# taz.de -- Romane über Jugend in Ostdeutschland: Wie geil böse wir waren | |
> Romane über die Baseballschlägerjahre: Hendrik Bolz, Daniel Schulz und | |
> Domenico Müllensiefen vermeiden zum Glück lustvolle Gewaltpornos. | |
Bild: Ausrangiert: Vor gut drei Jahren gab es eine Zäsur im Ostdiskurs. Jetzt … | |
Manche Dialoge können Welten eröffnen. In einer Szene aus Domenico | |
Müllensiefens Roman „Aus unseren Feuern“ sitzt sein Protagonist Heiko, ein | |
Leipziger Ende 20, seine Zeit in einem Bewerbungstraining ab, das ihm das | |
Arbeitsamt verdonnert hat. | |
Ein Teilnehmer des Workshops verliert die Nerven: Die ganze Scheiße würde | |
doch eh nichts bringen. „Lieber Christian!“, versucht ihn die Leiterin zu | |
mäßigen. „Halt die Fresse! Ich bin nicht der liebe Christian! Ich bin | |
Christian Köhler!“, ruft er ihr entgegen. „Ich will Ihnen nur helfen, eine | |
Arbeit zu finden!“, sagt sie, aber er tickt richtig aus. | |
„Was ist mein Beruf?“, fragt er. Sie weiß es nicht. | |
Christian Köhler verlässt den Raum. Vom Parkplatz brüllt er: „Ich bin | |
Zimmermann! Du Nutte!“ Dann quietschen die Reifen, und Christian Köhler ist | |
weg. In seinem heißen, schlimmen, verletzten Zimmermannsstolz. | |
Ostmännerstolz. | |
Den Debütroman des Leipzigers Domenico Müllensiefen, geboren 1987 in | |
Magdeburg, kann man als Teil einer kleinen Veröffentlichungswelle sehen: Es | |
ist das Frühjahr der Ostjugendbücher. Hendrik Bolz, eine Hälfte des | |
[1][Rap-Duos Zugezogen Maskulin,] veröffentlichte mit „Nullerjahre. Jugend | |
in blühenden Landschaften“ ein Memoir über das von Brutalität und Drogen | |
geprägte Aufwachsen in Mecklenburg-Vorpommern. „Wir waren wie Brüder“, der | |
Debütroman des taz-Redakteurs Daniel Schulz, nimmt die späten 80er und 90er | |
in Brandenburg in den Blick. | |
## Interesse und Unbehagen | |
Dem Ostbuchfrühling schaute ich – geboren und aufgewachsen in Sachsen – mit | |
Interesse, aber auch Unbehagen entgegen, ganz so, wie ich auch die Debatten | |
zum Thema verfolge. Mit ewiger Unzufriedenheit auch, weil es niemand | |
richtig machen kann. Nicht die mit den arroganten Die-da-drüben-Witzen. | |
Aber auch nicht diejenigen, die so dringend „positive Geschichten“ aus dem | |
Osten erzählen wollen, dass sie im schlimmsten Falle die Kontinuität und | |
spezifisch ostdeutsche Geschichte rechter Gewalt unsichtbar machen. | |
Vor rund drei Jahren gab es eine Zäsur im Ostdiskurs. Daniel Schulz’ Essay | |
[2][„Wir waren wie Brüder“,] erschienen in dieser Zeitung, und Hendrik | |
Bolz’ Text „Sieg-Heil-Rufe wiegten mich in den Schlaf“ aus dem Freitag | |
läuteten eine Debatte über die Normalität von Nazigewalt in den | |
ostdeutschen 00ern und 90ern ein – den „Baseballschlägerjahren“, wie der | |
Journalist Christian Bangel sie nannte. | |
Auf einmal war eine Tür aufgestoßen, um offen über die Nachwendezeit | |
sprechen zu können. Auf einmal sprach auch ich von Abenden, an denen ich | |
bei der Autofahrt zu McDonald’s lieber nicht so genau wissen wollte, was | |
der glatzköpfige Bekannte meiner Freundin eigentlich über Migranten denkt. | |
Das war wichtig. Diese Geschichten zu erzählen, ist unerlässlich. Sie sind | |
aber – für Leute wie mich, die jetzt in Berlin am Macbook sitzen – auch | |
entlastend. Auf eine nicht ungefährliche Weise. | |
## Prügeleien und Trinksprüche | |
Denn ja, es kann sich gut anfühlen, wenn die Erleichterung, die einem | |
Ehrlichkeit und öffentliches Bußetun verschaffen, auf den Thrill treffen, | |
die Brutalität der eigenen Jugend – nach all den Jahren Besserwissen! – | |
noch mal in ihrer ganzen Drastik zu benennen. | |
Schaut mal, wie geil böse wir waren. Und nun lobt uns, weil wir jetzt die | |
Guten sind. | |
Manchmal erzählten Teilnehmer:innen von Ost-Debatten in Tweets oder | |
Privatgesprächen – auch ich selbst – rückblickend ein bisschen zu angeregt | |
von Prügeleien und antisemitischen Trinksprüchen. Was würde passieren, wenn | |
diese Angeregtheit lustvolle fiktionale Texte abwerfen würde? | |
Es besteht eine Gefahr, beim literarischen Schreiben über die | |
„Baseballschlägerjahre“ und ihren Nachhall versehentlich den | |
Nachwende-Ost-Porno erfinden. Die Veröffentlichungen dieser Saison sind | |
unter diesem Blickwinkel ein Erfolg. Auch wenn etwa Bolz die Gewalt seiner | |
Jugend leidenschaftlich lautmalerisch beschreibt, zoomt er meist | |
rechtzeitig wieder raus, auf die Politik- und Gesellschaftsebene. | |
## Eine Großstadtgeschichte | |
Domenico Müllensiefens „Aus unseren Feuern“ fällt auf im Ostbuchfrühling. | |
Weil er keine Provinz-, sondern eine Großstadtgeschichte erzählt, und weil | |
Ostdeutschland eben kein einheitlicher Erfahrungsraum ist. Vor allem aber | |
ist der Roman keine „Milieu-Aussteiger-Story“, gleich denen, zu denen ich | |
mich schon habe hinreißen lassen. Kein Zeitstrahl führt vom Gestern in eine | |
Gegenwart, in der ein Protagonist zwar nicht mehr mit Nazis und | |
Arbeitslosigkeit, dafür aber mit Identitätskrisen kämpft. Sein Heiko ist | |
geblieben, wo er aufgewachsen ist. | |
Seine Gegenwart um 2014, in der er als Bestatter zu Romanbeginn einen alten | |
Freund tot von der Straße bergen, mit den Gespenstern der Vergangenheit | |
kämpfen muss, und eben dieses Gestern sind im Roman verflochten. Immer | |
wieder lässt Müllensiefen Heiko scheitern, ohne ihn zur Witzfigur zu | |
machen. | |
In seinen Leipziger Nullerjahren marschieren nicht pausenlos Skinheads auf. | |
Härte lernen Heiko und seine besten Freunde Thomas und Karsten auch so: bei | |
Kollegen und Vätern, die das Aufwachsen in der DDR taff und die Wende hat | |
bitter werden lassen. Was den Roman so besonders macht, sind vor allem | |
seine Dialoge und Nebenfiguren. Zum Beispiel Mandy, die ehemalige | |
Schulschönheit, auf der große Erwartungen ruhten: Sie soll es „nach drüben… | |
schaffen. Wie ein geprügelter Hund kehrt sie nach Leipzig zurück, nachdem | |
sie in Bayern, wo sich alle über ihren Dialekt lustig machen, keinen Fuß in | |
die Tür bekommen hat. „Es lag daran, dass Mandy, egal wo sie war, sich | |
fremd fühlte“, schreibt Müllensiefen. | |
## Ungewöhnliche Vita | |
Müllensiefen selbst hat eine Vita, wie man sie im Literaturbetrieb nicht | |
oft sieht. Er wuchs auf einem Bauernhof in der Altmark auf, zog mit 16 nach | |
Magdeburg und machte eine Ausbildung zum Systemelektroniker. 2006 ging er | |
nach Leipzig, um in seinem Lehrberuf zu arbeiten. Später wurde er dort am | |
Literaturinstitut angenommen. Während des Studiums arbeitete er als | |
Bestatter, seit 2016 wieder als Elektroniker. Und schreibt nun eben auch. | |
Immer noch in Leipzig. „Den Osten zu verlassen kam für mich nie in Frage“, | |
schreibt er auf seiner Website mit der schönen Domain „muskeldomingo.de“. | |
Seinen Heiko lässt er als Schüler im Schlachtbetrieb von Thomas’ Vater | |
jobben, eine Ausbildung zum Elektriker machen, Bestatter werden. Immer sind | |
es die Passagen aus seinem Berufsalltag, die Müllensiefen so detailreich | |
schildert, als seien die Tätigkeiten ein heiliges Ritual. Was entsteht, ist | |
eine Art Working-Class-Leipzig Noir: Bei aller Gleichförmigkeit, bei allem | |
Gerauche und Getrinke geht es immer auch um Leben und Tod, um die | |
Beschaffenheit von Körpern und deren Vergänglichkeit. | |
Sicher fragt man sich ab und zu, ob man so genau wissen will, wie ein Darm | |
gespült und eine Leiche zerteilt wird, aber hey, wer durch | |
Plattenbaufenster in „die Ostseele“ gucken will, sollte sich wohl damit | |
befassen, womit diese Ostseelen ihr Gehalt verdienen. Überhaupt | |
interessiert sich Müllensiefen für Besitzverhältnisse. Für die Frage, wer | |
nach der Wende plötzlich die Fabriken besaß, wer die Altbauviertel in | |
Leipzig überrannte. Es ist ein Glück, dass seine Beobachtungen so fein | |
gezeichnet, die Figuren so tief sind, dass man nicht mit der Gewissheit | |
zurückbleibt: Mit mehr Geld wäre hier wirklich alles anders. Zwar ist es | |
auch das Treuhand-Trauma, das eine der Figuren in den Sumpf rechtsradikaler | |
Verschwörungsmythen führt; als gottgegeben wird der Weg nicht gezeichnet. | |
## Sich die Wege selbst verbauen | |
Selten hat es ein Text dafür geschafft, so plausibel zu erklären, wie die | |
Wende-Euphorie bei vielen Ost-Millennials in Lethargie umschlagen konnte. | |
Wie die komplizierte Verflechtung aus Fremdbestimmungserfahrungen, | |
Abwertungsangst, Trotz und ganz aktiver Politikverweigerung dazu führen, | |
dass sich die Protagonisten die Wege, die ihnen offenstehen, manchmal | |
selbst verbauen. Die Teenager Heiko, Thomas und Karsten wollen „ihre Feuer | |
zünden“, wie sie immer wieder sagen. Und können nicht. Also wollen sie | |
irgendwann alles brennen sehen. | |
So, wie einst eine Industrie um den Wenderoman entstanden ist, wird wohl | |
auch der „Baseballschlägerjahre“- oder Nullerjahre-Roman weiter florieren. | |
Mit seiner präzisen, oft rauen, ganz beiläufig zärtlichen Sprache hat | |
Müllensiefen schon mal gezeigt, wie man vermeidet, was mir an den | |
Nachwendefestspielen Unbehagen bereitet: Nie wird Gewaltvolles zu lustvoll | |
inszeniert. Nie versucht, „den Osten“ als Staffage für ein Sozialdrama zu | |
benutzen. Gleichzeitig gesteht er sich auch in einer Coming-of-Age-Story | |
nie so viel Elegie zu, dass man naiv rührselig draufkommt ob der | |
vergangenen, brutalen, aber doch auch aufregenden Tage im großen | |
Möglichkeitsraum Ostdeutschland. | |
„Aus unseren Feuern“ ist der wohl seltsamste Roman des | |
Nachwendebuchfrühling. Gerade, erklärt Müllensiefen auf „muskeldomingo.de�… | |
sitzt er an einem Text übers Dorf. | |
19 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
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