# taz.de -- Trauer in der Pandemie: „Dann hab ich Papa einfach umarmt“ | |
> Rund 80.000 Coronatote werden inzwischen gezählt. Abschied zu nehmen ist | |
> schwer, wenn Menschen sich nicht nah sein dürfen. Vier Angehörige | |
> erzählen. | |
Bild: Trauer im Dezember in Berlin | |
Ein oder zweimal wurde mir in dieser Zeit der Trauer gesagt: „Na, du weißt | |
ja, wie's geht.“ Das war schon verletzend. Ich bin im Bistum Speyer | |
Referentin für Hospiz- und Trauerseelsorge. Mein Mann ist Diakon und macht | |
auch Beerdigungen. Im Dezember haben wir beide innerhalb von wenigen Tagen | |
unsere Väter verloren. Obwohl wir diesen professionellen Zugang haben, ist | |
mir wichtig: Wir dürfen auch einfach als Menschen trauern. | |
Am 11. Dezember haben wir die Nachricht aus dem Seniorenheim bekommen, mein | |
Schwiegervater sei positiv. Er lebte dort nach einem Schlaganfall. Der | |
Herbert hatte Fieber, nach kurzer Zeit schien es ihm besser zu gehen. Dann | |
aber rief eine Schwester an: Er sehe gar nicht gut aus. Wir bekamen die | |
Erlaubnis, ihn zu besuchen. | |
Ich habe geweint, weil ich Sorge hatte, dass ich, wenn ich jetzt dorthin | |
gehe, möglicherweise nicht zu meinem eigenen kranken Vater kann, wenn dort | |
etwas ist. Die Pflegedienstleiterin hat mir dann angeboten, mich alle zwei | |
Tage zu testen, damit ich kommen kann. So ein Geschenk! | |
Wir hatten Visier, Mundschutz, Kittel und doppelte Handschuhe an und | |
durften eine halbe Stunde bleiben. Als erstes bin ich ans Bett und habe | |
gesagt: „Herbert, wir sehen schon komisch aus, so hast du uns auch noch | |
nicht gesehen.“ Da hat er geschmunzelt. | |
Wir haben gleich gemerkt, dass es Zeit für einen Sterbesegen ist. Wir haben | |
ihn gesalbt, ihm gedankt und es war klar: Wir nehmen voneinander Abschied. | |
Er wollte etwas antworten und konnte nicht. Da habe ich das formuliert: „Du | |
wolltest uns vielleicht sagen, dass du uns auch lieb hast.“ Er hat genickt | |
und unsere Hände fest gedrückt. | |
Für meinen Mann war es am Tag darauf sehr schwer, dass sein Vater fünf | |
Kilometer weiter im Sterben liegt und er nicht an seiner Seite ist. Dass | |
niemand an dem Bett war und seinem Vater die Hand hielt. Unter normalen | |
Umständen hätten wir uns Tag und Nacht abgewechselt. | |
Dann kam auch noch die Nachricht, dass mein Vater mit Corona infiziert ist. | |
Er war im Krankenhaus, weil er gestürzt war, kurze Zeit vorher war er schon | |
mal in der Klinik gewesen, möglicherweise hat er sich da infiziert. Er | |
hatte vielen Baustellen: Diabetes, Fußamputation, das Herz schwach, | |
Aneurysma. | |
Einen Tag nach der Nachricht, dass mein Vater positiv ist, ist mein | |
Schwiegervater gestorben. Er war 81 Jahre alt. | |
Am Morgen nach dem Tod von Herbert, als wir mit der Bestatterin da saßen, | |
kam die Nachricht, dass mein Vater intubiert worden war. Manchmal frage ich | |
mich im Nachhinein, wie wir diese Tage geschafft haben. | |
Mein Gefühl damals war: Wenn ich jetzt von meinem Vater nicht Abschied | |
nehme, dann kann ich meinen Beruf als Trauerbegleiterin an den Nagel | |
hängen. Ins Krankenhaus durfte eigentlich niemand rein. Das war das erste | |
Mal in meinem Leben, dass ich die Karte ausgespielt habe, Seelsorgerin zu | |
sein. Als ich ans Bett kam, hat mein Vater als erstes nach Herbert gefragt, | |
und ich musste ihm sagen, dass der gestorben ist. Ich habe gemerkt: Mein | |
Vater möchte leben. | |
Bei Herbert wollten wir nochmal als Familie Abschied nehmen. Bei einem | |
Corona-Infizierten ist das am offenen Sarg nicht möglich, aber am | |
geschlossenen. Wir haben zwei Tage nach seinem Tod eine kleine Feier | |
gemacht, Holzherzen mit Gedanken beschrieben und Gegenstände, die wir mit | |
ihm verbinden, auf den Sarg geklebt. Und wir haben gemeinsam auch die Urne | |
bemalt. | |
Das war am 19. Dezember und ich ging weiter alle zwei Tage zum Testen. Am | |
22. war ich negativ und fragte, ob am 24. auch mein Mann und Sohn mit zum | |
Testen kommen könnten wegen Weihnachten. Am 24. Dezember waren wir dann | |
alle positiv. | |
Ich bekam Gliederschmerzen, mein Mann Markus Husten, Fieber und | |
Schüttelfrost. Ich habe mir wirklich Sorgen um ihn gemacht und irgendwann | |
eine Tasche gepackt, weil ich dachte, er muss ins Krankenhaus. | |
Zur gleichen Zeit ging es meinem Vater immer schlechter. Er hatte immer | |
lustige Bilder per Whatsapp geschickt, aber nun kam gar nichts mehr. Auf | |
der Intensivstation hat er zum Oberarzt gesagt: „Ich möchte nur noch meine | |
Frau sehen.“ Und der Arzt hat eine Ausnahme gemacht und meine Mutter | |
tatsächlich reingelassen. Noch so ein Geschenk. Sich nicht verabschieden zu | |
können, da muss man nicht drumherumreden: Das ist scheiße. Sechs Stunden | |
danach ist mein Vater gestorben. Er wurde 73 Jahre alt. | |
Ich sage, mein Schwiegervater ist an Corona und mein Vater ist mit Corona | |
verstorben. Mein Schwiegervater würde noch leben, wenn es Corona nicht | |
gebe. 14 Tage später wurde in dem Heim geimpft. | |
In einer Trauerkarte stand: „Corona hat ja auch was Gutes, jetzt habt ihr | |
Zeit zu trauern“, Da haben wir gesagt: „Nee. Corona hat uns diesen Menschen | |
genommen.“ | |
Die Erfahrung von mir und meinen Kollegen in dieser Zeit ist: Je höher die | |
Zahlen steigen, je gravierender Corona wütet, desto mehr tauchen Trauernde | |
ab. Sie sind dann im Krisenmodus. Erst wenn es wieder besser wird, so wie | |
vorigen Sommer, melden sich ganz viele. Trauer schafft Abstand und Distanz. | |
Ich sage immer, Trauer ist ein Geschenk. Aber viele wollen sie loswerden. | |
Deswegen macht Trauer oft einsam. Und Corona auch – das ist die | |
Herausforderung. | |
Kerstin Fleischer, 44, Referentin für Hospiz- und Trauerseelsorge, Speyer | |
## Nach Corona fällt auf, wer fehlt | |
Am 23. Dezember hat sich meine Oma infiziert, im Altersheim. Es war absurd: | |
Am 24. saß ich mit meinem Bruder und meinem Vater dann vor Skype, alle in | |
Quarantäne, alle allein in unseren Zimmern, und wir haben Weihnachten | |
gefeiert. | |
Am Anfang zeigte meine Oma keine Symptome und es war so gut, wie es eben | |
sein kann. Aber dann ging es total schnell, am 28. ist sie ins Krankenhaus | |
gekommen, weil sie kurzatmig wurde. In der Nacht vom 30. auf den 31. | |
Dezember ist sie gestorben. | |
Die Beerdigung war drei oder vier Wochen später. Wir haben lange überlegt, | |
ob wir uns vorher isolieren sollen, damit wir Zeit miteinander verbringen | |
können. Aber keiner hat sich damit sicher gefühlt, weil wir wussten, wie | |
schnell es gehen kann und wie unberechenbar das Virus einfach ist. Man ist | |
in so einem komischen Angstmodus. | |
Es durften dann nur 15 Leute in die Kirche. Und auch das war komisch, weil | |
die Stühle mit viel Abstand herumstanden. Keiner umarmt sich, also | |
streichelt man nur gegenseitig die Arme, aber kommt sich nicht zu nahe … | |
Am Morgen der Beerdigung kam meine Tante ins Krankenhaus. Es hatte sich | |
herausgestellt, dass sie total mit Krebs durchfressen war. Deswegen haben | |
wir gar nicht so wirklich um Oma getrauert und trotzdem alle geweint. Man | |
wusste schon: Es sieht nicht gut aus. | |
Meine Tante hatte sich viel um meine Oma gekümmert, das war ihre | |
Hauptaufgabe, jahrelang. Die Ärzte meinten, meine Tante muss schon | |
Ewigkeiten Schmerzen gehabt haben. Nach dem Tod meiner Oma hat sich der | |
Krebs bemerkbar gemacht, als wäre jetzt Platz dafür. | |
Sie kam wenig später ins Hospiz. Ohne Corona hätte man sie besuchen können, | |
man hätte diesen Abschiedsmoment gehabt. Aber so ging das nicht. Mein Vater | |
telefonierte mit ihr, mein Bruder und ich nicht. Man redet sich ein, man | |
hat noch Zeit, und wir beide haben das aufgeschoben. Ich hatte das Gefühl: | |
Das ist das letzte Gespräch, dann legt man auf und hört die Stimme nie | |
wieder. | |
Die Beerdigung meiner Tante war ganz anders. Wir sind alle mit Maske | |
hingegangen und haben uns erstmal nicht umarmt. Sie war viel jünger, es kam | |
viel plötzlicher, sie war nicht mal 70 und das ist ja heute kein Alter | |
mehr. Sie spielte in der Familie eine wichtige Rolle, war wie ein sicherer | |
Hafen. Mein Vater hat mich in der Kirche gefragt, ob ich mit dem Stuhl ein | |
bisschen näher rücken kann. Dann haben wir Händchen gehalten. Was aber | |
trotzdem komisch war, weil man sich Gedanken gemacht hat, ob das sicher | |
ist. Mein Vater gehört zu einer Risikogruppe. | |
Mein Onkel verliert seine Frau und man gibt sich die Faust. Wie absurd. Wir | |
Jüngeren haben uns dann einfach umarmt. Und meinen Vater habe ich auch in | |
den Arm genommen, mit dem Kopf weggestreckt und der Maske noch auf dem | |
Gesicht … | |
Mein Onkel meinte dann: Kommt vorbei, es gibt Kaffee und Kuchen. Aber wir | |
wollten natürlich nicht, dass es zu einer Beerdigungskette wird, aus diesem | |
Bedürfnis heraus, sich nahe sein zu wollen. Ich habe gesagt: Es tut mir | |
leid, aber ich traue mich gerade nicht. Ich will nicht das Gefühl haben, | |
ich sei wie ein Todesengel. | |
Weil es so normal ist, dass man seine Familie gerade nicht sieht, fällt es | |
wahrscheinlich erst nach Corona wirklich auf, wer fehlt. Ich glaube, danach | |
wird das für alle nochmal richtig hart. Man sitzt dann mit der Familie, | |
aber die Tante ist nicht mehr da, und Oma kann man nicht mehr im Altersheim | |
besuchen. | |
Worüber ich viel nachgedacht habe, ist der Umgang mit Trauer generell. Das | |
hat mich wütend gemacht. Ich habe das Gefühl, Trauer spielt bei uns keine | |
Rolle, erst wenn es so weit ist. Mein Bruder und ich haben beide drei Tage | |
gebraucht, bis wir unserem Onkel eine Nachricht geschrieben haben, was | |
eigentlich viel zu lange ist. Wir wussten nicht, was. Ich habe irgendwann | |
angefangen zu googlen, was sich total albern angefühlt hat. | |
Oder auch dieser Mechanismus, zu arbeiten, damit man nicht mehr darüber | |
nachdenkt. Das war bei meinem Vater so, und ich habe das auch gemacht, | |
meine Oma und meine Tante starben kurz vor der wichtigsten Prüfung in | |
meinem Studium. Ich habe bis zum Limit weiter gelernt, bis es gar nicht | |
mehr ging. Und als ich die Prüfung dann hinter mir hatte, sind mir | |
unkontrolliert Tränen gekommen und ich wusste gar nicht so wirklich warum. | |
Ich glaube, dass es manchmal gar nicht so schlecht wäre, wenn man den | |
Anspruch an sich ablegen würde, immer funktionieren zu müssen. Man fühlt | |
sich so allein, man stößt gerade ständig an Grenzen, weil man noch nie mit | |
einer Einsamkeit auf dieser Ebene konfrontiert gewesen ist. | |
Ann-Franziska Mai, Studentin, 23 Jahre alt, aus Köln | |
## Der Vater klagte nicht | |
Mein Vater wohnte in Witebsk. Die Stadt war von Corona schlimm betroffen, | |
am stärksten in ganz Belarus. Fast alle meine Freunde im Land waren | |
infiziert. In Belarus wird wenig getestet, es gibt kaum Schutzmaßnahmen und | |
Einschränkungen. Jeder muss sich um sich selbst kümmern. | |
Ich hatte Sorgen um meine Familie dort. In dem Mehrfamilienhaus, in dem | |
mein Vater lebte, waren schon drei Männer an Covid gestorben. Er hatte auch | |
große Angst, das hat mir meine Schwester erzählt. Mein Vater war kein | |
Mensch, der viel spricht. Er klagte nicht. | |
Anfang Dezember dann bekam mein Vater Fieber. Die Hausärztin sagte nur, er | |
solle Zuhause bleiben. Als seine Frau den Notarzt rufen wollte, kam der | |
nicht – es sei schließlich nur Fieber. | |
Über Bekannte schaffte seine Frau es dann, dass er getestet wurde. Er war | |
positiv. Es ging ihm überhaupt nicht gut und er kam ins Krankenhaus. Drei | |
Wochen konnte ihn dort niemand besuchen. Man konnte ihn nur per Handy | |
erreichen. | |
Er hat Sauerstoff bekommen und wurde schließlich Anfang Januar entlassen – | |
in einem Zustand, in dem er eigentlich kaum gehen konnte. Da habe ich mit | |
ihm telefoniert, es war das letzte Mal, dass wir gesprochen haben. Ich habe | |
schon am Telefon gehört, wie schlecht er Luft bekommt. Aber mein Vater war | |
immer Optimist, er war überzeugt, dass er gesund wird. | |
Schon Dinge wie auf die Toilette zu gehen, kosteten ihn Kraft. Wieder durch | |
Bekannte ist er dann noch mal in eine große Klinik gekommen. Dort sagte die | |
Oberärztin nach einer Computertomografie: „Da ist keine Lunge mehr“. So | |
einen schweren Fall habe sie noch nicht gesehen. | |
Für Belarus war das ein sehr gutes Krankenhaus. Mein Vater hatte ein | |
eigenes Zimmer mit Dusche und Toilette. Die Ärztin, das Pflegepersonal – | |
alle waren sehr gut zu ihm. Ich freue mich, dass er am Ende gut versorgt | |
wurde. „Mir geht es so gut hier, ich möchte gar nicht nach Hause“, hat er | |
mal zu seiner Frau gesagt. | |
Er war schon stabil und brauchte keinen Sauerstoff mehr, da hat er sich im | |
Krankenhaus einen Infekt geholt. Seine Lunge war durch Covid so schwach und | |
auch das Immunsystem, da ging alles ganz schnell. Er kam auf die | |
Intensivstation, sollte wieder an die künstliche Beatmung kommen. Aber er | |
hat den Ärzten gesagt: Ich will selber atmen. Die hatten alle Respekt. Ein | |
Bettnachbar, 36 Jahre alt, war intubiert und ist gestorben, das hat meinen | |
Vater mitgenommen. Er war ja wach und bekam alles mit. | |
Ich stand so unter Spannung. Ich hatte Angst vor dem Handy, weil ich nicht | |
wusste, was da kommt, wenn es klingelt. | |
Als ich von meiner Schwester gehört habe, wie schlecht es ihm geht, habe | |
ich sofort einen Brief geschrieben, eine Karte. Für alle Fälle habe ich sie | |
abfotografiert. Er wäre 73 geworden am 1. März. Am 10. Februar ist er | |
gestorben. | |
Ohne Corona hätte ich meinen Vater im Krankenhaus besuchen dürfen, da hätte | |
ich mich sicher auf den Weg gemacht. Aber jetzt? Selbst wenn ich geflogen | |
wäre, hätte ich nach der Einreise in Quarantäne gehen müssen. Und dann noch | |
einmal nach der Rückreise nach Deutschland. Ich kann mir das finanziell | |
nicht leisten: zwei Wochen Quarantäne. | |
Eigentlich wollte ich voriges Jahr nach Belarus und hatte schon | |
Flugtickets. Aber dann wurden die Grenzen dicht gemacht und alle Flüge | |
gecancelt. | |
In den letzten Tagen, bevor mein Vater starb, bekam seine Frau eine | |
Sondererlaubnis, sie durfte vormittags und nachmittags für eine Minute zu | |
ihm gehen. In Schutzkleidung, auf eigene Verantwortung. „Schau mal, wieviel | |
Kraft ich habe“, hat er ihr anfangs noch gesagt. | |
Als er die Maske nicht mehr halten konnte, wurde er doch intubiert. „Helfen | |
Sie mir!“, das war das letzte, was er gesagt hat. Er hatte wohl Panik | |
bekommen, als sie ihm die Sauerstoffmaske abnahmen, um ihn zu intubieren. | |
Um 2 Uhr nachts ist er gestorben. Seine Frau hat es um 7 Uhr morgens | |
erfahren. Mich hat dann meine Schwester angerufen. Ich habe mich | |
krankgemeldet. | |
In Belarus wird man am nächsten Tag beerdigt. Es gibt dort auch kaum | |
Beschränkungen für Trauerfeiern. Papa wurde in einer orthodoxen Kirche | |
aufgebahrt und dort wurden ganze Nacht Gebete gesprochen und viele Menschen | |
kamen, um sich zu verabschieden. Nur manche blieben aus Angst weg. | |
Ich konnte nicht Abschied nehmen. Meine Schwester habe ich gebeten, dass | |
sie für mich ein paar Fotos macht. Sie sagte mir, zu welcher Zeit sie in | |
der Kirche sein würde, so dass ich hier auch zur selben Zeit eine Kirche | |
ging. | |
Es war eine katholische Kirche, ich habe Kerzen aufgestellt und gebetet. In | |
der orthodoxen Kirche gibt es ein besonderes Gebet für den verstorbenen | |
Vater, das wird vierzig Tage jeden Tag gebetet. Das habe ich gemacht. Ich | |
habe zu Hause Fotos von uns auf den Tisch gestellt, Kerzen, Blumen. | |
Den letzten Brief, den ich meinem Vater geschrieben hatte, hat meine | |
Schwester ihm am offenen Sarg vorgelesen und mit ins Grab gelegt. Das war | |
für mich ein gutes Gefühl, dass ihn die Worte noch erreicht haben. | |
Jeanne Adamowitsch, Kunsttherapeutin, 50 Jahre alt, aus Mönchengladbach | |
## Da war Trauer, aber vor allem Wut | |
Ich kann nur mit angezogener Handbremse erzählen, das muss ich gleich | |
sagen. Es fällt mir noch sehr schwer. Ich habe meinen Vater verloren, er | |
war erst Mitte 60. | |
Ende letzten Jahres ist es passiert, der zweite Lockdown war gerade | |
losgegangen. Als mich mein Bruder anrief, an einem Donnerstag, wusste ich | |
komischerweise sofort: Es ist etwas mit dem Vati. Mein Bruder sagte, dass | |
er in der Nacht verstorben sei. Das war erst einmal die Information, die | |
ich aufnehmen musste. | |
Man hat ihn zuhause gefunden, er muss schon Stunden tot gewesen sein. Sein | |
Zustand war sehr schlimm. Und dann der Zusammenhang mit Corona. Seine | |
Lebenspartnerin war positiv getestet, ihr ging es sehr schlecht. Sie hatte | |
hohes Fieber, war ins Bett gegangen und hatte ihn deshalb erst in der Nacht | |
gefunden. Auch mein Vater hatte schon starke Symptome. Der Notarzt ging | |
aufgrund der Schilderung davon aus, dass er Corona hatte. Also haben sie | |
ihn nicht einmal angefasst, sondern er wurde in eine Tüte gesteckt und | |
mitgenommen. Ich bin direkt hingefahren, aber auch wir durften ihn nicht | |
noch einmal sehen. Diese erste Woche, das Bewusstsein, dass er irgendwo in | |
einer Tüte liegt … | |
Wir hatten das Thema Corona immer wieder. Mein Vater gehörte zur | |
Risikogruppe, hatte Vorerkrankungen. Ich habe ihn angefleht, dass er | |
aufpassen soll. | |
Man muss dazu sagen, dass er aus einer Gegend kommt, in der Corona lange | |
Zeit nicht angekommen ist, viele Leute haben sich nicht an die Regeln | |
gehalten, das Ganze abgetan. Mein Vater hatte zwar Respekt vor der Sache, | |
aber er war auch immer schon in Richtung Verschwörungstheorien unterwegs | |
gewesen, hat allen möglichen Sachen aus dem Internet geglaubt. Es gibt | |
Verwandte, die bis heute leugnen, dass mein Vater mit Corona gestorben ist. | |
Ich habe den Bestatter dann angefleht, dass ich wenigstens den Sarg noch | |
einmal sehen darf, bevor er verbrannt wird. Immer wieder habe ich ihn | |
angerufen, schließlich konnten mein Bruder und ich tatsächlich in einer | |
Trauerhalle am Sarg zusammenkommen und positive Erinnerungen an unseren | |
Vater teilen. Bis zur Beerdigung zogen sich dann Monate hin und bis zuletzt | |
war nicht klar, wann es möglich sein wird, uns in einem Rahmen zu | |
verabschieden, der für mich und meine Geschwister angemessen ist. Diese | |
offene Stelle, der fehlende Abschied, das hat mir Schmerzen bereitet. | |
Da war Trauer, aber vor allem Wut. Ich bin mehrmals in den Heimatort meines | |
Vaters gefahren. Ich habe im Auto nur geschrien. Ich habe mit ihm | |
geschimpft. Ich war so wütend auf ihn, weil er nicht aufgepasst hat, weil | |
er sich doch mit Menschen getroffen hat, weil er es am Ende nicht ernst | |
genommen hat. Ich denke, er wusste, dass er Corona hatte. Aber er wollte es | |
einfach nicht wahrhaben, weil dann hätten die anderen ja doch recht gehabt. | |
Ich war so wütend und das war am Anfang gepaart mit ganz schlimmer Angst. | |
Mein Bruder und ich hatten den Ort gereinigt, an dem er mehrere Stunden | |
gelegen hatte, das war sehr traumatisch. „Warum hast du das denn gemacht“, | |
haben viele Leute gefragt. Aber wer hätte es denn machen sollen? Es traute | |
sich doch keiner mehr, das Haus zu betreten. Und auch ich hatte Angst, ob | |
ich mich angesteckt haben könnte. Furchtbare Angst. Mit dem Bild vor Augen, | |
was passieren kann. | |
Dann folgte Weihnachten und das neue Jahr und ich hatte Probleme, das | |
überhaupt zu begreifen. Ich hatte immer wieder Momente, wo ich das Telefon | |
nehmen wollte, ihm was erzählen, Weihnachten planen. Die Momente gibt es | |
immer noch. Und dann muss ich mir sagen, halt, er ist jetzt nicht mehr da. | |
Er ist nicht mehr da. | |
Trauer im Lockdown war superschwierig. Mit kleinen Kindern zuhause. Man hat | |
keine Möglichkeit, sich mal zurückzuziehen. Mal richtig zu weinen, es | |
rauszulassen. Man konnte nirgendwohin, es konnte niemand kommen. Ich hatte | |
meine Kinder da und ich wollte ihnen auch keine Angst machen. Und dann | |
erzählst du Leuten, dass dein Vater gestorben ist und sofort kommt die | |
Frage: An Corona? Irgendwie verständlich, aber das war wie so eine | |
Attraktion. Was? Wirklich Corona? Da ging es mehr um Neugier, als darum, | |
wie es mir damit geht. Das hat mich wütend gemacht. | |
Eigentlich bin ich gar nicht diejenige, die Trauer oder Schmerz teilt. Aber | |
hier habe ich mich irgendwann entschieden, genau das zu tun. Ich habe | |
Freunde angerufen und gesagt, hey, mein Vati ist gestorben. Ich habe auch | |
über die schlimmen Details geredet, die mich so belasteten. Am Anfang hatte | |
ich deswegen ein schlechtes Gewissen. Aber genau das hat mir gut getan. Und | |
auch meine Freunde haben gesagt, ja lass das raus, friss das nicht in dich | |
rein. Ich habe die Trauer mit vielen geteilt, das hätte ich sonst | |
vielleicht nicht gemacht. Aber in diesem Lockdown, in dieser Isolation: es | |
hätte ja nicht mal jemand gemerkt, was mir passiert ist. | |
Die Frage, ob das mit meinem Vater passieren musste, ist eine, die ich | |
beginne auszublenden. Es wurde an vielen Stellen zu spät reagiert, es gab | |
viel Verantwortungslosigkeit. Und es gibt sie immer noch. Aber ich kann | |
mich damit nicht auseinandersetzen, ich will die Wut darauf nicht | |
weitertragen. Ich meide diese Gedanken, aber weg sind sie nicht. Das ist | |
nur eine ganz dünne Schicht. | |
Christiane Zimmer (Name geändert), Mitte 30 | |
18 Apr 2021 | |
## AUTOREN | |
Luise Strothmann | |
Marius Ochs | |
Manuela Heim | |
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