| # taz.de -- Baseballschlägerjahre in Wernigerode: „Das waren die 90er Jahre,… | |
| > Kurz nach der Wende war Wernigerode eine rechtsextreme Hochburg. Unser | |
| > Autor wurde 1997 dort geboren und wusste lange nichts über diese Zeit. | |
| > Eine Spurensuche zu den Punks und Nazis von einst. | |
| Bild: Wernigerode 1994, Mitglieder des „Jugendbund e.V.“ im von rechten Gla… | |
| Als meine Mutter im Frühjahr 2022 ihren 50. Geburtstag feiert, sehen wir | |
| uns gemeinsam mit meinem Vater in ihrem Haus in Wernigerode alte Fotos an. | |
| Ich entdecke eines, von dem ich zunächst glaube, dass ich darauf zu sehen | |
| bin. Doch es ist mein Vater, Anfang der 90er Jahre. Schließlich entwickelt | |
| sich daraus ein Gespräch über den 20. Geburtstag meiner Mutter. | |
| Es war der 25. April 1992. [1][Ein Tag, an dem eine ganze Horde Neonazis | |
| nach einem Rechtsrockkonzert durch die Stadt stürmte], erzählen meine | |
| Eltern nebenbei. Meine Mutter feierte währenddessen mit ihren | |
| Schulfreund:innen etwas abseits der Stadt. | |
| „Ich weiß gar nicht, warum ich nicht bei deiner Party war …“, sagt mein | |
| Vater, während er die weiteren Fotos durchsieht. | |
| „Weil ich dich nicht eingeladen habe“, antwortet meine Mutter. | |
| „Das stimmt doch gar nicht.“ | |
| „Doch!“ | |
| „Neonazis in Wernigerode?“, frage ich, um das wirklich Erstaunliche hier zu | |
| klären. | |
| ## Diese heute so biedere Fachwerkstadt | |
| Eigentlich sollte ich nicht überrascht sein. Dass es im Osten Deutschlands | |
| haufenweise Rechtsextreme gab und gibt, ist nun wirklich nichts Neues. | |
| Gerade in den neunziger Jahren. Genauso wenig verblüffend ist es, dass sich | |
| damals überall Linksautonome als politisches Gegengewicht mobilisierten. | |
| Aber in Wernigerode? Dieser heute so biederen Fachwerkstadt, die, seit ich | |
| denken kann, vor allem von Tourist:innen und Rentner:innen bevölkert | |
| ist? | |
| „Aron, früher war hier jeden Tag 1. Mai“, sagt mein Vater aufgeregt und | |
| erzählt von rechten Jugendlichen mit Baseballschlägern, von Linken, die | |
| diese bekämpften und in einem besetzten Haus lebten – dem Schlachthof, den | |
| es heute nicht mehr gibt. | |
| Warum wusste ich so gar nichts davon? | |
| Der Geschichtsunterricht meiner Schulzeit endete mit dem Mauerfall und | |
| Bildern von Menschen, die mit Deutschlandfahnen durch DDR-Städte liefen. | |
| Danach war Schluss. Kein Wort über Neonazis im wiedervereinigten | |
| Deutschland. Ich will mehr über die Rechtsextremen in Wernigerode und | |
| dieses gut 30 Jahre zurückliegende Neonazikonzert wissen. | |
| Alles geht auf einen Mann und Veranstalter zurück, der nach dem Konzert | |
| häufiger Gast der Stadt sein wird: [2][Thorsten Heise]. Ein immer noch | |
| aktiver [3][militanter Neonazi], Veranstalter von Rechtsrockkonzerten in | |
| Thüringen [4][und Freund von Björn Höcke]. Damals ist Heise 23 Jahre alt | |
| und einer der Köpfe der 1995 verbotenen rechtsextremen Freiheitlichen | |
| Deutschen Arbeiterpartei (FAP). So erzählt es mir | |
| [5][Rechtsextremismusexperte David Begrich]. | |
| Über 600 Neonazis aus unterschiedlichen Städten folgen an diesem Tag seiner | |
| Einladung. Sie treffen sich im Gasthof Salzbergtal, grölen Songzeilen der | |
| Bands Tonstörung („Blut muss fließen knüppeldick“) und Kraftschlag („S… | |
| Punks“). Und laufen, angestachelt durch Musik und Alkohol, auf den | |
| Schlachthof zu. Sie wollen ihn stürmen. Doch um das besetzte Haus hat sich | |
| eine Polizeikette gebildet, die die Nazis abhält. | |
| Dieses Konzert ist nicht irgendein Konzert. Vielmehr ist es der Beginn | |
| einer Zeit, in der Wernigerode zu einer Hochburg der FAP wird, wie der | |
| Soziologe und Publizist Eberhard Seidel 1995 in „Stinos, Glatzen und | |
| Trinker: Jugend auf der Suche nach neuen Normen und Umgangsformen“ | |
| schreibt. Allein im Jahr 1992 werden mehr als zehn Anschläge auf | |
| Asylbewerber:innen im Umkreis der Stadt verübt. | |
| ## Bücher zu den Neunzigern | |
| Mein Vater, damals gelegentlich Besucher des besetzten Hauses, versucht | |
| Kontakte für mich herzustellen. Er verließ Wernigerode nach dem Abitur im | |
| Jahr 1990, wie auch meine Mutter, kehrte jedoch Anfang der 2000er mit der | |
| Familie – mit mir – zurück. Er lebt bis heute dort, während ich seit 2016 | |
| in Berlin lebe. Erst seit Kurzem erforsche ich, wie so viele | |
| Nachwendekinder, welche Rolle der Osten in meinem Leben spielt. | |
| Meist beschränkt sich das auf die DDR-Zeit. Von der Zeit danach habe ich | |
| kaum eine Vorstellung. Meine Eltern können dazu nichts sagen, sie waren in | |
| den Neunzigern nicht vor Ort. Klar, da sind Bücher, die ich gelesen habe, | |
| [6][„Wir waren wie Brüder“ von Daniel Schulz] oder „[7][Aus unseren Feue… | |
| von Domenico Müllensiefen]. Doch Wernigerode kommt darin nicht vor. | |
| Die meisten Zeitzeug:innen aber leben ja noch hier. Ich will mit ihnen | |
| sprechen. Wie fühlte es sich an, in diesem komplett umgekrempelten Land | |
| erwachsen zu werden? Was hat im Osten vor und während meiner Kindheit | |
| stattgefunden? Wie konnte es zu den Gewaltexzessen kommen? | |
| Über die Linksautonomen finde ich recht schnell heraus, wer früher zu den | |
| Neonazis der Stadt gehörte. Ich rufe diese an. Es fühlt sich komisch an, | |
| bei ehemaligen Neonazis anzurufen. Die meisten seien „selbstverständlich“ | |
| auf dem Konzert gewesen, könnten aber nicht darüber reden, sagen sie mir. | |
| Nicht einmal anonymisiert. | |
| Irgendwann schickt mir mein Vater eine Nummer aus seiner Kontaktliste: Maik | |
| – einer der Urbesetzer des Schlachthofs. Er sei nicht nur bereit zu | |
| sprechen, sondern habe darüber hinaus auch Kalle zu sich eingeladen, um mir | |
| etwas über die Zeit vor 30 Jahren zu berichten. Der große Vorteil: Kalle | |
| und er seien heute gute Bekannte, damals aber sei Kalle bei den Rechten | |
| gewesen. Beide heißen in Wirklichkeit anders, sie wollen nicht mit ihrem | |
| Namen genannt werden. | |
| Auch alle anderen Personen wollen nur mit mir sprechen, wenn sie in dieser | |
| Geschichte anonym bleiben. Ich willige trotzdem ein. Vieles, was sie mir | |
| erzählen, lässt sich durch das Stadtarchiv, durch Zeitungsberichte oder | |
| Ausgaben des [8][Antifaschistischen Infoblatts] prüfen. Andere | |
| Darstellungen bleiben Behauptung – vollständig verifizieren kann ich sie | |
| nicht. | |
| ## Ein drahtiger Mann mit langem braunem Haar | |
| An Maiks Haustür hängt heute ein Schild, auf dem eine Persiflage der | |
| Antifa-Flagge zu sehen ist. „Prokrastinistische Aktion“, steht darauf. Als | |
| ich klingele, öffnet mir ein drahtiger Mann mit langem braunem Haar und | |
| Trainingsanzug. | |
| Hinter ihm steht eine weitere Person, die sich nicht als Kalle, sondern | |
| Anja vorstellt – eine mittelgroße Frau mit blonden Locken. Maik hatte auch | |
| sie eingeladen. Vor 30 Jahren war auch sie Stammgast im besetzten Haus. Wer | |
| nicht da ist: Kalle. „Er musste absagen, sein Sohn ist krank“, sagt Maik. | |
| Maik arbeitet seit einiger Zeit im Tourismusbereich. Anja ist | |
| Sozialpädagogin. Beide sind Anfang 50. Es riecht nach Räucherstäbchen, | |
| überall im Haus stehen Buddhafiguren. „Meinen Baseballschläger habe ich | |
| noch“, erzählt er, als wir über die Kämpfe zwischen Punks und Nazis | |
| sprechen. | |
| Wir reden über das Konzert. | |
| „Wir waren gewohnt, dass Nazis in der Stadt waren. Aber so viele auf einem | |
| Haufen wie an dem Tag hatten wir noch nicht gesehen.“ – „Ich weiß noch, … | |
| für eine scheiß Angst ich damals hatte“, sagt Anja leise. | |
| ## Die Regierung hat keine Ahnung | |
| Als ich ins Behördenarchiv schaue, sehe ich, dass Faschismusbekämpfung | |
| schon damals nicht zu den Stärken der Regierung Sachsen-Anhalts gehörte. In | |
| einer Antwort auf eine Kleine Anfrage des Landtagsabgeordneten Gerd | |
| Schuster von der PDS im September 1992, ob der Regierung erstens klar wäre, | |
| dass die FAP gerade dabei wäre, ein echtes neonazistisches Zentrum in | |
| Wernigerode aufzubauen, was man zweitens jetzt tun müsste und ob es | |
| drittens noch weitere Problemherde dieser Art gäbe, erklärte die | |
| Landesregierung zu Punkt eins, nichts zu wissen, verwies zu Punkt zwei auf | |
| Punkt eins und erklärte überdies, keine Ahnung von weiteren Neonazizentren | |
| zu haben. | |
| Aber als das Konzert im April 1992 stattfindet, hat die Polizei wohl eine | |
| Vorahnung. Jedenfalls will sie die Neonazis vom Schlachthof fernhalten. „In | |
| dem Moment haben wir uns gut mit den Cops verstanden. ‚Wenn ihr uns | |
| schützt, benehmen wir uns natürlich‘, haben wir ihnen gesagt“, erklärt | |
| Maik. Und weiter: „Wir haben auch mal als Erste zugeschlagen, klar. Wenn du | |
| immer wieder von Faschos angegriffen wirst, dann wirst du irgendwann | |
| aggressiv.“ | |
| „Krass, dass sich dieses Links-gegen-rechts überhaupt wieder beruhigt | |
| hatte“, sagt Anja. | |
| Aber wie kam es dazu? | |
| Irgendwann wären eben alle älter geworden. Irgendwann hätte es Technopartys | |
| im Schlachthof gegeben, irgendwann hätten alle Ecstasy entdeckt, und | |
| irgendwann hätten die Neonazis unter diesen Umständen gern mit den | |
| Linksautonomen gefeiert. | |
| „Wie bitte?“, frage ich. | |
| „Nur wenn die Rechten friedlich waren, durften sie auch mitfeiern“, sagt | |
| Maik. | |
| Bis zu ihrem Verbot 1995 kann die FAP in Wernigerode weiter Fuß fassen. | |
| Durch die Partei radikalisieren sich viele Jugendliche. Die Stadt immerhin | |
| merkt, dass sie etwas tun muss. Die „Lösung“: Sie gibt den linksautonomen | |
| Hausbesetzer:innen feste Wohnungen. Und den Rechtsextremen einen | |
| Jugendclub zum Musikmachen und als Freizeittreff: den Harzblick. | |
| Vielerorts wird die sogenannte akzeptierende Jugendarbeit praktiziert – | |
| dieses Modell war schon für die Sozialarbeit mit Suchtmittelabhängigen | |
| anerkannt, in den Neunzigern wird es im Osten auch bei Rechtsextremen | |
| angewendet. Manche Kids kommen erst in den Jugendtreffs in Berührung mit | |
| der Naziszene. | |
| Der Schlachthof fungiert nur noch als linkes Veranstaltungszentrum. | |
| [9][1994 zünden Neonazis das Gebäude an, es brennt nieder.] Es ist niemand | |
| im Haus, Verletzte gibt es nicht. Die Täter bezeichnen es als Racheakt an | |
| den Linken. | |
| Über meinen Vater lerne ich auch Fabian kennen. Fabian lebt bis 1994 in | |
| Wernigerode, ehe er zum Studium nach Berlin geht. Wir treffen uns in einer | |
| Kneipe in Leipzig, wo Fabian heute lebt. Er trägt ein Jackett, sein Haar | |
| ist adrett kurz geschnitten und gegelt. Damals habe er zerfranstes Haar | |
| gehabt, Jeansjacke getragen, einen Aufnäher mit durchgestrichenem | |
| Hakenkreuz darauf. | |
| ## Der schnellste Sprint | |
| Am Tag des Konzerts im Salzbergtal ist er 16 Jahre alt. Eigentlich will er | |
| an dem Tag ein anderes Konzert – das eines Schulchors – besuchen. „Als die | |
| Faschos mich an dem Tag entdeckt haben, habe ich den schnellsten Sprint | |
| meines Lebens hingelegt“, sagt er. „Wir waren nur blasse, dünne | |
| Gymnasiasten. Ich bin aber irgendwann nur noch mit meiner | |
| Schreckschusspistole und einem Butterflymesser aus dem Haus gegangen.“ | |
| Am Tag des Konzerts hätten die Nazis ihn überfallen. „Als ich dann Anzeige | |
| bei der Polizei gestellt habe, hat mich der Polizist, der die Anzeige | |
| aufnahm, angeschaut und fast väterlich zu mir gesagt, dass ich mich doch | |
| besser unauffälliger kleiden solle; so sei es doch kein Wunder, dass so | |
| etwas passiere.“ Fabian erzählt von der Überforderung der Erwachsenen | |
| damals. Die Ausschreitungen „der Jugend“ bekommen sie zwar mit, doch sie | |
| können sich kaum in deren Lebenswelten hineinversetzen. | |
| „Insgesamt war das einfach auch die Folge eines gewaltigen | |
| Staatsversagens“, sagt er, als wir die Kneipe verlassen. | |
| In der Zeit, als Fabian und ich uns zum ersten Mal treffen, erscheinen kurz | |
| nacheinander drei Bücher zu den sogenannten Baseballschlägerjahren, | |
| darunter jene von Schulz und Müllensiefen. Schon zwei Jahre zuvor zeigt die | |
| Journalistin und Soziologin [10][Katharina Warda in ihrem Essay „Der Ort, | |
| aus dem ich komme, heißt Dunkeldeutschland“] auf, wie es war, als Schwarze | |
| Person in der ostdeutschen Provinz groß zu werden. Sie wurde 1985 in | |
| Wernigerode geboren, sie war früher Punk. | |
| Mir erzählt sie, wie sie so gut wie keinen Schutzraum gehabt und sich jeden | |
| Tag potenziell in Lebensgefahr gebracht hätte, sobald sie das Haus | |
| verlassen hätte. Als Ecstasy angeblich die Baseballschlägerjahre beendet | |
| haben soll, lebte sie nicht mehr in Wernigerode. „Die Neonazis können | |
| einfach über all das sprechen, weil sie keine großen Konsequenzen zu | |
| befürchten haben“, sagt sie mir am Telefon. Und: Wer nicht entschlossen und | |
| dezidiert aussteige, sei für sie auch „nicht richtig raus“. | |
| Ende 2019 kursiert der Hashtag #baseballschlägerjahre erstmals im Netz. | |
| Zahlreiche Erfahrungsberichte folgen, in denen über rechten Terror im Osten | |
| berichtet wird. Für mich bleibt die Gewalt immer noch schwer zu greifen. | |
| Ihre Selbstverständlichkeit, ihre Allgegenwart. Wieso manifestierte sich | |
| der Hass in kleinen, scheinbar idyllischen Städten wie Wernigerode, wo | |
| jede:r jede:n kennt? Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, wie ein | |
| paar Leute, die ihr ganzes Leben in der gleichen kleinen Stadt verbringen, | |
| sich auf einmal dazu entscheiden, jene Menschen, mit denen sie noch ein | |
| paar Jahre zuvor die Schulbank gedrückt haben, zu verprügeln. | |
| ## Hakenkreuzflaggen und Bomberjacke | |
| Sommer 2023, die Recherche zieht sich. Ich rufe Kalle wieder an. Wieder | |
| vereinbaren wir ein Treffen. Und wieder sagt er kurzfristig ab. Maik ist | |
| nicht erstaunt, als ich ihm davon erzähle. Er schlägt mir jemand anderen | |
| vor, mit dem ich mich treffen könne: Sven. Der war damals bei den Faschos, | |
| dann regelmäßiger Gast auf Technopartys. | |
| Ich treffe Sven in seinem Haus in Wernigerode, auch Maik ist dabei. Sven | |
| ist spindeldürr, trägt ein weißes-T-Shirt, Shorts und Badelatschen. An | |
| seinen Wänden hängen Sauerteigrezepte, Sinnsprüche wie: „Alles ist | |
| verbunden. Trage die Botschaft weiter“, und wieder stehen Buddhafiguren | |
| rum. | |
| Sven ist 13, als er beim Salzbergtal sein erstes „Glatzenkonzert“ besucht. | |
| Wie es dann weiterging? „Ziemlich wild“, sagt er, sieht zu Maik. Beide | |
| beginnen zu lachen. Sven war immer dabei, wenn es zu Schlägereien zwischen | |
| links und rechts in der Stadt kam, aber eher in der zweiten Reihe. Auch | |
| habe er keine echte Faschoideologie verfolgt – dass ihm in der DDR nicht | |
| alles über den Zweiten Weltkrieg erzählt wurde, dass sein Opa der liebste | |
| Mensch war und so weiter, das habe er schon geglaubt. Sven rasiert sich zu | |
| dieser Zeit den Kopf, hat Hakenkreuzflaggen und Bomberjacken im | |
| Kinderzimmer. Mehr als Provokation, wie er sagt. | |
| Mir fällt es schwer, das zu glauben. Aber seinen Nazilifestyle beschreibt | |
| Sven ausführlich und genau. Natürlich habe er auch den Hitlergruß gemacht, | |
| der habe dazugehört. „Die Polizei hier in Wernigerode war aber von allem | |
| überfordert“, sagt Sven. Maik nickt: „Ja, das haben wir alle ausgenutzt. | |
| Auch wenn wir uns von unserer Seite so einen politischen Anstrich gaben, | |
| ging es da auch um das Adrenalin – das war schon ’ne geile Droge“, sagt e… | |
| Die beiden lachen. | |
| Ich konfrontiere sie mit den rassistischen, gewaltgeilen Texten, die da auf | |
| den Konzerten gesungen wurden. „Man ist da irgendwie reingerutscht. Das | |
| darfst du nicht so engstirnig sehen. Du hattest hier nur die Wahl, links | |
| oder rechts zu sein, wenn du irgendwie anders sein wolltest.“ | |
| „Wieso wolltest du anders sein?“ | |
| „Na, das will doch jeder, oder nicht?“, sagt er, sieht mich an und beginnt | |
| zu grinsen. „Oder willst du so der grobe Durchschnitt sein?“ | |
| Sven hatte damals noch ein anderes soziales Umfeld als die | |
| Rechtsextremen. „Zum Glück!“, sagt er heute. Er sei nur bei den | |
| „gemäßigteren“ Rechten im Jugendclub Center gewesen. | |
| Immer wieder beginne ich einen Satz, bringe ihn nicht zu Ende, entschuldige | |
| mich für die Fragen, bevor ich sie überhaupt stelle. Dann frage ich ihn, ob | |
| er auch Ausländer:innen gejagt habe. Er schüttelt den Kopf. So sei es | |
| nur bei den „richtigen Faschos“ zugegangen. | |
| Ich weiß nicht, was die Unterscheidung zwischen „richtigem Fascho“ und | |
| „gemäßigt“ überhaupt bedeuten soll. Und vor allem, wieso man als | |
| Jugendlicher mit den Neonazis rumhängen wollte, von denen jeder wusste, | |
| dass sie herumzogen und Menschen verdroschen, weil sie anders aussahen. | |
| Eine [11][Spiegel-TV-Reportage aus dem Jahr 1993, die über die ständigen | |
| Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten in Wernigerode berichtet, | |
| zeigt einen speziellen Fall]. Ein Mann, völlig normal und unauffällig | |
| gekleidet, läuft durch die nächtliche Stadt und berichtet davon, wie er von | |
| zwei Faschohorden angegriffen wurde. | |
| Der Moderator sagt, ein Verbot des Sonderparteitags der FAP durch das | |
| Ordnungsamt sei der Grund für die Krawalle gewesen. Ein Video wird | |
| eingeblendet: Die Faschos stürmen auf den Typen los, schlagen und treten | |
| auf ihn ein, brechen ihm den Schädel. Einfach so. | |
| Einen Tag später klingelt mein Handy. Es ist Kalle. Sven hat ihm von | |
| unserem Treffen erzählt. Will er doch reden? | |
| Noch am gleichen Tag fahre ich nach Wernigerode und stehe vor Kalles | |
| Wohnung in der Innenstadt. Er wartet vor seiner Tür. Scheiße, denke ich. Da | |
| steht dieser Schrank mit Glatze, voll tätowiertem Kopf und einem bulligen | |
| Kampfhund. Kalle winkt mich fröhlich heran. „Lass uns vielleicht doch | |
| lieber zu mir zum Reden gehen, was?“ | |
| ## „Ein kleiner Skinny, zwischen solchen Typen“ | |
| Kalle sagt, er sei Oi!-Skin geblieben, das sei ein Lifestyle, und er schäme | |
| sich auch nicht dafür. Heute besuche er Hardcore- und eben | |
| Oi!-Punk-Konzerte. Unpolitisch, sagt er. Aber wenn jemand „Nazis raus!“ | |
| rufe, gehe ihm das auch auf die Nerven. „Aus beiden Richtungen“ möge er | |
| keine Phrasen. | |
| Wählen gehe er nicht, sei er nie, werde er auch nie, sagt er. Er werde sich | |
| nie einem System anpassen. Was ihm wichtig ist zu sagen: Diese ganze | |
| Faschoideologie liege hinter ihm, er habe sich davon gelöst. Meine | |
| Recherchen ergeben, dass Kalle bis in die nuller Jahre noch mit Nazis zu | |
| tun hatte, danach aber nicht mehr. | |
| Für ihn ist das Konzert im April 1992 das erste Skinheadkonzert. „Musst dir | |
| vorstellen, ich als 14-Jähriger, überleg dir das mal – so ein kleiner | |
| Skinny, zwischen solchen Typen.“ Er sei aber an dem Tag nicht mehr zum | |
| besetzten Haus gegangen. „Damals wollte ich noch nicht bei den großen Jungs | |
| mitspielen.“ | |
| Angefangen hat für Kalle alles kurz nach der Wende. Da sei er noch mit | |
| Anarchiezeichen auf den Klamotten mit seinen Freunden durch die Straßen | |
| gezogen. Dann habe sich sein Freundeskreis verändert, seine neuen Kumpels | |
| hätten Faschomusik gehört. Es sei immer ums „Anderssein“ gegangen. | |
| Als die FAP immer intensiver daran arbeitet in Wernigerode stärker zu | |
| werden, kommt Kalle in Kontakt mit Parteileuten. Einmal war er mit Sven | |
| auch auf einer Geburtstagsfeier von Thorsten Heise. Heise ist militanter | |
| Neonazi und heute Bundesvorstandsmitglied der NPD. | |
| „Die Leute von der FAP waren aber ’ne ganz andere Nummer“, sagt Kalle und | |
| verzieht das Gesicht. Er und seine Leute wollten mit deren Politik und Stil | |
| nichts zu tun haben, sehr zum Unmut der Parteileute. | |
| Davon hat mir auch David Begrich erzählt. Die Neonaziführer aus dem Westen | |
| wie Thorsten Heise aus Northeim seien damals zum Teil sogar überfordert | |
| gewesen von diesem unbändigen Gewaltpotenzial. | |
| Die Exzesse der jungen Neonazis seien zu dem Zeitpunkt gar nicht im | |
| politischen Hauptinteresse der FAP gewesen, das war Parteiaufbau. Kalle | |
| erzählt, wie ihm die FAPler mit ihrem Saubermann-, Reiterhosen- und | |
| Seitenscheitelnazitum auf die Nerven gegangen seien. Seine Jungs hätten | |
| Action gewollt. Heißt: in Discos und Jugendclubs Terrorstimmung verbreiten. | |
| Erst jetzt wird mir wirklich klar, dass die Nazis sich in den 90ern überall | |
| in der Stadt aufgehalten haben. Ich hatte es mir so vorgestellt, dass sie | |
| ihre einschlägigen Treffpunkte gehabt hätten. Irgendwie fühlt sich das | |
| schrecklich naiv an. | |
| ## Mit über 2.000 Neonazis beim Rudolf-Heß-Marsch | |
| „Ich war ja mit Sven auch aufm Rudolf-Heß-Gedenkmarsch“, sagt Kalle und | |
| beginnt zu grinsen. „Hat dir Sven das auch erzählt?“ Am 17. August 1992, | |
| dem 15. Todestag von Hitlers Stellvertreter, [12][reisen über 2.000 | |
| Neonazis aus ganz Deutschland und Europa nach Rudolstadt in Thüringen]. | |
| Darunter seien auch sie gewesen. Die Polizei riegelt damals die Stadt ab. | |
| Eigentlich um zu deeskalieren, gibt die Polizei die Zahl der angereisten | |
| Gegendemonstrant:innen an die Organisatoren der Nazidemo durch. 2.500 | |
| sind es. | |
| „Da haben wir alle gejubelt und gedacht, jetzt raucht’s richtig – wir hab… | |
| nur drauf gewartet. Wir wollten es. Auch ich. Ich ließ mich schnell | |
| anstacheln“, sagt Kalle. | |
| „Wolltest du dich beweisen?“ | |
| „Man hatte halt das Gefühl, dass man der Blöde ist, wenn man nicht | |
| mitmacht“, sagt er. „Du wolltest dazugehören – nur wozu genau, weiß ich | |
| nicht mehr, so im Nachhinein.“ | |
| Ende der 90er habe er zwei Jahre Jugendknast abgesessen, sagt er. | |
| Körperverletzung, unter anderem. Es ging aber nicht nur gegen Punks, auch | |
| gegen „ganz normale Leute“. | |
| „Aber wie war das mit Ausländern?“ | |
| „Die gab’s hier doch gar nicht“, antwortet er und lacht. | |
| ## Vietnames:innen mit Steinen angegriffen | |
| Ich denke an die damalige Unterkunft für Vietnames:innen in | |
| Wernigerode. Sven hat mir erzählt, er sei einmal dabei gewesen, als sie mit | |
| Steinen angegriffen worden sei. Doch Maik und seine Jungs, so sagen sie, | |
| hätten die Rechten damals vertrieben. | |
| „Hattest du Hass in dir?“, frage ich Kalle, inzwischen etwas unsicher, und | |
| erinnere mich, was Fabian mir über Kalle erzählt hat. Kalle war damals | |
| stadtbekannt, auch Fabian kannte ihn. Viele haben sich über ihn lustig | |
| gemacht, weil er immer gebeugt ging und nicht als der Schlaueste galt. „Ich | |
| hatte das Gefühl, dass er das alles mit besonderer Brutalität kompensieren | |
| musste“, hatte Fabian gesagt und von einem Ereignis erzählt, das ich auch | |
| im Antifaschistischen Infoblatt von 1996/97 nachlesen konnte: Ein Nazi | |
| überfährt vorsätzlich mit einem Auto einen Antifa vor einem Wernigeroder | |
| Jugendclub und verletzt ihn dabei schwer. | |
| Als ich ihn darauf anspreche, bestreitet Kalle nichts. „Das war ich | |
| höchstpersönlich“, sagt er und lacht wieder dieses eigenartig vergnügte | |
| Lachen, das sich auch bei Sven findet. | |
| Er sei damals in Richtung eines linken Clubs in der Umgebung gefahren, und | |
| ein Punk, das könnten Gerichtsunterlagen bestätigen, sei mit 1,6 Promille | |
| selbst gegen seinen Seitenspiegel gelaufen. Kalle flieht, doch am nächsten | |
| Tag wird er verhaftet. Er habe eine Bewährungsstrafe wegen versuchten | |
| Mordes und eine Geldstrafe über 40.000 D-Mark bekommen. | |
| „Ob ich gehasst habe? Schon …“, antwortet er zögerlich. Als 14- oder | |
| 15-Jähriger habe er dann immer von Älteren „die Jacke voll“ gekriegt. „… | |
| nimmst du dann mit, wenn du älter bist.“ | |
| Eines Tages habe an der Wand der Schulturnhalle Kalles voller Name mit dem | |
| Zusatz „Nazischwein“ gestanden, da sei er in der achten Klasse gewesen. | |
| Damals habe er das mit einem Lächeln hingenommen, aber die Sache habe ihn | |
| weiter beschäftigt. Wut habe sich angestaut. | |
| „Hast du jemals das Gefühl gehabt, dich nach all der Zeit bei jemandem | |
| entschuldigen zu müssen?“– „Nee, das nicht“, sagt er. | |
| Wie die „Aktionen“ abliefen? „Wir sind mit dem Auto so lange rumgefahren, | |
| bis wir einen gesehen haben, und dann gab’s vor die Fresse. Ich weiß aber | |
| auch, dass es umgekehrt genauso war.“ Kalle macht immer wieder Pausen. | |
| Eigentlich perfekt, um die Fragen loszuwerden, die ich stellen wollte. | |
| Etwa: „Wie war es, zu Liedern zu tanzen, in denen es um den Tod von Juden | |
| oder Schwarzen geht?“ Aber irgendwie kann ich nicht. Vielleicht liegt es | |
| daran, dass dieser Wahnsinn, von dem er erzählt, nicht dazu passt, wie klar | |
| und engagiert, geradezu freundlich er sich bemüht, mir bei meinen | |
| Recherchen zu helfen, um „das Ganze mal einzuordnen“. | |
| „Du kannst dir das alles nicht vorstellen. Was bist du für ’n Baujahr?“ | |
| „1997.“ | |
| „Siehst du, da hatte ich mit 14 schon so ein Ding durch mit dem Konzert. | |
| Das kannst du überhaupt nicht vergleichen, sehe ich ja jetzt auch, heute | |
| ist das eine ganz andere Zeit.“ Er denkt kurz nach. „Das war damals wie ein | |
| Selbstläufer. Ich wollte einfach nur anders sein, immer gegen den Strom | |
| schwimmen, und so war es bei den anderen auch.“ | |
| Maik, Sven, Kalle, die Aussagen gleichen sich alle, denke ich. Als hätten | |
| die „Aktionen“ im luftleeren politischen Raum stattgefunden. Als hätte es | |
| keine Opfer gegeben, wird vonseiten der ehemaligen Rechten das Geschehen | |
| verharmlost. Während überall im Harz Asylbewerber:innenheime | |
| angegriffen wurden, ereignete sich im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen | |
| der schwerste rechtsextreme Angriff in Deutschland seit Ende des Zweiten | |
| Weltkrieges gegen Migrant:innen. | |
| Sven hatte lediglich von „Bedenken“ gesprochen, die er damals gehabt habe, | |
| als er davon erfuhr. Kalle sagt, er habe die Bilder im Fernsehen gesehen. | |
| „Das hat man cool aufgenommen, fand man gut, hat man sympathisiert mit, | |
| aber, äh … ich versuche mich gerade zu rechtfertigen. Ich weiß gar nicht, | |
| wieso man das überhaupt cool finden sollte, deswegen überlege ich gerade, | |
| wie ich das formulieren sollte. Ich würde es dir gerne beantworten. Aber | |
| ich kann es nicht.“ Er habe sich auch schon gefragt, „was man damals | |
| eigentlich darstellen wollte“. | |
| Am wichtigsten sei ihm die Musik gewesen, „dieses Netzwerken“, wie er sagt. | |
| Wie es dazu kam, dass er aus der Szene ausstieg, will er nicht sagen. Aber | |
| es sei im Jahr 2004 gewesen. Da habe er sich „um andere Sachen kümmern“ | |
| müssen. | |
| „Maik und die Leute im Haus werden dir nicht viel anderes erzählen. Manches | |
| war vielleicht anders, aber vieles eben nicht“, sagt er und beginnt wieder | |
| zu lachen. „Vielleicht haben wir auch … ein anderes Verständnis dafür …… | |
| „Wie meinst du das?“ | |
| „Na ja, unsere Generation – für dich ist das ja alles total unfassbar. Ich | |
| weiß gar nicht, wie man das sagen soll: Das waren die 90er Jahre, ja?“ | |
| Immer wieder dieser Satz, denke ich. Als wäre das eine Erklärung für alles. | |
| ## Der Thrill, echte Feinde zu haben | |
| Wieder denke ich: Maik, Anja, Sven, Kalle, Antifas und Neonazis, sie alle | |
| reden davon, erzählen von dieser krassen Gewalt, dem Thrill, sich in einer | |
| Stadt für einen Spaziergang zu bewaffnen und echte Feinde zu haben, die sie | |
| bekämpfen. Wie diese Gewalt sich eingeebnet hat, bleibt ein Stück weit | |
| unklar. Wenn man in der gleichen kleinen Stadt bleibt wie der ehemalige | |
| „Feind“, muss man sich wohl miteinander arrangieren, wenn man sich nicht | |
| sein Leben lang bekämpfen will. | |
| Die Generation, die in den Neunzigern jung war, ist in dem Chaos der | |
| Nachwendejahre sich selbst überlassen geblieben. Es gab kaum positive | |
| Angebote für sie innerhalb dieses Vakuums. Die akzeptierende Jugendarbeit | |
| ist krachend gescheitert, hat in Teilen die radikale Rechte erst stark | |
| gemacht. | |
| Vermutlich gibt es noch viel mehr Wunden, die die Baseballschläger in | |
| dieser Stadt gerissen haben. Ich habe in Werningerode nur zehn Jahre später | |
| eine völlig behütete Kindheit und Jugend verbracht. Vielleicht verstehe | |
| ich auch deshalb noch nicht, wie sich die Gewalt dort derart durchsetzen | |
| konnte. | |
| Doch ich will nicht hinnehmen, dass dieses Kapitel der Stadtgeschichte | |
| abgeschlossen ist oder sein soll. Das ist es erst, wenn niemand mehr danach | |
| fragt. | |
| 4 Jul 2023 | |
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| Aron Boks | |
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