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# taz.de -- Schweigen über Gewalt in der DDR: Durchwachte Nächte
> In ihrem Debütroman ergründet Anne Rabe, wie die Gewalt der DDR bis heute
> nachwirkt. Hier berichtet sie vom Schweigen bei ihrer Lesereise.
Vor einigen Jahren habe ich einen Text geschrieben, der mein Debütroman
werden sollte. Um das Manuskript fertigzustellen, bekam ich ein Stipendium
vom Deutschen Literaturfonds. Das ist für Schriftsteller*innen so etwas
wie der Sechser im Lotto. Ich habe den Text fertig geschrieben, aber er ist
nie veröffentlicht worden. Kein Verlag wollte ihn haben. Einmal habe ich
das Manuskript einer Agentin vorgelegt, doch sie lehnte ihn ab. „Wissen
Sie, das ist ein guter Text“, erklärte sie mir am Telefon, „aber wenn
jemand in eine Buchhandlung kommt und nach einem schönen Buch fragt, dann
würde ich demjenigen nicht unbedingt dieses Buch empfehlen.“
An das Telefonat mit der Agentin habe ich in diesem Jahr oft gedacht. Denn
2023 habe ich tatsächlich mein Prosadebüt veröffentlicht. Der Text ist
besser als mein erster Versuch. Und trotzdem dachte ich, na ja,
wahrscheinlich ist das auch so ein Buch, das Buchhändler*innen nicht
unbedingt empfehlen würden, wenn man sie um ein „schönes“ Buch bittet.
[1][Mein Roman „Die Möglichkeit von Glück“] erzählt die Geschichte einer
SED-Familie und vor allem erzählt er von Gewalt. Von Gewalt in Familien,
Gewalt durch den Staat, durch Krieg und Armut. Der Roman setzt sich mit der
deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert auseinander und ist ein Versuch, zu
verstehen, wie diese Geschichte bis heute nachwirkt. Es ist ganz sicher
kein „schönes“ Buch, aber es stand einige Wochen auf der
Spiegel-Bestsellerliste, und das hat auch etwas damit zu tun, dass
Buchhändler*innen es ihren Kund*innen empfohlen haben. Dafür bin ich
dankbar, denn ich hatte nicht damit gerechnet.
Das Jahr 2023 jedoch wartete mit einer [2][neuen Ost-Debatte] auf und
plötzlich wurde wieder diskutiert. Jedoch nicht nur in den Feuilletons der
großen Zeitungen. Schon bald nach Erscheinen meines Romans im März füllte
sich mein Kalender mit immer neuen Stationen einer Lesereise.
Zu Beginn der Reise war ich unsicher. Das Buch ist ein sehr persönlicher,
ein intimer Text. Ich wusste schon, in jedem Interview und bei jeder
Veranstaltung würde man mich fragen: „Ist dieser Text autobiografisch?“ Die
Frage liegt auf der Hand.
## Es war Sommer, 30 Jahre Mauerfall
In dem Buch versucht die Erzählerin Stine der Geschichte ihrer Familie auf
den Grund zu gehen. Diese Erzählerin und ich teilen biografische Eckdaten
wie etwa das Geburtsjahr. Für die Frage nach dem biografischen Gehalt hatte
ich mir deshalb eine Antwort zurechtgelegt: „Was die Erzählerin umtreibt,
das hat auch mich beim Schreiben umgetrieben. Die Fragen, die sie sich
stellt, habe auch ich mir oft gestellt.“
Das stimmte und ermöglichte mir trotzdem eine gewisse Distanz. Sobald ein
Text in der Welt ist, braucht es die Autor*in eigentlich nicht mehr. Was
ich erzählen wollte, habe ich aufgeschrieben in der Hoffnung, es möge ein
Vehikel sein, miteinander ins Gespräch zu kommen.
2019 hatte ich begonnen, an ersten Versuchen für den Roman zu arbeiten. Das
war im Sommer, wir feierten 30 Jahre Mauerfall und im Herbst standen
Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen an. Die damaligen
Prognosen zeigten, dass ein Wahlsieg [3][der AfD] in allen drei
Bundesländern möglich wäre.
Die Jahre davor waren im Osten von einer Welle großer Proteste
gekennzeichnet. Es begann ungefähr im Jahr 2014 [4][mit Pegida]. Und mit
der Geflüchtetenkrise 2015 wurden diese Proteste zunehmend gewalttätiger
und richteten sich gegen demokratische Institutionen der Bundesrepublik.
Pressevertreter*innen wurden immer häufiger auch tätlich angegriffen
und Politiker*innen auf Demonstrationen symbolisch an Balken
aufgehängt.
Immer wieder kam es während dieser Demonstrationen zu Übergriffen auf
Migrant*innen und [5][der rechte Terror] fand in Halle, Hanau und dem
Mord an Walter Lübcke traurige Tiefpunkte. Mit der AfD hatte diese rechte
Welle plötzlich eine parlamentarische Vertretung auf allen Ebenen.
Der Rechtsrutsch fand nicht nur in Ostdeutschland statt, aber dort hatte
und hat er noch immer sein finsteres Zentrum. 2019 wurde deutlich, dass in
Ostdeutschland etwas möglich sein könnte, was die Bundesrepublik lange für
ausgeschlossen hielt. Mit Björn Höcke könnte zum ersten Mal nach 1945
wieder ein Faschist in ein Regierungsamt gewählt werden. Ich fragte mich
damals, warum das so ist und warum es mir zugleich so vertraut vorkommt.
Deshalb begann ich über mein eigenes Aufwachsen nachzudenken. Und über die
Beschaffenheit der Gesellschaft, in der sowohl ich als auch die Person
einst Kind war. Eine Gesellschaft, die Angela Merkel 2015 in Heidenau mit
„Du dumme Fotze, zeig dein hässliches Gesicht. Steig ruhig ein in deine
hässliche Kutsche, du Hure!“ beschimpft hat. Denn die Auswertungen der
Wahlergebnisse zeigten, dass sich das Wahlverhalten in Ost- und
Westdeutschland sehr unterschied. Wählten in Westdeutschland hauptsächlich
die sogenannten alten, weißen Männer die AfD, waren es im Osten vor allem
diejenigen, die so alt waren wie ich. Menschen, die zur Zeit der
Wiedervereinigung Kinder oder Jugendliche waren.
Bevor ich also begann, mein Buch zu schreiben, führte ich Interviews.
Zunächst vor allem mit meinen Schulfreund*innen. Mit einigen von ihnen
hatte ich viele Jahre kaum Kontakt. Wir hatten nie über unsere Kindheit
gesprochen. Aber in allen Gesprächen ging es nun sehr schnell vor allem um
ein Thema – Gewalt.
Gewalt in den Familien, in Schulen und auf der Straße. Im Herbst 2019 würde
Christian Bangel für die Zeit, in der ich Kind war, die 90er Jahre im
Osten, [6][den Begriff „Baseballschlägerjahre“ prägen]. Aber in den
Gesprächen mit meinen Schulfreund*innen ging es nicht nur um die Angst
vor Nazis. Die Gewalt zog sich durch alle Lebensbereiche und war in uns
selbst gekrochen. Manchmal erschraken wir über das, was man uns zugemutet
hatte, und das, was wir einander zugemutet hatten. Auch in den Gesprächen
mit anderen Interviewpartner*innen, die ich im Laufe der Recherche
kennenlernte, ging es um dieses Lebensgefühl, das wir nun, mit dem
zeitlichen Abstand und der Sicherheit, in unseren Leben angekommen zu sein,
allmählich formulieren konnten. Das war der Grund dafür, dass mein Roman so
persönlich wurde. Ich wollte mit aller Offenheit darlegen, was mich seit
vielen Jahren quälte.
Ich bin ein wütender Mensch. Ein ängstlicher und trauriger. Oft liege ich
nachts wach. Meine Gedanken kreisen um Dinge, die ich getan habe, Worte,
die ich gesagt habe, und das, was ich verpasst habe zu tun, zu denken oder
auszusprechen. In endlosen Schleifen versuche ich vergeblich Korrekturen
vorzunehmen. Es ist der hilflose und meist verzweifelte Versuch, das Chaos
in mir zu bändigen.
Als ich begonnen habe, das Buch zu schreiben, wollte ich, dass es so wird
wie eine dieser durchwachten Nächte. Ich wollte dem Chaos eine Form geben,
weil ich das Gefühl hatte, dass es vielen Menschen so ging wie mir.
Besonders denjenigen, die zur gleichen Zeit in der gleichen Landschaft
aufgewachsen waren. Hineingeboren in die Agonie der DDR, die keine
Versprechungen mehr bereithielt, und groß geworden im Chaos einer
allumfassenden Transformation. Umgeben von Erwachsenen, die selbst nicht
mehr wussten, wo oben und unten ist und die keine Kapazitäten für die
Bedürfnisse ihrer Kinder frei hatten. Die Wut der keifenden Frau aus
Heidenau, vielleicht war das die gleiche Wut wie die, die mich nachts
wachhielt. Der Schrecken, den sie mit ihrem Hass verbreitete, vielleicht
war es der gleiche wie der, der mich so oft lähmte.
## Ein Freund sagt mir: Bleib auf Distanz!
Ein Freund, ich nenne ihn Anton, hatte vor der Lesereise Sorge um mich. Er
befürchtete nicht nur, dass mir Hass entgegenschlagen könnte, Ablehnung und
vielleicht auch tätliche Angriffe. Er befürchtete auch, ich würde das alles
zu sehr an mich ranlassen.
Aber ich freute mich. Und ich versicherte ihm, ich käme schon zurecht. Wenn
man Texte veröffentlicht und besonders als Frau, ist man es gewohnt,
angegriffen zu werden. Seit ich 2008 mein erstes Theaterstück „Achtzehn
Einhundertneun – Lichtenhagen“ über die Nachwendejahre in Mecklenburg
veröffentlich habe, kenne ich alle Varianten verschriftlichter, meist
männlicher Aggression. Das reicht von Fantasien über sexualisierte Gewalt,
dem Absprechen jeglicher Kompetenz bis zur Androhung tödlicher Übergriffe.
Ich versuche davon möglichst wenig wahrzunehmen. Hassmails erkenne ich nach
wenigen Worten. Ich überfliege sie bloß und schiebe sie dann ins Archiv.
Tweets mit hoher Reichweite stelle ich auf stumm, damit ich die Antworten
anderer User nicht mehr sehe und wenn jemand auf meiner Website nach meiner
Adresse sucht, findet er nur ein Postfach.
Das alles konnte Anton nicht beruhigen. Er fürchtete nicht nur die Wut der
Menschen. Er ahnte auch, ich könnte zu durchlässig sein für die Geschichten
meiner Leser*innen, und sagte: „Du musst auf Distanz bleiben.“ Ich weiß
nicht, ob er recht hat. Aber ich weiß jetzt, was er meint.
Als ich zu den ersten Stationen der Lesereise fuhr, hoffte ich noch etwas
mehr über unser Land zu erfahren. Wo es steht im Jahr 2023. Damals ahnte
ich nicht, dass wir am Ende des Jahres mit [7][einem so ausufernden
Antisemitismus] konfrontiert sein würden, dass jüdische Menschen in
Deutschland sich berechtigterweise fragen, ob sie hier überhaupt noch
sicher sind. Aber dass es ein wichtiges Jahr werden würde, wusste ich. Ein
Jahr, das erkennen lassen würde, ob das bisher Undenkbare noch verhindert
werden kann.
2019 noch hatte ich geglaubt, wir wären mit dem Rechtsruck auf einem
Höhepunkt angelangt. Zwar würden die blauen Braunen nicht verschwinden,
aber zumindest war es ihnen nicht gelungen, in einem der ostdeutschen
Bundesländer zur stärksten Kraft zu werden. Und in dem Moment, als Björn
Höcke und seine Truppe in Thüringen die demokratischen Parteien vorführten
und den [8][FDP-Mann Thomas Kemmerich] zum Ministerpräsidenten wählte,
war es ausgerechnet Christian Lindner, der androhte, zurückzutreten, und
damit die demokratischen Reihen schloss. Es schien, als hätte sich der
bundesrepublikanische Konsens, nicht mit Rechtsextremen zusammenzuarbeiten,
noch einmal fest in die parlamentarische Arbeit eingeschrieben.
Doch ich hatte mich geirrt. 2024 wird wieder gewählt in Sachsen,
Brandenburg und Thüringen, und allen Prognosen zufolge ist in jedem der
drei Länder ein Wahlsieg der AfD wahrscheinlich. Ein Trend, der sich im
gerade abgelaufenen Jahr verstetigte.
Wenn ich nun noch einmal durch meinen Kalender sehe und die Namen der Orte
lese, an denen ich aus meinem Buch gelesen habe, erinnere ich mich an
Gesichter und Geschichten. Und auch an das Schweigen, das gerade am Anfang
meiner Lesereise nicht selten den Raum füllte.
Oft hätte ich allein anhand des Schweigens schon nach wenigen Momenten
sagen können, ob ich in Ost- oder Westdeutschland bin. In Westdeutschland
wird der Schweigeraum mit Geplapper gefüllt. Wenn in Ostdeutschland
geschwiegen wird, ist es wirklich still. Aber es war kein feindseliges
Schweigen. Geschwiegen wurde aus Hilflosigkeit oder Gewohnheit.
Es war beruhigend zu merken, dass Leute, die Kommentarspalten im Internet
füllen, eher selten Lesungen besuchen. Die Menschen, die zu meinen Lesungen
kommen, sind nicht feindselig. Und auch wenn gerade am Anfang oft das
Schweigen dominierte, sind es Menschen, die sich auseinandersetzen wollen
und die bereit sind, einander zuzuhören.
Dennoch ist es nicht leicht zu sprechen. Ich habe über Gewalt geschrieben.
Über die lange Tradition staatlicher und familiärer Gewalt, die Hand in
Hand miteinander durch die Zeiten gewandelt sind, und davon, dass ebendiese
Gewalt auch ihren Weg auf die Straßen findet, wo sie versucht, die Macht
der Stärkeren über Schwächere zu behaupten.
Diese Gewalt zeigt sich in einem Wunsch nach autoritärer Führung und einem
starken Staat, in dem der Willen einer behaupteten Mehrheit endlich gegen
die angeblich dominante Minderheit durchgesetzt werden würde. Und auch wenn
das Schweigen in Ost und West oft ein anderes Geräusch macht, ist es
dennoch das gleiche.
Es gibt gute Gründe dafür, dass das Sprechen über Gewalt schwerfällt. Die
Gewalt lässt uns verstummen, weil sie hilflos macht. Die Gewalt ist ein
brachialer Verlust von Distanz, den wir nicht kommen sehen, sonst hätten
wir uns ja rüsten und wehren können. Die Gewalt teilt das eigene Erleben in
ein Davor und ein Danach. Sie verändert uns. Sie macht uns wütend,
ängstlich und traurig.
## Nebel über der Vergangenheit
Menschen in Westdeutschland fällt es oft leichter zu sprechen und vor
anderen ihre Erinnerungen, Meinungen und Gefühle zu offenbaren. Außerdem
spielt die Geschichte meines Romans in Ostdeutschland. In Westdeutschland
Aufgewachsenen fällt es auch deswegen leichter zu sprechen, denn sie fühlen
sich von der Erzählung meines Buchs nicht unmittelbar gemeint. Es ist ganz
klar, die Familiengeschichte, die ich erzähle, könnte niemals ihre eigene
sein.
„Ich kenne dieses Schweigen“, sagte eine Frau nach einer Lesung im
südlichsten Westen der Republik. Wir standen vor der Buchhandlung und ich
gab ihr eine Zigarette. Sie erklärte mir, dass sie eigentlich nicht raucht.
Ich zündete nach meiner ersten Zigarette gleich die nächste an.
Das Schweigen, das sie meint, ist das Schweigen über die Vergangenheit. Die
Familiengeschichte in meinem Buch beginnt im Kaiserreich. 1923 wird dann
der Großvater der Erzählerin geboren. In mühsamer Archivarbeit
rekonstruiert sie seine Geschichte vom Aufwachsen im Lumpenproletariat der
Weimarer Republik, dem Dienst in der Wehrmacht, den er nur durch eine
schwere Verwundung überlebte, denn diese rettete ihn aus dem Kessel von
Stalingrad.
Ein Leben, das in der DDR schließlich seine Erfüllung in einer beachtlichen
akademischen Karriere fand. Der Großvater hat Schuld auf sich geladen. Eine
Schuld, der man in autoritären Systemen schwer ausweichen kann. Doch
darüber wurde in der Familie der Erzählerin nicht gesprochen. Das
Schweigen, das in der DDR staatlich verordnet war, setzt sich nach der
Wiedervereinigung fort.
Die Frau, mit der ich meine Zigaretten teilte, sprach auch von dieser
Schuld und davon, dass ihre Erziehung von Gewalt geprägt war. Es waren die
Nachkriegsjahre, in denen auch in Westdeutschland geschwiegen wurde.
Nicht selten passiert es, dass in den Gesprächen nach Lesungen die
Erinnerung an das Schweigen in den Familien als Gemeinsamkeit zwischen Ost-
und Westdeutschland erkannt wird. Und auch wenn es bei den Lesungen in
Westdeutschland immer mal wieder dazu kommt, dass lange gepflegte
Vorurteile über „den Osten“ in aller Breite vorgetragen werden, gelingt es
mir immer besser, diese Entlastungsversuche zu durchbrechen und auf die
Schweigetradition zu sprechen zu kommen. Auch in Westdeutschland wissen
viele Menschen erstaunlich wenig über die Beteiligung ihrer Vorfahren am
Krieg und Terror der Nationalsozialisten.
Eine Mehrheit glaubt auch hier, dass ihre Eltern, Großeltern oder
Urgroßeltern zwischen 1933 und 1945 entweder Opfer oder Gegner des
Naziregimes waren. Vielleicht noch Mitläufer, aber dann ganz sicher solche,
die niemandem geschadet haben.
„Ich weiß nicht einmal, wo mein Vater in Gefangenschaft war“, sagte die
Frau und ergänzte, dass sie schon oft darüber nachgedacht hätte, die Sache
mal zu recherchieren. Ich versuchte ihr Mut zu machen. Es wäre gar nicht so
schwer. Man bräuchte nur Geduld.
Es ist ein seltsames Paradox, das ich noch nicht durchdrungen habe. Nichts
prägt die deutsche Identität so sehr wie die immer detailliertere, immer
differenzierte und auch kritisch hinterfragte Erinnerungskultur. Kaum eine
politische Debatte kommt ohne den Bezug zur Vergangenheit aus.
Das betrifft nicht nur die Debatten um unser [9][Verhältnis zu Israel].
Auch in der Frage um Waffenlieferungen in die Ukraine oder den Umgang mit
Geflüchteten ist die deutsche Geschichte stets präsent. Aber die
Verstrickungen der eigenen Vorfahren bleiben davon oft unberührt, wie in
einem märchenhaften Nebel, der über ein Land vor unserer Zeit schwebt.
Der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland ist lediglich, dass das
Schweigen im Osten mehr Schichten hat.
## Der Mut derjenigen, die sprechen
„Es war ein merkwürdiger Abend“, schrieb ein User im April auf Twitter üb…
meine erste Lesung in Ostdeutschland, die in Jena stattfand. Ich fragte
nach, was ihn so verwundert habe, und er erklärte, dass eben kein Gespräch
mit dem Publikum zustande gekommen sei. Ich erinnerte mich gut an Jena und
es stimmte, ein Gespräch gab es nicht. Keine Fragen aus dem Publikum, kaum
Anmerkungen.
Gerade anfangs musste ich bei meinen Lesungen im Osten lernen, diese Stille
auszuhalten. Zu warten und immer wieder zum Gespräch aufzufordern. Oft
hatte ich das Gefühl, dass die Menschen zwar sprechen wollten, aber
besonders in kleinen Orten oft Angst haben, nicht die richtigen Worte zu
finden oder sich vor ihren Nachbarinnen und Nachbarn zu offenbaren. Ich war
im Gegensatz zu ihnen ja auch in der einfacheren Position. Ich würde am
Abend wieder nach Berlin fahren. Sie würden einander schon morgen wieder
begegnen.
Der Mut derjenigen, die dann jedoch begannen zu sprechen, hat mich tief
beeindruckt. Ich werde nicht vergessen, wie Frauen von den letzten
Kriegstagen in den Städten entlang der Havel erzählten. Wie sie vorsichtig
nach Worten suchten. Mit Halbsätzen begannen und dann doch von ihrem
eigenen und dem Leid ihrer Mütter erzählten, an deren Körpern nicht selten
die Rache der sowjetischen Soldaten vollzogen wurde.
Sie sprachen auch über die grausamen Konsequenzen, die der Befehl „Sieg
oder Untergang“ in den letzten Kriegstagen vor allem für ihre Brüder hatte.
Ich weiß noch, wie mir plötzlich auffiel, dass die Älteren bei einer der
Lesungen vor allem Frauen waren, und als ich mit meinem Auto die Stadt
verließ, sah ich plötzlich ganz deutlich die Spuren des Krieges. Entlang
der Hauptstraße nur Neubaublöcke und zwischen diesen Plattenbauten einzelne
Backsteinhäuser, wie die letzten echten Zähne in einem reparierten Gebiss.
Nicht vergessen werde ich den Mann, der immer wieder sagte, wie normal doch
die ganze Gewalt sei, die in dem Buch geschildert wird. Er sagte das nicht,
um die Gewalt abzutun, auch das begriff ich erst später, sondern um den
anderen im Raum mitzuteilen, dass es ihm auch so ergangen war und dass er
es auch nicht vergessen kann.
## Tröstende, ängstigende Ostsee
Mit meinem Freund Anton spreche ich oft über die Lesungen. Besonders dann,
wenn mir Leserinnen erzählen, dass ihnen die Gewalt, die meine Erzählerin
Stine in ihrer Familie erlebt hat, vertraut ist. So vertraut, dass sie das
Gefühl haben, ich hätte ihr eigenes Leben aufgeschrieben.
Ich bin dann meist kurz angebunden. Versuche das Gespräch schnell zu
beenden, weil es mich überfordert. Es berührt mich und ich würde sie gern
trösten. Sie vertrauen mir ihren Schmerz an, aber ich kann ihn nicht
lindern.
„Pass auf dich auf“, sagt Anton, „das ist nicht deine Aufgabe.“ Aber was
bedeutet es dann, wenn ich doch betone, dass wir einander zuhören müssen.
Dass wir über die Gewalt sprechen müssen, um zu verhindern, dass sie immer
wiederkehrt? In den Familien, in den Schulen und auf den Straßen. Dass die
Gewalt von uns Besitz ergreift und dass sie Politik macht.
Manchmal denke ich daran, wie ich als Jugendliche in meinem Versteck am
Strand saß. Kaum sichtbar für die Spaziergänger hinter einer ausgerissenen
Baumwurzel. Ich tat nichts, als den Ostseewellen zu lauschen und mir
vorzustellen, dass dieses Geräusch schon immer da war und lange nach mir
bleiben würde. Tröstend und ängstigend zugleich. Die Geschichten von der
endlosen Gewalt sind wie dieses Geräusch. Und würde ich ins Meer gehen,
würde ich eintauchen in all die Geschichten, würde es mich fortspülen.
Während ich durch das Land fahre, füllt sich das Notizbuch auf meinem
Smartphone mit Meldungen über rechtsextreme Vorfälle. Ich speichere die
Artikel. Der [10][erste Landrat mit AfD-Parteibuch], Schüler*innen in
Brandenburg, die sich mit Hitlergruß begegnen, Lehrer*innen, die dagegen
vorgehen wollen und deshalb [11][mit SA-Methoden in ihrem Wohnort verfolgt
werden]. Eine Regenbogenflagge, die auf dem Bahnhof in Neubrandenburg
gestohlen [12][und durch einen Hakenkreuzflagge ersetzt wurde]. Ein
Twitter-Thread über eine Schuldirektorin in Sachsen, die mit der
identitären Bewegung verbandelt ist und einen bekannten Rechtsextremen in
ihrer Schule AGs leiten lässt.
Auf montäglichen „Friedendemos“ in Görlitz erklingt in diesem Jahr wieder
regelmäßig der Ruf „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!“ Und in
Sebnitz in Sachsen gibt es eine Demo mit 400 Teilnehmenden, nachdem ein
Nazischlägertrupp in eine Geflüchtetenunterkunft eingedrungen ist. Die
Demonstrant*innen bekunden lautstark ihre Solidarität mit den Tätern.
## Große Einigkeit beim Asylrecht
Doch wir haben in diesem Jahr auch erlebt, dass Angriffe auf die Demokratie
und ihre Institutionen ebenso aus den Reihen der demokratischen Parteien
kamen. Der stellvertretende Ministerpräsident von Bayern ist mit einer
halbgaren Entschuldigung für ein [13][antisemitisches Flugblatt]
davongekommen, um gleich danach zu behaupten, es hätte sich bloß um eine
Pressekampagne gegen ihn gehandelt. Dabei schlug er Töne an, die an Trump
oder die Rufe der „Lügenpresse“ erinnerten. Sein Koalitionspartner und
Ministerpräsident Markus Söder nutzt Social Media inzwischen wie ein
rechter Troll.
Ohne zu zögern, stimmte er auf Twitter in den Chor der rechten
Kulturkämpfer ein, die im fehlenden Weihnachtsbaum in einer Hamburger Kita
das Unterdrücken christlicher Kultur erkannten. Auch als sich der Vorfall
als Falschmeldung herausstellte und er darauf hingewiesen wurde, dass die
Mitarbeiterinnen, Kinder und Eltern der Kita von einem rechten Shitstorm
betroffen seien, zuckte er nur mit den Schultern. Hätte schließlich auch
stimmen können und dann wäre es schlimm.
Ein Teil der Ampelkoalition freute sich über das Scheitern des eigenen
Haushaltsentwurfs und stimmte genüsslich in den Hohn über das eigene
Kabinett mit ein. Der Bundeskanzler wiederum verhöhnte die Institution des
parlamentarischen Untersuchungsausschusses, in dem er, der sonst so stolz
darauf ist, was er sich alles merken kann, behauptete, sich ausgerechnet an
Treffen mit den wichtigsten Bänkern der Stadt Hamburg nicht zu erinnern. Er
hält es wohl weder für nötig, die Kontrollfunktion des Parlaments zu
achten, noch den Verdacht auszuräumen, einer Bank im Fall einer kapitalen
Steuerhinterziehung mit Nachsicht begegnet zu sein.
Und die größte Einigkeit herrscht inzwischen in Fragen der
Asylrechtsverschärfung. Das erinnert an die 90er Jahre, als man auf den
Rechtsruck in der Gesellschaft ebenfalls mit einer Gesetzesänderung für
Asylsuchende reagierte. Heute suggerieren Politiker*innen, dies hätte
damals die Gesellschaft befriedet. Aber das ist falsch, und da man dies mit
wenigen Klicks im Internet herausfinden kann, muss man davon ausgehen, dass
diese Behauptung eine bewusste Lüge ist.
Die [14][Asylrechtsverschärfung der 90er] hat den Startschuss für die
brutalste Welle rechter Gewalt gesetzt, denn die Politik hat mit ihr den
Tätern das Gefühl gegeben, sie hätten recht. Tatsächlich war vor allem in
Ostdeutschland Protest immer dann politisch wirksam, wenn er rechtsextrem
war.
## Gemeinsam nachts wach bleiben
Und dennoch. Das Jahr 2023 hat mir auch Hoffnung gemacht. Dass überhaupt
eine Regenbogenflagge auf einem Mecklenburger Bahnhof gehisst wurde. Dass
es in Bautzen und Weißenfels zum ersten Mal CSD-Paraden gab. Dass es nun
Lehrer*innen gibt, die nicht mehr wegsehen, wenn ihre Schüler*innen
offen rechtsextrem agieren. All das macht mir Hoffnung.
Regelmäßig fahre ich seit dem Sommer am Wochenende nach Sachsen, um dort
gemeinsam mit Menschen an der B96 für einen offene und demokratische
Gesellschaft zu demonstrieren.
Dass Rechtsextremismus in den ländlichen Regionen Sachsens die bestimmende
Kultur ist, ist dort offen sichtbar. Sprüche an Firmenwagen,
Reichskriegsfahnen an Autofenstern und die demonstrative Beflaggung des
Vorgartens verdeutlichen: Hier schämt sich niemand mehr, ein Nazi zu sein,
und muss sich weder vor beruflichen Konsequenzen noch vor
gesellschaftlicher Ächtung sorgen.
Im Gegenteil, wer sich offen für eine demokratische Gesellschaft einsetzt,
so die Erzählungen der anderen Teilnehmenden, muss mit nächtlichen
Drohanrufen, Gängelungen am Arbeitsplatz und Post von örtlichen
Neonazigruppen rechnen. Die Angst vor einer rechten Machtübernahme ist in
Ostdeutschland sehr konkret. Und die Leichtfertigkeit, mit der auch
demokratische Politiker zum rechtspopulistischen Repertoire greifen, ihre
Kabinettskollegen lächerlich machen oder parlamentarische Kontrollgremien
ins Leere laufen lassen, macht gerade den Menschen, die sich unter diesen
schwierigen Bedingungen für eine freie Gesellschaft einsetzen, Angst.
Aber ich weigere mich, die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung zu
akzeptieren. Ich habe in diesem Jahr ein wütendes, ängstliches und oft
trauriges Land erlebt. Ein Land, dem es noch immer schwerfällt, über die
eigene Geschichte zu sprechen. Darüber, was sie mit uns gemacht hat. Aber
ich stelle mir vor, dass wir alle gemeinsam nachts wach liegen und statt zu
schlafen überlegen, wie wir es besser können.
29 Dec 2023
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## AUTOREN
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