# taz.de -- Gedenkräume im Netz: Abschied am Laptop | |
> Trauern wir künftig nur noch im Netz? Nein. Für die Gesellschaft können | |
> Online-Gedenkräume aber ein Angebot sein. | |
Bild: Eine Kathedrale der Erinnerung: Mandys Trauerraum | |
Mitten im Raum steht ein Ahornbaum. Daneben, unter den rötlich schimmernden | |
Blättern, blickt eine lächelnde Frau in den kahlen Innenraum der hellen | |
Halle. Durch die Öffnung der Kuppel fällt Licht auf Bänke aus Stein, die | |
hintereinander aufgereiht sind. Wände, Decke und Boden sind hellgrau, | |
geradezu industriell. Farbliche Akzente setzen bis auf den Baum nur die im | |
Raum verteilten Bilder. | |
So wie das der lächelnden Frau. Wirft man den Blick nach links, entdeckt | |
man neben ihr auch einen Prominenten wie Eckart von Hirschhausen. Er sitzt | |
auf der Bettkante neben der Frau, die dazu schreibt: „Erfüllung des großen | |
Wunsches auf meiner Löffelliste“, eben Hirschhausen kennenzulernen, bevor | |
es zu spät ist. | |
Der Raum ist eine Kathedrale der Erinnerung, durch die vielen Bilder und | |
Worte mit Leben und Farbe gefüllt. Durch die Kuppel dringt Licht ins | |
Innere, draußen scheinen Wolken vorbeizuziehen. Scheinen: Denn das hier ist | |
nicht real. Die Erinnerungen befinden sich in einem digitalen Raum, den man | |
mit wenigen Klicks im Internet finden kann. | |
[1][Nicht zuletzt die Coronapandemie hat gezeigt,] dass sich fast alles ins | |
Digitale verlagern kann. Schulunterricht, Meetings, ja sogar Arztbesuche | |
finden per Videokonferenz statt. Die Vorteile: Orts- und | |
Zeitunabhängigkeit. Das möchte auch Lilli Berger für ein Thema nutzen, das | |
für uns alle im Leben früher oder später relevant ist: Trauer. | |
## Mehr als virtuelle Kerzen und Gästebucheinträge | |
Berger ist Bestatterin und Gründerin von Farvel, einer Plattform für | |
virtuelle Trauerräume. Mit 14 Jahren machte die heute 31-Jährige ihr erstes | |
Praktikum bei einem Bestattungsunternehmen. „Ich habe mich immer gefragt, | |
was ist eigentlich dieser Tod, von dem niemand spricht und vor dem jeder | |
Angst hat?“, sagt sie. | |
Nach ihrer Ausbildung zur Bestatterin zieht es Berger an die Universität. | |
Und auch in ihrem Leadership- und Kommunikationsstudium nimmt das Thema | |
Trauer viel Raum ein. Schnell merkt sie: Digitalisierung ist in der Branche | |
noch nicht angekommen, die Trauerbewältigung findet vor allem analog statt. | |
Eine Tatsache, die viele vermutlich weder verwundert noch stört: | |
Schließlich ist der Tod ein gern verdrängtes Thema. Zumindest so lange, bis | |
man damit konfrontiert wird. Getrauert wird dann oft traditionell: Abschied | |
mit Trauerrede und Bestattung. Berger geht das nicht weit genug. Ihre | |
Vision: Das Trauern zeitgemäß gestalten, für eine Generation, die im | |
Internet zu Hause ist und immer internationaler wird. | |
So bewirbt es die Gründerin zumindest auf ihrer Webseite. Hinter den | |
Marketingsprüchen verbirgt sich eine Grundidee: im Digitalen | |
zusammenkommen. Denn Familie, Freund*innen und Studienort – das alles ist | |
längst nicht mehr selbstverständlich in räumlicher Nähe. Um in Kontakt zu | |
bleiben, brauche es digitale Angebote. | |
Was es bislang gibt, sind altbackene Internetforen, in denen virtuelle | |
GIF-Kerzen angezündet und Gästebucheinträge verfasst werden können. „Was | |
hier zu kurz kommt, ist [2][das Gefühl von Nähe und der Austausch durch | |
persönliche Gespräche]“. Berger möchte genau das ändern. Gemeinsam mit | |
ihren Mitgründer*innen Jennifer Beitel und Markus Traber baut sie ab | |
2020 ein sogenanntes Deathtech-Start-up auf. Dafür erstellt sie virtuelle, | |
barrierefreie Erinnerungsräume, die Besucher*innen wie ein | |
Computerspiel betreten können. Via Smartphone, Laptop oder VR-Brille. Wenn | |
man den Raum aufruft, kann man sich mit VR-Brille oder Tastatur in ihm | |
bewegen und die Erinnerungsstücke betrachten. | |
## „Im Grunde braucht es nur zwei Klicks“ | |
Zurück in die große Halle, wo noch immer die Blätter des Ahornbaums im | |
Licht schimmern. „Es ist für mich jedes Mal sehr bewegend und berührend, im | |
Erinnerungsraum zu sein“, schreibt Mandy. Mandy ist die lächelnde Frau, die | |
überall im Raum zu sehen ist. „Das eigene Leben verewigt in Bildern zu | |
sehen, die Kommentare der lieben Besucher zu lesen und ab und an sogar | |
gerade jemanden zu treffen und kurz zu reden, ist wirklich immer wieder | |
faszinierend“, sagt sie. | |
Mandy, die ihren Nachnamen nicht in dieser Zeitung lesen möchte, ist 40 | |
Jahre alt und kann aufgrund mehrerer Herzerkrankungen nicht mehr das Haus | |
verlassen. Für sie ist ihr Trauerraum etwas ganz Besonderes. „Die | |
Verbundenheit, die mir mein ganzes Leben hinaus so wichtig ist, kann | |
weiterhin bestehen“, schreibt Mandy der taz. Sie schreibt, weil ihr das | |
Sprechen zu schwer fällt. Denn: Mandy wird sterben. Mit ihrer Diagnose geht | |
sie offen um. Besonders im Internet. Auf Instagram folgen ihr knapp | |
zehntausend Menschen. Sie folgen, spenden Trost, denken an sie. | |
Schon in der Anfangsphase sei Mandy auf das Team von Farvel zugekommen. | |
Seitdem ist viel passiert. Mandys Erinnerungsraum ist mit Bildern, | |
persönlichen Nachrichten und sogar Sprachmemos gefüllt. Jede*r kann ihn | |
betreten und die Erinnerungen erleben. Dass Mandy ihren eigenen Trauerraum | |
besuchen kann, ist etwas Besonderes. Ursprünglich sei die Idee von Lilli | |
Berger und ihrem Team gewesen, einen Raum für die Angehörigen der | |
Trauernden zu schaffen. | |
Mit einer VR-Brille fühlt es sich an, als laufe man durch den Raum. Die | |
Geräusche kommen aus unterschiedlichen Richtungen, Unterhaltungen etwa hört | |
man nur, wenn man sich wirklich virtuell gegenübersteht. Für viele ist | |
jedoch die Schnelligkeit der technologischen Entwicklung überfordernd. | |
Alles verlagert sich in die digitale Welt. Wie soll getrauert werden, wenn | |
wichtiges Know-how fehlt? Berger sagt: „Es gibt eine große Barriere. | |
Menschen, die noch nie in einem digitalen Raum waren, wissen gar nicht, wie | |
viel Potenzial das hat.“ | |
Besonders nutzer*innenfreundlich sollen die Räume durch die leichte | |
Bedienung sein. „Im Grunde braucht es nur zwei Klicks. Man kann unsere | |
Webseite besuchen und die Räume betreten.“ Eine VR-Brille etwa sei nicht | |
notwendig, mache die Erfahrung aber intensiver. Die Besucher*innen | |
können sich auch einen Avatar zusammenstellen, also ein äußeres | |
Erscheinungsbild, das ihrem realen Ich ähnlich sehen kann, aber nicht muss. | |
## Trauern bald also nur noch digital? | |
Trauern wir zukünftig also nur noch in der digitalen Welt? Klare Antwort: | |
Nein. „Die Idee ist nicht, einen Ersatz zu schaffen, sondern ein | |
Zusatzangebot. Für all diejenigen, die nicht zur Trauerfeier kommen können, | |
die im Nachgang einen Raum brauchen, wo sie erinnern können“, sagt sie. | |
Berger möchte Farvel als Produkt für Unternehmen aus der Branche anbieten, | |
also etwa Bestatter*innen. Es geht nicht darum, bestehende Traditionen | |
und Trauerrituale abzulösen. Besonders bekannte Rituale sieht Berger als | |
wichtig an. „In ritualisierten Abläufen liegt Halt und Struktur. Wie im | |
Vaterunser, das viele mitsprechen können.“ Das bestätigt Hansjörg Znoj, | |
Professor für Klinische Psychologie an der Universität Bern. „Rituale | |
dienen hauptsächlich dazu, den Verlust fassbar zu machen, ihm eine Form zu | |
geben“, sagt Znoj, der zu Trauer forscht. Wie schätzt der Experte das | |
Potenzial von digitalen Trauerräumen ein? | |
„Das Kommunikationsverhalten hat sich durch die digitalen Angebote und | |
Messengerdienste, soziale Medien allgemein, verändert.“ Znoj glaubt, dass | |
digitalen Trauerräumen eine wachsende Bedeutung zukommen könnte. „Ich bin | |
allerdings etwas skeptisch, dass diese ausreichen, um wirklich Trost zu | |
spenden.“ Zudem fehlen in dem Bereich noch Studien und Daten „Da muss dann | |
jede und jeder selbst entscheiden, ob das Angebot passt oder nicht“, sagt | |
er. „Trauernde sind ja nicht urteilsbeeinträchtigt.“ | |
Andere digitale Angebote könnten jedoch eine mögliche zukünftige | |
Stoßrichtung anzeigen, sagt Znoj. So könne etwa Online-Therapie einen ganz | |
ähnlichen Effekt haben wie eine Sitzung, die in Präsenz stattfindet. Das | |
sieht er als „Hinweis darauf, dass auch digitale Trauerräume einen | |
hilfreichen Effekt haben könnten“. | |
Einen gemeinsamen Rückzugsort zu haben, der mit schönen Erinnerungen | |
gefüllt ist und sich vertraut anfühlt – das gibt auch Mandy Halt. Zu einer | |
dieser Erinnerungen trägt Trauerrednerin Mel Breese bei. „Für Mandy habe | |
ich eine Trauerrede geschrieben und als Hörbuch eingesprochen“, erzählt | |
Breese. Mandy habe sie sich bereits angehört. | |
Wenn es so weit ist, wird die Rede als Audiodatei in ihrem Trauerraum | |
platziert, wo sie dann jede*r abspielen kann. Für alle, die sich an Mandy | |
erinnern möchten, an Verbindungen, die keinen physischen Kontakt brauchen, | |
nie einen hatten und auch nicht bekommen werden. | |
Doch da gibt es eben diesen einen Ort, an dem alle zusammenkommen können. | |
Und an denen Mandy mit allen zusammenkommen kann. Auch wenn sie aufgrund | |
ihrer Krankheit zu schwach ist, um das Haus zu verlassen oder jedem einzeln | |
auf Instagram zu antworten. | |
Die Rede ist von ihrem Raum mit dem Ahornbaum in der Mitte. | |
1 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Larena Klöckner | |
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