, darüber müsse es ein öffentliches Wissen geben. | |
Um zu diesem Wissen beizutragen, sezieren Kraft und Brückner ihre eigene | |
Trauer und deren Begleiterscheinungen: „Ich trauerte, meine Familie saß | |
nebenan, ließ mich in Ruhe trauern – und ich schaute Pornos“, erzählt | |
Brückner. Nach dem Tod ihres Bruders, anders als nach dem ihres Vaters, | |
habe sie plötzlich ganz viel Lust empfunden. Lust aufs Leben, aber auch | |
Lust auf Körper, den eigenen und den anderer. „Wer trauert, vögelt nicht“, | |
so die allgemeine Ansicht, dass Trauer und Sex miteinander unvereinbar | |
wären. Für Brückner stimmt das nicht. | |
## Ein schambesetztes Thema | |
Wo diese Lücke noch größer klafft, ist, wenn der*die Partner*in stirbt. | |
Diese Art der Trauer, wenn jemand stirbt, dem man körperlich nah gewesen | |
ist, sei anders, sagt Kraft. „Es fühlte sich an, als wäre die plötzliche | |
Nichtexistenz seines Körpers in meinen Körper übergegangen“, steht Anfang | |
2021 in ihrer taz-Kolumne. Als sexual bereavement bezeichnet Alice Radosh | |
den Zustand. Die US-Psychologin erlebte diese Trauer um den Verlust der | |
sexuellen Intimität, nachdem ihr Partner starb. Bereits über 70 war sie da | |
und fand unter den gleichaltrigen Freund*innen weder Verständnis noch die | |
Bereitschaft, darüber sprechen zu können – zu schambesetzt war das Thema. | |
„Scham ist immer ein guter Marker für etwas, das nicht stimmt – wo etwas | |
mit gesellschaftlichen Normen und eigenem Empfinden quer läuft“, sagt | |
Brückner. An die Scham herantreten, sie mit der Lupe beäugen und | |
auseinandernehmen, ist ihr Rat. „Ist das wirklich etwas, wofür ich mich | |
schämen müsste, dass sich mein Vater das Leben genommen hat? Nein.“ Und | |
wenn man am Strand mit „ein paar Röllchen“ zu viel rumlaufe? Auch hier ein | |
klares „Nein“. Erst wenn man aufhöre, sich zu schämen, nehme man dem ganz… | |
Normensystem die Macht. | |
„Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es empowernd ist, über all das zu | |
sprechen“, sagt Kraft. Die Zuschriften und Kommentare, die die beiden zu | |
ihrem Podcast und jetzt auch zum Buch erhalten, zeigen ihnen, dass es auch | |
anderen Menschen hilft, was sie machen – Menschen, die sonst allein wären | |
mit ihren Gedanken und Gefühlen. | |
Darüber sprechen, statt schweigen, Verletzlichkeit zeigen, statt Stärke | |
mimen. So sieht das Erfolgsrezept von Susann Brückner und Caroline Kraft | |
aus. Die wahre Stärke nach einem Verlust besteht darin, sich der Trauer zu | |
stellen, sie zuzulassen, finden beide: „Nur so kann man überleben.“ | |
6 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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