# taz.de -- Digitaler Nachlass: Tot, aber nicht aus der Welt | |
> Wer stirbt, ist noch lange nicht offline. Das Facebook-Profil bleibt, der | |
> Mail-Account empfängt Nachrichten – und manchmal schlüpfen Angehörige ins | |
> digitale Ich der Toten. | |
Bild: Marion Horchmer blickt auf ein Foto ihrer Tochter Julienne. | |
WILLICH/BREMEN/BERLIN taz | Marion Horchmer sucht nach der | |
Versicherungskarte ihrer Tochter, nach dem Personalausweis. Mechanisch | |
durchwühlt sie Juliennes Handtasche. Es ist ein heißer Sommertag. Die Sonne | |
scheint durch die Fenster des Einfamilienhauses in Willich bei Düsseldorf. | |
Im Portemonnaie stößt Horchmer auf einen kleinen, gefalteten Zettel. Darauf | |
hat Julienne säuberlich all ihre Online-Passwörter notiert. Für schülerVZ, | |
Wurzelimperium, ICQ und andere Netzwerke. Die Mutter steckt den Zettel | |
einfach ein. "Ich habe nur noch funktioniert an diesem Tag. Ich war wie | |
aufgezogen", sagt sie. | |
Marion Horchmer weiß da noch nicht, dass der Zettel zu einem Schlüssel für | |
sie werden wird. Zu einem, den sie heute nicht mehr loslassen will. Wenige | |
Stunden zuvor hat sie ihre sechzehnjährige Tochter tot im Bett gefunden. | |
Als sie mittags von der Arbeit kommt, wundert sie sich, dass Julienne noch | |
nicht auf ist. Sie geht in ihr Zimmer. Die Tochter liegt zur Wand gedreht. | |
Als die Mutter sie an der Schulter fasst, fühlt sie sich steif an. Marion | |
Horchmer ist Arzthelferin. Sie sieht die dunklen Flecken auf der Haut. Da | |
weiß sie, was sie lange nicht begreifen wird: Julienne lebt nicht mehr. Sie | |
muss in den Morgenstunden des 9. August 2010 erstickt sein. Ein | |
epileptischer Anfall. | |
Am Tag darauf holt Marion Horchmer den Zettel wieder aus ihrer Tasche und | |
setzt sich an den Familiencomputer im Arbeitszimmer. An der Wand hängt ein | |
farbig leuchtendes Bild. Julienne hat es gemalt. Orangefarbene Herzen. "Ich | |
hab euch lieb", steht darauf. Horchmer ruft die pinkfarbene schülerVZ-Seite | |
auf und tippt die Daten vom Zettel in die weißen Login-Felder. Für die | |
Mutter ist es der erste Schritt in eine Welt, die sie vorher nie betreten | |
hatte und die nun zu ihrer werden wird. Bis heute liegt der Zettel mit | |
Juliennes Passwörtern neben dem Computer. | |
Für Juliennes Freunde ist es ein irritierender Anblick. In der realen Welt | |
haben sie erfahren, dass Julienne seit mehr als 24 Stunden tot ist. | |
Trotzdem erscheint sie online im Chat. | |
## Die Mutter mit der Netz-Identität der toten Tochter | |
Sechs Wochen später dröhnt der Rasenmäher durchs Wohnzimmerfenster. | |
Juliennes Oma mäht im Garten. "Muss sich beschäftigen", sagt Marion | |
Horchmer. Vor ihr stehen Kekse und Blumen auf dem Tisch. Sie ist täglich in | |
Juliennes Profil. Liest die Beileidsbekundungen auf der Pinnwand. Sie ist | |
jetzt ein Digital Immigrant, eine Einwandererin im digitalen Universum. Und | |
irgendwie wird das Profil zu einer Verbindung mit ihrem toten Kind. | |
Von den Digital Natives, den jungen Leuten zwischen 14 und 29 Jahren, gehen | |
laut einer ARD-Studie täglich mehr als 70 Prozent ins Internet. Fast genau | |
so viele nutzen soziale Netzwerke oder Foren. Wöchentlich sterben in dieser | |
Altersgruppe in Deutschland im Durchschnitt fast 100 Menschen. Viele | |
hinterlassen digitale Profile. Wie geht eine Gesellschaft damit um? | |
Marion Horchmer hält sich in Willich an dem Profil ihrer Tochter fest. Eva | |
Schwarz aus Bremen will am liebsten alle Spuren ihrer Schwester Lisa im | |
Internet löschen und stößt dabei auf ungeahnte Hindernisse. Anne Hahn aus | |
Berlin lernt ihren Vater nach dessen Freitod erst richtig kennen. Weil er | |
ihr seine Online-Passwörter vererbt hat. | |
Ein Toter hinterlässt heute nicht nur einen realen Nachlass. Die | |
Hinterbliebenen müssen sich auch mit seinem virtuellen Erbe beschäftigen. | |
Je aufwändiger Menschen an ihrer digitalen Identität arbeiten, Online-Ichs | |
kreieren mit privaten Fotoalben, Lieblingssonglisten und Gästebuchgrüßen | |
von Freunden, desto mehr dieser Spuren bleiben nach ihrem Tod erhalten. | |
Fast zwei Milliarden Menschen nutzen das Internet. Die Datenmenge wächst | |
Jahr für Jahr nach Schätzungen um etwa 60 Prozent. Es gibt keine digitalen | |
Bestatter, die sich um nicht mehr aktuelle Inhalte kümmern. Alles bleibt | |
erhalten, und sei es unter Schichten neuer Daten. Somit besitzen die | |
meisten heute ein "unendliches Ich", das weit verästelt im World Wide Web | |
seine Spuren hinterlässt. Je einfacher es wird, Videos und Fotos zu | |
veröffentlichen, desto umfangreicher werden die Nachlässe. | |
## Das Risiko: eine Wunde, die sich nie schließt | |
Der Tod von Julienne ging "ratzfatz" durchs Internet, erzählt Marion | |
Horchmer. Nur einen Tag später wussten es alle Freunde, das halbe Dorf. | |
Juliennes Profil wird zur digitalen Pilgerstätte, ihre schülerVZ-Pinnwand | |
zum Kondolenzbuch. | |
Marion Horchmer zündet sich eine Power-Gold-Zigarette an. Sie betont jede | |
Silbe, jedes "T" am Ende eines Worts. Horchmer spricht gern von ihrer | |
jüngeren Tochter, lächelt, ist bemüht, alle Fragen der Reporterin zu | |
beantworten. Man erwartet fast, Julienne könnte jeden Augenblick die Treppe | |
herunterkommen. Während im Netz Beileidsbekundungen formuliert werden, | |
scheint es, als sei der Tod im Wohnzimmer der Familie noch nicht | |
angekommen. Als solle Juliennes Profil im schülerVZ die Tochter lebendig | |
halten. | |
Das Internet bildet alle Seiten des Lebens ab, auch die dunklen. In Foren | |
helfen sich Eltern über den Verlust ihrer Kinder hinweg. Es gibt virtuelle | |
Friedhöfe mit digitalen Kerzen, Hinterbliebene schaffen Homepages für ihre | |
Toten. Trauer hat immer ein Ziel, sagt Thomas Multhaup, Theologe und | |
Trauerberater: "Den Schmerz zu integrieren und anschließend mit der Narbe - | |
aber nicht mehr mit der Wunde! - das eigene Leben weiterzuleben." Er kann | |
nachvollziehen, wenn Menschen sich an den Online-Profilen ihrer | |
Verstorbenen festhalten. Es verhindere aber, dass die Trauerarbeit zum | |
guten Ende gebracht werde. "Wenn im Netz eine Art von Scheinwirklichkeit | |
und Scheinleben aufrechterhalten wird, tut man sich damit auf Dauer keinen | |
Gefallen. Niemand wird digital unsterblich." | |
Wie weit aber dürfen Eltern gehen? Ist der Besuch eines schülerVZ-Profils | |
vergleichbar mit dem Betrachten eines Fotoalbums? Oder simulieren die | |
Veränderungen auf einem OnlineProfil ein Leben, das es nicht mehr gibt? Ein | |
Profil mit seinen Pinnwandeinträgen und Statusmeldungen ist mehr als ein | |
Fotoalbum. Es kann sich verselbstständigen, sich auch nach dem Tod in | |
Erinnerung rufen. Und sei es nur durch einen Logarithmus, der jährlich die | |
Geburtstagserinnerung versendet. Marion Horchmer ist eine Frau, die alles | |
richtig machen möchte. Doch im Internet fehlen Regeln und Normen, an denen | |
man sich in einem Todesfall orientieren kann. | |
Als sie sich in das schülerVZ-Profil ihrer Tochter eingeloggt hat, klickt | |
Horchmer auf "Seite bearbeiten" und dann auf "Persönliches". Sie löscht die | |
Angabe aus dem Feld "Beziehung". Die Tochter hatte sich mit ihrem Freund | |
gestritten und vor Wut ihren Status auf "solo" gesetzt. In der Nacht vor | |
Juliennes Tod telefonierten die beiden bis in die Morgenstunden und | |
versöhnten sich. Marion Horchmer ist sich sicher, dass ihre Tochter den | |
Jungen geliebt hat. Sie korrigiert den Status für ihn. Die Änderung | |
erscheint online neben Julienne Horchmers Profilfoto. | |
Das Foto steht heute groß gerahmt im Wohnzimmer. Es ziert den | |
Desktop-Hintergrund des Familienrechners. Es wurde hundertfach in Folie | |
geschweißt und auf der Beerdigung verteilt. Statt Trauerkarten. | |
Das Bild entstand eine Woche vor Juliennes Tod. Julienne schaut in die | |
Kamera, die Augen wirken ernst, doch sie lächelt. Sie hatte ihre Haare | |
dunkler gefärbt. "Ich hab immer gesagt, dass ich Schneeweißchen und | |
Rosenrot zu Hause habe", sagt Marion Horchmer. Ihre ältere Tochter | |
Jacqueline ist blond und hat leuchtend blaue Augen. | |
## Als das Handy der toten Schwester klingelt | |
Bremen. An einem warmen Tag im Juli 2009 wird Eva Schwarz in ihrer Wohnung | |
früh morgens von einem fremden Klingeln aufgeweckt. Verwirrt sucht sie ihr | |
Zimmer ab, bis sie auf die Tasche ihrer kleinen Schwester Lisa stößt. Der | |
Wecker ihres Handys ist angesprungen. Die 25-Jährige sieht drei neue SMS | |
auf dem Display. Sie reißt die SIM-Karte aus dem Gerät und vernichtet sie. | |
Am 29. Juni 2009, einen Tag vorher, hat sich auf der B 3 der Ersatzreifen | |
eines Lkws gelöst und Lisa frontal im Gesicht getroffen. Sie war mit dem | |
Fahrrad neben der Bundesstraße unterwegs. Der Lastwagenfahrer bemerkt | |
nichts. Erst Stunden später hört er über Funk von dem Unfall, untersucht | |
seinen Wagen und sieht den fehlenden Reifen. Da ist Lisa Schwarz längst | |
tot. | |
Eva Schwarz will, dass im Internet nichts mehr an die Schwester erinnert. | |
Die Holzkreuze im Netz aber sind weniger leicht zu kontrollieren als die an | |
der Straße. Zu Lisas 21. und 22. Geburtstag etwa trudelten Glückwünsche | |
anderer User auf ihrer Pinnwand bei Goolive ein. Blinkende, grellgelb | |
animierte Happy-Birthday-Schriftzüge. Aufforderungen, eine ordentliche | |
Party zu feiern. | |
Im Gegensatz zu studiVZ ist Goolive eine Plattform, auf der sich Menschen | |
oft erst kennenlernen. Für den größten Teil der Community gehört Lisa noch | |
dazu, auch wegen der automatischen Geburtstagserinnerung. | |
Eva Schwarz will nicht, dass sich Menschen wie Lisas ehemaliger Freund auf | |
der Pinnwand ihrer verstorbenen Schwester profilieren und ihren Schmerz | |
zelebrieren. Er schreibt fast täglich auf die Pinnwand. Dass er sie | |
besuchen und ihr "Gräbchen" schöner machen werde. "i looooove juuuuu | |
soooooo muuuuch mein engel. :)" Eva Schwarz denkt, dass er das nicht für | |
ihre Schwester, sondern für sich tut. Wenn sie sieht, wie pathetisch der | |
Freund sein Leiden ausbreitet, fühlt sie sich, als müsste sie beweisen, wie | |
echt ihre eigene Trauer ist, sagt sie. | |
Am 25. Juli 2009 um 15.23 Uhr hat sich Lisa in Evas Wohnung zum letzten Mal | |
bei Goolive eingeloggt. Vier Tage vor ihrem Tod. Wieder einer von diesen | |
heißen Sommertagen. Die beiden Schwestern waren bei Ikea gewesen. Sie hat | |
keine Einträge hinterlassen, nichts hochgeladen. Vielleicht hat sie mit | |
ihrem Freund gechattet, mit dem sie als "verheiratet" eingetragen ist? Mit | |
ihrer besten Freundin Jenny? Auf den Fotos bei Goolive sieht man beide | |
zusammen herumalbern, Kussmünder ziehen, sie hatten sich aufgehübscht, | |
bevor sie ausgehen wollten. Es ist ein typisches Bild aus einem | |
Online-Netzwerk. Hunderttausend werden jeden Tag bei schülerVZ oder studiVZ | |
hochgeladen. Aber dieses tut weh. | |
Irgendwann wird der Schmerz schwächer. Bilder, die Eva Schwarz oft gesehen | |
hat, werden erträglicher. Nur vergessene oder unbekannte Fotos, auf die sie | |
nicht vorbereitet ist, schnüren ihr den Hals zu. | |
Marion Horchmer aus Willich betrachtet deshalb bewusst keine Bilder ihrer | |
Tochter, die sie lange nicht gesehen hat. Sie will sich dem Schockmoment, | |
diesem blitzkurzen trügerischen Gefühl, die Tochter sei wieder lebendig, | |
nicht aussetzen. Sie schaut auf Juliennes Profilbild. Das kennt sie. Es | |
beruhigt. | |
Ein Online-Profil lebt durch seine Fotos. In den Fotoalben markieren Nutzer | |
ihre Freunde, setzen Links mit deren Namen darauf. Das Offline-Leben soll | |
in diesem Netz bunt und lustig wirken und aufregend. Urlaube werden | |
dokumentiert, Errungenschaften präsentiert. Schaut her, das bin ich, das | |
ist meine Welt, rufen all die Bilder. Und sie rufen weiter - auch wenn | |
diese Welt längst nicht mehr existiert. | |
## Eva verlangt, dass studiVZ die Schwester löscht | |
Lisa hatte sich bei Goolive angemeldet, als sie Single war. Das Netzwerk | |
fungiert als Kontaktbörse. Gemeinsam mit ihrer Mutter durchforstete sie die | |
Plattform nach Männern. Sie kicherte dabei. Nach einer kurzen Anmeldung | |
konnte man Lisas komplettes Profil bei Goolive ansehen. 20 Fragen über sich | |
hat sie ausgefüllt. Auf die vorletzte Frage "Wie wichtig sind Dir Deine | |
Eltern und Deine Familie?", antwortet sie: "sie sind das wichtigste was man | |
hat … viele wissen erst was ,familie' bedeutet wenn es zu spät is …" | |
Der Theologe Thomas Multhaup hat viel darüber nachgedacht, wie | |
Hinterbliebene mit solchen Profilen umgehen sollten. "Was wäre der Wunsch | |
des Verstorbenen gewesen?", müssen sie sich fragen, findet er. Aber wie | |
viele junge Menschen reden schon über den Tod? Beim Ausfüllen eines Profils | |
denken die wenigsten daran, was damit geschehen soll, wenn sie nicht mehr | |
leben. Thomas Multhaup plädiert daher für mehr Sensibilität von Seiten der | |
Netzwerke: "Im Idealfall sollte es eine Option geben mit der Frage: ,Wie | |
willst du es, wenn du mal stirbst?' Das hat etwas mit Selbstbestimmung zu | |
tun." Er sieht die Schwierigkeiten: "Natürlich ist das nicht die Frage, die | |
ich erwarte, wenn ich mich zum Beispiel bei studiVZ anmelde." Aber er | |
bleibt dabei: "Das sollte trotzdem auftauchen." | |
Sobald sich Eva Schwarz bei studiVZ einloggt, lächelt ihre Schwester sie | |
an. 39 Tage vor Lisas Geburtstag fing er an, der Countdown bei studiVZ, den | |
eine automatische Software startet. Aber Eva will selbst entscheiden, wann | |
sie in das Gesicht ihrer Schwester blickt. | |
Schon einen Tag nach dem Unfall wendet sie sich an studiVZ. Sie sei die | |
Schwester von Lisa und bitte darum, dass das Profil sofort gelöscht werde. | |
Prompt kommt eine Antwort: Die Löschung des Profils ihrer "Freundin Lisa" | |
könne nur von den Eltern beantragt werden. Wütend schreibt Eva zurück, dass | |
es sich um ihre Schwester handle und die Löschung mit den Eltern | |
abgesprochen sei. Keine Antwort. | |
Wenn Eva über ihre kleine Schwester Lisa spricht, wirkt sie ruhig. Wenig | |
verrät die innere Anspannung. Ihre Unterlippe zittert, und auf den Wangen | |
zeigen sich rote Flecken. Sie will mit ihrer Familie nach vorn schauen, so | |
wie Lisa es gewollt hätte. Eva zieht an den Ärmeln ihres lila Oberteils und | |
versucht, ihre Hände darin zu verstecken. | |
Digitale Fotos verblassen nicht wie Bilder im Album. Niemand weiß, was Lisa | |
selbst gewollt hätte. Holzkreuze am Straßenrand fand sie blöd. Die Familie | |
schloss daraus, dass sie auch digitale Erinnerungsstätten blöd finden | |
würde. | |
Im Herbst 2010, mehr als ein Jahr nach Lisas Tod, löscht Goolive das Profil | |
des Mädchens nach einer Anfrage der sonntaz. Auch studiVZ reagiert nach | |
weiteren Nachfragen und der Zusendung von Lisas Sterbeurkunde. | |
Für Eva Schwarz ist damit ein Teil der Trauerarbeit um ihre Schwester | |
abgeschlossen: "Ich habe keine Angst, dass ich das Löschen irgendwann mal | |
bereue. Ich werde meinen Trauerprozess nicht von Internetprofilen abhängig | |
machen, die mich zum Schluss nur noch geärgert haben, weil die Betreiber so | |
unkooperativ waren." | |
Trotzdem hat sie ein mulmiges Gefühl, als sie den letzten Befehl zum | |
Löschen der Profile geben muss. "Da kämpft man so lange dafür, dass sich | |
endlich was tut", sagt sie: "Und dann passiert es so plötzlich." | |
Marion Horchmer hat fast panische Angst, dass jemand das Profil von | |
Julienne bei schülerVZ löschen könnte. Einmal schreibt ein Bekannter auf | |
die Pinnwand, man solle das Profil melden, es sei unpassend, auf der Seite | |
einer Toten zu landen. Horchmer löscht den Eintrag sofort. Seitdem treibt | |
diese Sorge sie um. Sie will sich nicht an schülerVZ wenden: "Bloß keine | |
schlafenden Hunde wecken. Am Ende speichern die das Profil nicht, und dann | |
ist sie weg." | |
Ein halbes Jahr nach Juliennes Tod räumt die Familie das Zimmer aus. Es | |
soll zum Gästezimmer werden, der Neffe kommt zu Besuch. | |
Juliennes Profil bei schülerVZ bleibt online. | |
## Im Abschiedsbrief findet sie Vaters Passwörter | |
Berlin. Draußen regnet es, als Anne Hahn in ihrem Buchladen drei | |
Abschiedsbriefe aus einer Holzkiste kramt. Auf einem stehen die Passwörter | |
ihres Vaters. | |
Im Dezember 2009, wenige Tage vor seinem 70. Geburtstag, setzt sich Gerhard | |
Hirschmann in seinen Zweisitzer, fährt zu einer Bahnstrecke bei Dessau. Er | |
trinkt eine Flasche billigen Schnaps, reißt Seiten aus seinem Notizbuch, | |
schreibt Abschiedsbriefe. Auf dem ersten entschuldigt er sich und beteuert, | |
dass niemand schuld sei, nur er selbst. Er wünscht seiner Tochter Anne und | |
seinem Enkel Artur alles Gute. Auf dem zweiten vermerkt er, in welchem | |
Autohaus die Sommerreifen für sein neues Auto gelagert sind. Mit dem | |
dritten Zettel will er Ordnung in sein digitales Vermächtnis bringen. Er | |
schreibt alle Passwörter und Zugangsdaten für E-Mail-Postfach, Homepage und | |
soziale Netzwerke auf. Am Ende wird die Schrift unleserlich. Er nimmt das | |
Abschleppseil des Autos, geht zu der kleinen Eisenbahnbrücke, die über | |
einen Radweg führt, befestigt es dort. Dann legt er sich die Schlinge um | |
den Hals. | |
Und springt. | |
Obwohl er 69 Jahre alt wurde, führte Gerhard Hirschmann das Leben eines | |
Dreißigjährigen. Rollerbladen, Nordic Walking, Skypen mit Südamerika, | |
Hilfsprojekte für Afrika, "warum verschreibt der Arzt mir kein Viagra?". | |
Hochzeitstermin für 2011, eigene Homepage, Facebook-Profil. | |
Anne Hahn hat ihren Vater erst kennengelernt, als sie mit 33 selbst ein | |
Kind bekam. Da wurde der Wunsch nach dem leiblichen Vater groß. Dem Vater, | |
der die Mutter mit der dreijährigen Anne sitzengelassen hat, der irgendwann | |
bei seiner erwachsenen Tochter anrief und sagte: "Hier ist Gerhard | |
Hirschmann, wissen Sie, wer ich bin?" | |
Es entwickelt sich eine innige Beziehung. Acht Jahre lang holen sie nach, | |
was 30 Jahre gefehlt hat. Gerhard Hirschmann wird ein Opa für seinen Enkel | |
Artur und ein Vater für seine erwachsene Tochter Anne. | |
In seinem letzten Jahr gibt er immer mehr Geld aus, plant neue Projekte, | |
tippt sich durch tausende Chatrooms, bricht mit alten Freunden. Dass es | |
zwischendurch sehr schwere Phasen gegeben haben muss, wird Anne Hahn erst | |
hinterher bewusst. Als sich sein komplettes Leben online vor ihr entfaltet. | |
Warum schreibt jemand Online-Passwörter in seinen Abschiedsbrief? Anne Hahn | |
hat sich oft gefragt, was ihr Vater damit bezweckte. Es allen so leicht wie | |
möglich machen nach seinem Tod, denkt sie. Während sie spricht, sortiert | |
sie Bücher in ein Regal ihrer Buchhandlung. | |
Das Internet ist kein Buchladen. Die Regale im Netz sind niemals voll. Auch | |
Gerhard Hirschmanns Online-Ich lebt weiter. Durch seinen Enkel Artur. | |
## Mit Opas Zugang im WWW unterwegs | |
Artur ist zwölf. Der Tod seines Opas hat ihm dessen Computer beschert. | |
Manche Hürden kann er jetzt überspringen. Eigentlich darf er in seinem | |
Alter noch keinen eigenen YouTube-Account haben. "Mama, ich habe jetzt ein | |
YouTube-Konto - das von Opa!", ruft er eines Tages durch die Berliner | |
Altbauwohnung. Kaum eine populäre Seite findet er, auf der der Großvater | |
nicht Mitglied war und Usernamen und Passwort gespeichert hatte. | |
Wenn Artur skypen will, heißt er dort Webbyskype. Das findet er blöd. Er | |
will nicht wie Opa heißen! Anne Hahn weiß nicht auf Anhieb, wie man auf | |
einem Rechner ein anderes Skype-Konto anmeldet. Also ändert sie mühsam die | |
E-Mail-Adresse von Webbyskype in die ihres Sohns und bittet ihn, den | |
Skype-Namen weiter zu verwenden. Inklusive all der internationalen | |
Kontakte, die Gerhard Hirschmann dort gepflegt hat. | |
Auch für Anne Hahn sind vergessene, bisher ungesehene Fotos die | |
schlimmsten. Wenn Artur auf einen unentdeckten Ordner im Computer stößt | |
oder ein weiteres Online-Profil, wird der Verlust wieder spürbar, der Vater | |
für einen Moment wieder lebendig. | |
Im Februar 2011, anderthalb Jahre nach Lisa Schwarz' Tod, findet ihre | |
Schwester Eva zufällig ein Video auf einer alten Speicherkarte. "Es hat | |
mich total erschreckt, sie so …", Eva sucht nach Worten, "… lebendig zu | |
sehen, aus Fleisch und Blut." Gleichzeitig ist sie dankbar für die | |
Erinnerung. Mittlerweile hat sie Angst, sie könnte die Stimme oder das | |
Lachen ihrer Schwester vergessen. "Jetzt kann ich mich dank des Videos | |
daran erinnern", sagt sie. Dass Lisas Videosätze und Lisas Videolachen die | |
eigenen Erinnerungen überlagern könnten, fürchtet sie nicht. | |
Anne Hahn hat die Homepage ihres Vaters im Frühling 2010 löschen lassen. In | |
seinen Facebook-Account kann sie sich nicht einloggen, das Passwort vom | |
Abschiedsbrief passt nicht. Sie versucht, den Account von den | |
Verantwortlichen löschen zu lassen - bis heute ohne Erfolg. Manchmal fragt | |
sie sich, in welchen Chatforen er noch unterwegs war, dann wieder ist sie | |
froh, dass sie nicht alle Passwörter und Seiten kennt. | |
Es war genug Arbeit, sich durch 800 E-Mails zu klicken, die in seinem | |
Posteingang lagen. Welche Verpflichtungen hatte der Vater? Freunde aus | |
aller Welt schreiben. Auf Englisch, Französisch oder Esperanto. Anne | |
versucht, so gut es geht, zu antworten. Doch sie grenzt sich auch ab. | |
Einem Patenkind, das sich Gerhard Hirschmann in Benin gesucht hatte, | |
schickt sie kein Geld mehr. "Ich habe ein eigenes Patenkind in Afrika. Aber | |
mit einer Organisation. Er musste alles alleine machen. Das kann viel | |
Missgunst säen", sagt sie. | |
Trotzdem tut es weh, das Foto des Kindes zu sehen, das sie aus der | |
Holzkiste zieht. Die Eltern haben den Jungen aus Dankbarkeit Gerhard | |
genannt. Gerhard Hounsounou. | |
Willich. Marion Horchmer sitzt vor dem Laptop ihrer Tochter. Ihre Hände | |
fahren über die Tastatur. Sie klickt sich durch Chaträume, Gruppenseiten | |
und Profile. Julienne beim Fußball, Fratzen schneidend mit Freundinnen. | |
Spitzname: "Uschiiii …". Hassfach: "Mathe". | |
Auch ein halbes Jahr nach dem Tod zieht es Marion Horchmer immer wieder in | |
die schülerVZ-Welt, in der ihre Tochter noch existiert. Einmal sei sie | |
unsicher geworden, sagt sie. Da schickte eine von Juliennes Freundinnen | |
eine digitale Einladung, dass sie doch der Gruppe "Ruhe in Frieden, | |
Julienne!!" beitreten solle. Die Tote in ihrer eigenen Trauergruppe? Oder | |
vielmehr: Eine Mutter mit dem Profil ihrer toten Tochter in der | |
Trauergruppe für die Tochter. Sie zieht an ihrer Zigarette. Ja, gezögert | |
habe sie. | |
Dann sei sie beigetreten. | |
Die Einträge der Freunde auf Juliennes Profil werden weniger. Über die | |
orangefarbenen Herzen an der Wand hat die Familie das Profilbild Juliennes | |
gehängt. | |
Anne Hahn googelt den Vater regelmäßig. Um zu schauen, "ob es etwas Neues | |
gibt". Sie hat auf das eigene Facebook-Profil ein Foto des Vaters geladen, | |
eines der Bilder, die nicht mehr wehtun. | |
Eva Schwarz hat Screenshots von Lisas Online-Profilen gemacht. Ganz löschen | |
will sie die Schwester nicht. | |
Marion Horchmer loggt sich weiterhin in Juliennes schülerVZ-Account ein. | |
Jeden Tag. | |
26 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Nicola Schwarzmaier | |
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