# taz.de -- Antifaschismus in Brandenburg: „Niemand fragte nach den Opfern“ | |
> Der Verein Opferperspektive feiert am Freitag sein 25-jähriges Jubiläum. | |
> Geschäftsführerin Judith Porath über Kontinuitäten rechter Gewalt in | |
> Brandenburg. | |
Bild: Gegen rechte Gewalt braucht es eine starke Zivilgesellschaft, die sich da… | |
taz: Frau Porath, vor 25 Jahren wurde die [1][Opferperspektive] gegründet. | |
Was war der Grund? | |
Judith Porath: Es gab in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eine weitere | |
Welle von rechts motivierten Gewalttaten und Brandenburg gehörte leider | |
bundesweit zu den Hotspots. Der rassistische Angriff auf Noël Martin ist | |
zum Beispiel ein Fall von damals, der bis heute vielen Menschen in | |
Erinnerung geblieben ist. | |
„[2][Baseballschlägerjahre]“ nannte man die Zeit, oder? | |
Ja, und die gingen dann noch weiter bis in die erste Hälfte der | |
Nuller-Jahre. Auf jeden Fall war der politische und gesellschaftliche | |
Diskurs damals, dass vor allem die Situation der Täter im Mittelpunkt stand | |
– in der Berichterstattung, der Sozialen Arbeit, der Wissenschaft, der | |
Politik. Überall wurde die Frage gestellt: Warum machen „unsere Kinder“ | |
sowas. Sie wurden damals als die eigentlichen Opfer der Wende und des | |
Transformationsprozesses behandelt. | |
Und die wirklichen Opfer? | |
Mit denen hat sich eben niemand befasst. Niemand fragte: Wer ist betroffen? | |
Und wie ist deren Lebenssituation? Die sind in den ganzen Jahren völlig | |
allein gelassen worden. Klar gab es ab und zu auch | |
Betroffenheitsbekundungen, es gab immer Solidarität von Einzelpersonen, | |
aber nichts Strukturiertes. Und wenn es eine Lichterkette gab oder eine | |
große Demonstration, haben die Leute danach in der Regel doch wieder | |
alleine da gesessen mit ihren Ängsten, ihren Sorgen. Dem wollten wir nicht | |
länger tatenlos zugucken. | |
Wer war „wir“? | |
Wir waren vier, fünf Leute, die vorher schon in den 1990er Jahren | |
emanzipatorische linke Jugendprojekte in Brandenburg unterstützt haben, die | |
ebenfalls immer wieder angegriffen wurden. Wir haben gesagt: Das geht so | |
nicht weiter, wir gründen jetzt ein politisches Projekt. Da war noch gar | |
nicht an Geld zu denken und an die Beratungsstellen, die wir jetzt haben. | |
Wir wollten die Leute, die Opfer rechter Gewalt geworden sind, aufsuchen | |
und fragen, was braucht ihr, und sie unterstützen bei der Umsetzung der | |
Möglichkeiten, die es gibt. Wir wollten aber auch rechte Gewalt aus | |
Perspektive der Betroffenen thematisieren und einfordern, dass | |
Gesellschaft, Politik, dass alle solidarisch sein müssen mit den Menschen, | |
die attackiert werden – und ihnen zuhören. | |
Sie sind also zu Betroffenen hingegangen und haben Hilfe angeboten? | |
Ja, das ist bis heute fast gleich geblieben. Wir haben damals in Zeitungen | |
recherchiert und geguckt, wo es Anhaltspunkte gibt, wir haben in unseren | |
Netzwerken gefragt und dann unsere Unterstützung angeboten. Das machen wir | |
heute auch noch: Medien durchforsten, wo gibt es Hinweise auf rechte, | |
rassistische, antisemitische, [3][queerfeindliche Attacken], dann auf die | |
Leute zugehen und gemeinsam mit ihnen herausfinden, was sie brauchen. | |
Damals wie heute haben z.B. Geflüchtete, also marginalisierte Positionen, | |
kaum Zugang zum Hilfesystemen in der Bundesrepublik. | |
Heute leben wir wieder in einer Zeit mit vermehrten rechten Angriffen und | |
einem politischen Diskurs, der sich nach rechts verschiebt. Was ist für Sie | |
der Unterschied zu damals? | |
Rechte, rassistische Gewalt – rechts ist für uns ein Klammerbegriff – hat | |
sich verändert. Wir haben es weniger mit diesen ganz, ganz schweren, | |
lebensbedrohlichen Angriffen zu tun. Das letzte Todesopfer, das wir | |
registriert haben in Brandenburg, war 2008 zu beklagen. Aber die Attentate | |
in Halle und Hanau haben uns vor Augen geführt: die Gefahr des tödlichen | |
Rechtsterrorismus gibt es nach wie vor, auch in Brandenburg. Was sehr an | |
die Zeit vor 25 Jahren erinnert, ist die aggressiv-nationalistische | |
Stimmung und rasant zunehmende Abwertung von marginalisierter Gruppen. | |
Gesellschaftlich? | |
Ja, diese Stimmung in den letzten Jahren, seit 2015, seit Pegida, den „Nein | |
zum Heim“-Demos. Seither hat sich die gesellschaftliche Ablehnung von | |
scheinbar marginalisierten Gruppen immer weiter verfestigt. Und aus Worten | |
werden Taten, das sehen wir ganz deutlich. Wir haben es heute viel mehr mit | |
subtileren Formen von Attacken zu tun. Es gibt viel Bedrohung, Nötigung, | |
Einschüchterung – aber natürlich weiterhin auch Körperverletzungsdelikte. | |
Auch bei den Zielgruppen sehen wir teilweise heute Veränderungen. | |
Inwiefern? | |
Alternative Jugendliche waren in den ersten Jahren eine wichtige | |
Zielgruppe: Punks, Grufties – was es damals so gab an alternativen | |
Jugendkulturen. Und die haben sich natürlich auch verändert. Punks gibt es | |
nicht mehr so viele in Brandenburg. Aktuell werden dafür verstärkt queere | |
Jugendliche attackiert. | |
Inwiefern hat sich die solidarische Zivilgesellschaft verändert? | |
Es sind mit der Zeit viele Bündnisse entstanden, es gab und gibt immer | |
[4][Menschen, die aktiv sind] – aber sie kommen und gehen. Ich denke, dass | |
die die Zivilgesellschaft insgesamt gerade wieder deutlich stärker unter | |
Druck steht. Das merkt man auch daran, dass es schwieriger ist, Solidarität | |
mit Betroffenen zu organisieren, vor Ort Unterstützung für die Leute zu | |
finden. Ich denke, weil viele sich selbst ohnmächtig fühlen vor dem | |
Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklungen. | |
Vielleicht, weil man heute denkt, es ist noch schlimmer als damals und | |
rechtes Gedankengut immer „normaler“ wird? | |
Das gab es auch in den 90ern. Denken Sie an die Menschen, die geklatscht | |
haben in [5][Rostock-Lichtenhagen], in [6][Hoyerswerda]. Das war ja auch | |
die „normale Bevölkerung“, die entweder klammheimliche Zustimmung gezeigt | |
hat oder ganz offen – und die rechten Täter konnten sich in der Regel als | |
„Vollstrecker des Volkes“ ansehen. | |
Was ist heute anders? | |
Das Neue ist: Jetzt haben wir es mit einer rechtsextremen AfD zu tun, die | |
der parlamentarische Flügel einer rechten Bewegung wird. Es gibt ja nicht | |
nur die AfD, es gibt weiterhin die Kameradschaftsstrukturen, dazu die sehr | |
gewalttätige und sehr gefährliche Kampfsportszene, wo sich viel vermischt | |
miteinander, und die heute auch Gewerbe haben. Das hatten die Rechten | |
damals noch nicht, die haben sich also Strukturen aufgebaut und damit eine | |
wirtschaftliche Grundlage, auch für politische Tätigkeiten. Das hat sich | |
total verändert. Dazu kommt noch das Internet als neuer Resonanzraum, wo | |
ganz viel Zustimmung zu menschenverachtenden Positionen generiert wird. Die | |
Situation empfinde ich derzeit deswegen insgesamt als sehr bedrohlich für | |
Menschen, die im Fokus der rechten Bewegung stehen. Auch weil wenig | |
Bereitschaft da ist, ihnen zuzuhören – sondern eher den so genannten | |
Wutbürgern. | |
Also waren Sie nicht so erfolgreich in Ihrem Bemühen, einen | |
Perspektivwechsel in Politik und Gesellschaft herbeizuführen? | |
Doch, natürlich gibt es Erfolge. So gibt es jetzt in allen Bundesländern | |
unabhängige Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt. Wir sind quasi | |
das Mutterprojekt für den Aufbau von professionellen Strukturen, wo | |
Menschen, die attackiert werden, Hilfe finden. Wir waren bundesweit die | |
Ersten mit dieser Verbindung von Einzelfallhilfe, lokaler und politischer | |
Intervention. Der Wechsel von der Täter- zur Opferperspektive findet auch | |
insofern statt, weil zum Beispiel heute in den Medien deutlich stärker über | |
die Opfer berichtet wird. Im Zusammenspiel mit vielen anderen, auch mit den | |
Überlebenden von Attentaten und schweren Gewaltdelikten, konnten wir die | |
Forderung, dass Betroffene ernst genommen werden und sichtbar und präsent | |
sein müssen, immer wieder deutlich machen. Da stehen wir heute an einen | |
ganz anderen Punkt als damals – auch wenn es natürlich noch | |
Verbesserungsbedarf gibt. | |
Was ist für Sie gerade die größte Baustelle? | |
Was in den letzten Jahren ein bisschen aus dem Blick geraten ist, weil alle | |
immer sehr auf die polizeilichen Ermittlungen gucken, ist, wie die Justiz | |
mit den Fällen umgeht. | |
Was meinen Sie? | |
In Cottbus zum Beispiel haben wir seit Jahren das Problem mit überlangen | |
Verfahrensdauern, die dazu führen, dass rechte Gewalttäter entweder gar | |
nicht verurteilt werden können oder nur mit einem deutlichen Strafnachlass. | |
Sind die Gerichte in Cottbus so überfordert? | |
Laut Politik sind alle Stellen besetzt. Ich weiß nicht, warum das so ist, | |
aber das ist für Betroffene ein unhaltbarer Zustand, weil sie nicht | |
abschließen können mit ihren Erfahrungen. Zudem ist es auch präventiv eine | |
Katastrophe, wenn Täter nicht zeitnah – oder gar nicht – verurteilt werden. | |
Wenn die Sachen nicht juristisch aufgearbeitet werden, ist das wie ein | |
Freifahrtschein für die Nächsten. | |
22 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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