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# taz.de -- Zum Tod von Paul Auster: Er erzählte die Wirklichkeit
> Der US-Schriftsteller Paul Auster wurde mit fast fliegenden wie
> abgründigen Geschichten berühmt. Am Dienstag ist er im Alter von 77
> Jahren gestorben.
Bild: Schreiben als Weg, die Welt zu durchdringen: der Autor Paul Auster (1947-…
Der Zufall spielt in seinen Büchern eine große Rolle – so auch in dem
letzten Essay aus dem Band „Die Kunst des Hungers“, der programmatisch den
Titel „Warum schreiben?“ trägt. Tja, warum? Wer hier eine ernste Abhandlung
über Schriftstellerei erwartet, wird enttäuscht. Wer sich aber interessiert
für ein federleichtes Spiel über das Leben, die Zeichen und die
Möglichkeiten, beides zu beschreiben, der wird an dieser Stelle belohnt, so
wie in so vielen Romanen des Schriftstellers Paul Auster.
Tatsächlich beschreibt Auster in diesem Text nur fünf große Zufälle.
Einmal, das ist der letzte Zufall, trifft er als Achtjähriger sein
Baseballidol Willie Mays, den er um ein Autogramm bittet. „Sicher, Junge,
sicher“, sagte dieser. „Hast du was zum Schreiben? “ An so einer Stelle
sieht man schon: Für solche lakonischen, aber auch genau von den
tatsächlichen Sprechweisen realer Menschen abgehörten Dialogsätze hatte
Paul Auster ein gutes Händchen.
Aber der kleine Paul Auster hatte in diesem Augenblick keinen Stift bei
sich, also bekam er auch kein Autogramm. Der Text geht dann so weiter, dass
er von da an immer einen Bleistift in der Tasche hatte und ihn dann
irgendwann eben auch für seine Bücher benutzte. Der letzte Satz: „Wie ich
meinen Kindern gern erzähle, bin ich auf diese Weise zum Schriftsteller
geworden.“
Das ist eine dieser literarisch fast fliegenden wie gleichzeitig auch
abgründigen Geschichten, für die der Schriftsteller Paul Auster sehr
berühmt geworden ist.
## Mit New York blieb er immer verbunden
Spätestens auf den zweiten Blick ist es auch ein Satz, der mit Wahrheit und
Fiktion, dem echten und dem ausgedachten Leben spielt. Und bei dem es dann
gar nicht darauf ankommt, ob die erzählte Episode nun tatsächlich
stattgefunden hat oder ausgedacht ist. Denn es steht ja ausdrücklich da:
Die Sache mit dem fehlenden Bleistift ist die Geschichte, die der Autor
seinen Kindern „gern erzählt“. Ob sie stimmt? Ist dann gar nicht wirklich
wichtig.
Tatsächlich aber hat Paul Auster in seinem realen Leben selbstverständlich
viel größere Anstrengungen unternommen, um der bekannte, vielleicht sogar
weltberühmte Schriftsteller zu werden, der er dann geworden ist. Geboren
wurde Paul Auster am 3. Februar 1947 in Newark, New Jersey, als Sohn einer
kleinbürgerlichen jüdischen Familie. Er wuchs in bescheidenen Verhältnissen
auf. Seine Großeltern väterlicherseits waren zwei Generationen zuvor aus
Stanislau in Galizien (dem heute ukrainischen Iwano-Frankiwsk)
eingewandert; auch seine Mutter hatte ukrainisch-polnische Vorfahren. 1968
begann er an der Columbia-Universität in New York Literatur zu studieren.
Der Stadt blieb Paul Auster ein Leben lang verbunden.
Während in den USA die Proteste gegen den Vietnamkrieg tobten, ging er für
drei Jahre nach Paris, um dort der Literatur der Moderne und der Boheme nah
zu sein. Celan, Kafka, Dostojewski, Artaud, die Surrealisten, Dada, alles
hat er verschlungen. Für eine Zeit war er der Privatsekretär von Samuel
Beckett, einem seiner großen Vorbilder.
Er hat in dieser Zeit aber auch mit sehr wenig Geld gelebt. „Von der Hand
in den Mund“ heißt ein autobiografischer Text, in dem Paul Auster recht
ironisch von diesen schwierigen Anfängen erzählt. Sie haben ihn zu einer
beeindruckenden literarischen Karierre geführt. Den Literaturnobelpreis hat
er zwar nicht bekommen, dafür viele andere Auszeichnungen und Ehrungen wie
den Prinz-von-Asturien-Preis und den Prix Médicis étranger; er war Ritter
der französischen Ehrenlegion, hatte zwei Amtszeiten lang den
stellvertretenden Vorsitz des amerikanischen PEN inne.
## Hustvedt und Auster: Power Couple des Schreibens
Mit seiner Ehefrau, [1][der Autorin Siri Hustvedt], bildete er ein Power
Couple des Schreibens, das über ihre Bücher hinaus immer auch die Fantasie
angeregt hat: Porträts entstanden, Filme wurden über sie gedreht. Dass zwei
so herausragende Künstler*innen in so enger Lebens- und auch
Arbeitspartnerschaft standen – und, auch das gehört zum Bild, dabei so
dermaßen gut aussahen –, gibt es ja nicht allzu oft. 1980 zog er mit
Hustvedt in den damals noch nicht hippen und intellektuellen Stadtteil
Brooklyn.
Berühmt wurde Paul Auster mit den drei schmalen Romanen seiner „New York
Trilogie“. Wer am Ende des letzten Jahrhunderts hierzulande
Literaturwissenschaft studierte und dabei der sogenannten Postmoderne auf
den Grund gehen wollte, kam um sie nicht herum.
Diese von Privatdetektiven bevölkerten und vor dem Hintergrund der
quirligen, tobenden Großstadt spielenden Romane sind faszinierende
Metaerzählungen, die als Detektivgeschichten durchaus funktionieren, aber
nicht aufgehen, weil sie gleichzeitig auch die Aufmerksamkeit darauf
lenken, wie Geschichten erzählt werden und damit Wirklichkeit konstruieren.
Wechselnde Identitäten, Kriminalfälle, in denen nicht die Aufklärung,
sondern die Darstellung existenzieller Probleme im Vordergrund steht,
Figuren, die nach Farben benannt werden – ein Wirbel an Einfällen, genauen
Dialogen und überraschenden Einwendungen, in den man sich lesend verlieren
kann.
16 Romane publizierte Paul Auster insgesamt, dazu zahlreiche essayistische
Arbeiten, Gedichte und Sachbücher. „Mond über Manhattan“, „Die Musik des
Zufalls“, „Leviathan“, „Mr. Vertigo“ wurden große Erfolge, in Europa…
noch mehr als in den USA. Filme machte er auch. Für „Smoke“ und „Blue in
the Face“ schrieb er das Drehbuch, bei „Lulu on the Bridge“ führte er
Regie.
## Auster nannte Trump „das Monster“
[2][Sein Roman „Sunset Park“] wurde dann 2012 von der Literaturkritik ganz
zu Recht als Versuch einer Neuerfindung als Autor verstanden. Weniger
Metaspiele, mehr Realismus. Paul Auster wendete sich hier einer
realistischen Schreibweise zu und beschrieb ein Amerika, das in die
Immobilienkrise gerutscht war und viele Familien bis an den Rand der
Existenz brachte.
Als sein Hauptwerk gilt vor allem der 2017 erschienene Roman „4 3 2 1“. In
jedem der sieben Kapitel dieses 1.259-Seiten-Schmökers werden
hintereinander vier verschiedene Versionen von Lebensabschnitten des jungen
Archie Ferguson ausgebreitet. Sie verlaufen unterschiedlich, weil sich die
Dinge zufällig ereignen: Mal verarmt seine Familie, mal wird sie
steinreich, mal stirbt der Vater früh.
[3][Als er das Buch auf einer Lesung in Berlin vorstellte], erzählte
Auster, dass er den Roman, in dem es auch um die amerikanische
Bürgerrechtsbewegung der Sechziger geht, noch unter Barack Obama als
US-Präsidenten begonnen habe, dann mit ihm aber unter Donald Trump
aufgewacht sei. An seiner Abneigung gegen Trump hat Auster nie einen
Zweifel gelassen. Zusammen mit Siri Hustvedt rief er öffentlich zum
Widerstand gegen diesen Präsidenten auf, den er „das Monster“ nannte. Er
fürchtete um die Demokratie und war bei der Wahl 2020 Mitbegründer einer
Initiative „Writers against Trump“.
Das klang alles besorgt und alarmiert, war es auch, sollte aber nicht das
letzte Wort in dem Leben dieses Autors werden. Erst vor einigen Monaten,
Ende vergangenen Jahres, [4][erschien noch der Roman „Baumgartner“], in dem
es um letzte Dinge und ernste Themen geht – Altwerden, Abschiednehmen,
Krankheiten. Ein Buch, das man als doppeltes Vermächtnis verstehen kann –
als Geschichte über das Sterben und als letzte Hommage an die Wichtigkeit
des Erzählens.
Im Laufe seiner langen Karriere als Schriftsteller hat Paul Auster dabei
immer auch ernsthaftere Antworten auf die Frage „Warum schreiben?“ gegeben
als die Episode mit dem Bleistift; viele von ihnen kursieren jetzt,
gepostet von Fans in den sozialen Medien. „Der wahre Sinn der Kunst liegt
nicht darin, schöne Objekte zu schaffen. Es ist vielmehr eine Methode, um
zu verstehen. Ein Weg, die Welt zu durchdringen und den eigenen Platz zu
finden“ liest man da etwa.
Am 30. April ist Paul Auster nach einer Krebserkrankung im Alter von 77
Jahren in New York gestorben.
1 May 2024
## LINKS
[1] /Essayband-von-Siri-Hustvedt/!5575579
[2] /Sunset-Park-von-Paul-Auster/!5088048
[3] /Paul-Auster-Audienz/!5389913
[4] /Paul-Austers-neuer-Roman-Baumgartner/!5978993
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Schriftsteller
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