# taz.de -- Schweigen über Gewalt in der DDR: Durchwachte Nächte | |
> In ihrem Debütroman ergründet Anne Rabe, wie die Gewalt der DDR bis heute | |
> nachwirkt. Hier berichtet sie vom Schweigen bei ihrer Lesereise. | |
Vor einigen Jahren habe ich einen Text geschrieben, der mein Debütroman | |
werden sollte. Um das Manuskript fertigzustellen, bekam ich ein Stipendium | |
vom Deutschen Literaturfonds. Das ist für Schriftsteller*innen so etwas | |
wie der Sechser im Lotto. Ich habe den Text fertig geschrieben, aber er ist | |
nie veröffentlicht worden. Kein Verlag wollte ihn haben. Einmal habe ich | |
das Manuskript einer Agentin vorgelegt, doch sie lehnte ihn ab. „Wissen | |
Sie, das ist ein guter Text“, erklärte sie mir am Telefon, „aber wenn | |
jemand in eine Buchhandlung kommt und nach einem schönen Buch fragt, dann | |
würde ich demjenigen nicht unbedingt dieses Buch empfehlen.“ | |
An das Telefonat mit der Agentin habe ich in diesem Jahr oft gedacht. Denn | |
2023 habe ich tatsächlich mein Prosadebüt veröffentlicht. Der Text ist | |
besser als mein erster Versuch. Und trotzdem dachte ich, na ja, | |
wahrscheinlich ist das auch so ein Buch, das Buchhändler*innen nicht | |
unbedingt empfehlen würden, wenn man sie um ein „schönes“ Buch bittet. | |
[1][Mein Roman „Die Möglichkeit von Glück“] erzählt die Geschichte einer | |
SED-Familie und vor allem erzählt er von Gewalt. Von Gewalt in Familien, | |
Gewalt durch den Staat, durch Krieg und Armut. Der Roman setzt sich mit der | |
deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert auseinander und ist ein Versuch, zu | |
verstehen, wie diese Geschichte bis heute nachwirkt. Es ist ganz sicher | |
kein „schönes“ Buch, aber es stand einige Wochen auf der | |
Spiegel-Bestsellerliste, und das hat auch etwas damit zu tun, dass | |
Buchhändler*innen es ihren Kund*innen empfohlen haben. Dafür bin ich | |
dankbar, denn ich hatte nicht damit gerechnet. | |
Das Jahr 2023 jedoch wartete mit einer [2][neuen Ost-Debatte] auf und | |
plötzlich wurde wieder diskutiert. Jedoch nicht nur in den Feuilletons der | |
großen Zeitungen. Schon bald nach Erscheinen meines Romans im März füllte | |
sich mein Kalender mit immer neuen Stationen einer Lesereise. | |
Zu Beginn der Reise war ich unsicher. Das Buch ist ein sehr persönlicher, | |
ein intimer Text. Ich wusste schon, in jedem Interview und bei jeder | |
Veranstaltung würde man mich fragen: „Ist dieser Text autobiografisch?“ Die | |
Frage liegt auf der Hand. | |
## Es war Sommer, 30 Jahre Mauerfall | |
In dem Buch versucht die Erzählerin Stine der Geschichte ihrer Familie auf | |
den Grund zu gehen. Diese Erzählerin und ich teilen biografische Eckdaten | |
wie etwa das Geburtsjahr. Für die Frage nach dem biografischen Gehalt hatte | |
ich mir deshalb eine Antwort zurechtgelegt: „Was die Erzählerin umtreibt, | |
das hat auch mich beim Schreiben umgetrieben. Die Fragen, die sie sich | |
stellt, habe auch ich mir oft gestellt.“ | |
Das stimmte und ermöglichte mir trotzdem eine gewisse Distanz. Sobald ein | |
Text in der Welt ist, braucht es die Autor*in eigentlich nicht mehr. Was | |
ich erzählen wollte, habe ich aufgeschrieben in der Hoffnung, es möge ein | |
Vehikel sein, miteinander ins Gespräch zu kommen. | |
2019 hatte ich begonnen, an ersten Versuchen für den Roman zu arbeiten. Das | |
war im Sommer, wir feierten 30 Jahre Mauerfall und im Herbst standen | |
Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen an. Die damaligen | |
Prognosen zeigten, dass ein Wahlsieg [3][der AfD] in allen drei | |
Bundesländern möglich wäre. | |
Die Jahre davor waren im Osten von einer Welle großer Proteste | |
gekennzeichnet. Es begann ungefähr im Jahr 2014 [4][mit Pegida]. Und mit | |
der Geflüchtetenkrise 2015 wurden diese Proteste zunehmend gewalttätiger | |
und richteten sich gegen demokratische Institutionen der Bundesrepublik. | |
Pressevertreter*innen wurden immer häufiger auch tätlich angegriffen | |
und Politiker*innen auf Demonstrationen symbolisch an Balken | |
aufgehängt. | |
Immer wieder kam es während dieser Demonstrationen zu Übergriffen auf | |
Migrant*innen und [5][der rechte Terror] fand in Halle, Hanau und dem | |
Mord an Walter Lübcke traurige Tiefpunkte. Mit der AfD hatte diese rechte | |
Welle plötzlich eine parlamentarische Vertretung auf allen Ebenen. | |
Der Rechtsrutsch fand nicht nur in Ostdeutschland statt, aber dort hatte | |
und hat er noch immer sein finsteres Zentrum. 2019 wurde deutlich, dass in | |
Ostdeutschland etwas möglich sein könnte, was die Bundesrepublik lange für | |
ausgeschlossen hielt. Mit Björn Höcke könnte zum ersten Mal nach 1945 | |
wieder ein Faschist in ein Regierungsamt gewählt werden. Ich fragte mich | |
damals, warum das so ist und warum es mir zugleich so vertraut vorkommt. | |
Deshalb begann ich über mein eigenes Aufwachsen nachzudenken. Und über die | |
Beschaffenheit der Gesellschaft, in der sowohl ich als auch die Person | |
einst Kind war. Eine Gesellschaft, die Angela Merkel 2015 in Heidenau mit | |
„Du dumme Fotze, zeig dein hässliches Gesicht. Steig ruhig ein in deine | |
hässliche Kutsche, du Hure!“ beschimpft hat. Denn die Auswertungen der | |
Wahlergebnisse zeigten, dass sich das Wahlverhalten in Ost- und | |
Westdeutschland sehr unterschied. Wählten in Westdeutschland hauptsächlich | |
die sogenannten alten, weißen Männer die AfD, waren es im Osten vor allem | |
diejenigen, die so alt waren wie ich. Menschen, die zur Zeit der | |
Wiedervereinigung Kinder oder Jugendliche waren. | |
Bevor ich also begann, mein Buch zu schreiben, führte ich Interviews. | |
Zunächst vor allem mit meinen Schulfreund*innen. Mit einigen von ihnen | |
hatte ich viele Jahre kaum Kontakt. Wir hatten nie über unsere Kindheit | |
gesprochen. Aber in allen Gesprächen ging es nun sehr schnell vor allem um | |
ein Thema – Gewalt. | |
Gewalt in den Familien, in Schulen und auf der Straße. Im Herbst 2019 würde | |
Christian Bangel für die Zeit, in der ich Kind war, die 90er Jahre im | |
Osten, [6][den Begriff „Baseballschlägerjahre“ prägen]. Aber in den | |
Gesprächen mit meinen Schulfreund*innen ging es nicht nur um die Angst | |
vor Nazis. Die Gewalt zog sich durch alle Lebensbereiche und war in uns | |
selbst gekrochen. Manchmal erschraken wir über das, was man uns zugemutet | |
hatte, und das, was wir einander zugemutet hatten. Auch in den Gesprächen | |
mit anderen Interviewpartner*innen, die ich im Laufe der Recherche | |
kennenlernte, ging es um dieses Lebensgefühl, das wir nun, mit dem | |
zeitlichen Abstand und der Sicherheit, in unseren Leben angekommen zu sein, | |
allmählich formulieren konnten. Das war der Grund dafür, dass mein Roman so | |
persönlich wurde. Ich wollte mit aller Offenheit darlegen, was mich seit | |
vielen Jahren quälte. | |
Ich bin ein wütender Mensch. Ein ängstlicher und trauriger. Oft liege ich | |
nachts wach. Meine Gedanken kreisen um Dinge, die ich getan habe, Worte, | |
die ich gesagt habe, und das, was ich verpasst habe zu tun, zu denken oder | |
auszusprechen. In endlosen Schleifen versuche ich vergeblich Korrekturen | |
vorzunehmen. Es ist der hilflose und meist verzweifelte Versuch, das Chaos | |
in mir zu bändigen. | |
Als ich begonnen habe, das Buch zu schreiben, wollte ich, dass es so wird | |
wie eine dieser durchwachten Nächte. Ich wollte dem Chaos eine Form geben, | |
weil ich das Gefühl hatte, dass es vielen Menschen so ging wie mir. | |
Besonders denjenigen, die zur gleichen Zeit in der gleichen Landschaft | |
aufgewachsen waren. Hineingeboren in die Agonie der DDR, die keine | |
Versprechungen mehr bereithielt, und groß geworden im Chaos einer | |
allumfassenden Transformation. Umgeben von Erwachsenen, die selbst nicht | |
mehr wussten, wo oben und unten ist und die keine Kapazitäten für die | |
Bedürfnisse ihrer Kinder frei hatten. Die Wut der keifenden Frau aus | |
Heidenau, vielleicht war das die gleiche Wut wie die, die mich nachts | |
wachhielt. Der Schrecken, den sie mit ihrem Hass verbreitete, vielleicht | |
war es der gleiche wie der, der mich so oft lähmte. | |
## Ein Freund sagt mir: Bleib auf Distanz! | |
Ein Freund, ich nenne ihn Anton, hatte vor der Lesereise Sorge um mich. Er | |
befürchtete nicht nur, dass mir Hass entgegenschlagen könnte, Ablehnung und | |
vielleicht auch tätliche Angriffe. Er befürchtete auch, ich würde das alles | |
zu sehr an mich ranlassen. | |
Aber ich freute mich. Und ich versicherte ihm, ich käme schon zurecht. Wenn | |
man Texte veröffentlicht und besonders als Frau, ist man es gewohnt, | |
angegriffen zu werden. Seit ich 2008 mein erstes Theaterstück „Achtzehn | |
Einhundertneun – Lichtenhagen“ über die Nachwendejahre in Mecklenburg | |
veröffentlich habe, kenne ich alle Varianten verschriftlichter, meist | |
männlicher Aggression. Das reicht von Fantasien über sexualisierte Gewalt, | |
dem Absprechen jeglicher Kompetenz bis zur Androhung tödlicher Übergriffe. | |
Ich versuche davon möglichst wenig wahrzunehmen. Hassmails erkenne ich nach | |
wenigen Worten. Ich überfliege sie bloß und schiebe sie dann ins Archiv. | |
Tweets mit hoher Reichweite stelle ich auf stumm, damit ich die Antworten | |
anderer User nicht mehr sehe und wenn jemand auf meiner Website nach meiner | |
Adresse sucht, findet er nur ein Postfach. | |
Das alles konnte Anton nicht beruhigen. Er fürchtete nicht nur die Wut der | |
Menschen. Er ahnte auch, ich könnte zu durchlässig sein für die Geschichten | |
meiner Leser*innen, und sagte: „Du musst auf Distanz bleiben.“ Ich weiß | |
nicht, ob er recht hat. Aber ich weiß jetzt, was er meint. | |
Als ich zu den ersten Stationen der Lesereise fuhr, hoffte ich noch etwas | |
mehr über unser Land zu erfahren. Wo es steht im Jahr 2023. Damals ahnte | |
ich nicht, dass wir am Ende des Jahres mit [7][einem so ausufernden | |
Antisemitismus] konfrontiert sein würden, dass jüdische Menschen in | |
Deutschland sich berechtigterweise fragen, ob sie hier überhaupt noch | |
sicher sind. Aber dass es ein wichtiges Jahr werden würde, wusste ich. Ein | |
Jahr, das erkennen lassen würde, ob das bisher Undenkbare noch verhindert | |
werden kann. | |
2019 noch hatte ich geglaubt, wir wären mit dem Rechtsruck auf einem | |
Höhepunkt angelangt. Zwar würden die blauen Braunen nicht verschwinden, | |
aber zumindest war es ihnen nicht gelungen, in einem der ostdeutschen | |
Bundesländer zur stärksten Kraft zu werden. Und in dem Moment, als Björn | |
Höcke und seine Truppe in Thüringen die demokratischen Parteien vorführten | |
und den [8][FDP-Mann Thomas Kemmerich] zum Ministerpräsidenten wählte, | |
war es ausgerechnet Christian Lindner, der androhte, zurückzutreten, und | |
damit die demokratischen Reihen schloss. Es schien, als hätte sich der | |
bundesrepublikanische Konsens, nicht mit Rechtsextremen zusammenzuarbeiten, | |
noch einmal fest in die parlamentarische Arbeit eingeschrieben. | |
Doch ich hatte mich geirrt. 2024 wird wieder gewählt in Sachsen, | |
Brandenburg und Thüringen, und allen Prognosen zufolge ist in jedem der | |
drei Länder ein Wahlsieg der AfD wahrscheinlich. Ein Trend, der sich im | |
gerade abgelaufenen Jahr verstetigte. | |
Wenn ich nun noch einmal durch meinen Kalender sehe und die Namen der Orte | |
lese, an denen ich aus meinem Buch gelesen habe, erinnere ich mich an | |
Gesichter und Geschichten. Und auch an das Schweigen, das gerade am Anfang | |
meiner Lesereise nicht selten den Raum füllte. | |
Oft hätte ich allein anhand des Schweigens schon nach wenigen Momenten | |
sagen können, ob ich in Ost- oder Westdeutschland bin. In Westdeutschland | |
wird der Schweigeraum mit Geplapper gefüllt. Wenn in Ostdeutschland | |
geschwiegen wird, ist es wirklich still. Aber es war kein feindseliges | |
Schweigen. Geschwiegen wurde aus Hilflosigkeit oder Gewohnheit. | |
Es war beruhigend zu merken, dass Leute, die Kommentarspalten im Internet | |
füllen, eher selten Lesungen besuchen. Die Menschen, die zu meinen Lesungen | |
kommen, sind nicht feindselig. Und auch wenn gerade am Anfang oft das | |
Schweigen dominierte, sind es Menschen, die sich auseinandersetzen wollen | |
und die bereit sind, einander zuzuhören. | |
Dennoch ist es nicht leicht zu sprechen. Ich habe über Gewalt geschrieben. | |
Über die lange Tradition staatlicher und familiärer Gewalt, die Hand in | |
Hand miteinander durch die Zeiten gewandelt sind, und davon, dass ebendiese | |
Gewalt auch ihren Weg auf die Straßen findet, wo sie versucht, die Macht | |
der Stärkeren über Schwächere zu behaupten. | |
Diese Gewalt zeigt sich in einem Wunsch nach autoritärer Führung und einem | |
starken Staat, in dem der Willen einer behaupteten Mehrheit endlich gegen | |
die angeblich dominante Minderheit durchgesetzt werden würde. Und auch wenn | |
das Schweigen in Ost und West oft ein anderes Geräusch macht, ist es | |
dennoch das gleiche. | |
Es gibt gute Gründe dafür, dass das Sprechen über Gewalt schwerfällt. Die | |
Gewalt lässt uns verstummen, weil sie hilflos macht. Die Gewalt ist ein | |
brachialer Verlust von Distanz, den wir nicht kommen sehen, sonst hätten | |
wir uns ja rüsten und wehren können. Die Gewalt teilt das eigene Erleben in | |
ein Davor und ein Danach. Sie verändert uns. Sie macht uns wütend, | |
ängstlich und traurig. | |
## Nebel über der Vergangenheit | |
Menschen in Westdeutschland fällt es oft leichter zu sprechen und vor | |
anderen ihre Erinnerungen, Meinungen und Gefühle zu offenbaren. Außerdem | |
spielt die Geschichte meines Romans in Ostdeutschland. In Westdeutschland | |
Aufgewachsenen fällt es auch deswegen leichter zu sprechen, denn sie fühlen | |
sich von der Erzählung meines Buchs nicht unmittelbar gemeint. Es ist ganz | |
klar, die Familiengeschichte, die ich erzähle, könnte niemals ihre eigene | |
sein. | |
„Ich kenne dieses Schweigen“, sagte eine Frau nach einer Lesung im | |
südlichsten Westen der Republik. Wir standen vor der Buchhandlung und ich | |
gab ihr eine Zigarette. Sie erklärte mir, dass sie eigentlich nicht raucht. | |
Ich zündete nach meiner ersten Zigarette gleich die nächste an. | |
Das Schweigen, das sie meint, ist das Schweigen über die Vergangenheit. Die | |
Familiengeschichte in meinem Buch beginnt im Kaiserreich. 1923 wird dann | |
der Großvater der Erzählerin geboren. In mühsamer Archivarbeit | |
rekonstruiert sie seine Geschichte vom Aufwachsen im Lumpenproletariat der | |
Weimarer Republik, dem Dienst in der Wehrmacht, den er nur durch eine | |
schwere Verwundung überlebte, denn diese rettete ihn aus dem Kessel von | |
Stalingrad. | |
Ein Leben, das in der DDR schließlich seine Erfüllung in einer beachtlichen | |
akademischen Karriere fand. Der Großvater hat Schuld auf sich geladen. Eine | |
Schuld, der man in autoritären Systemen schwer ausweichen kann. Doch | |
darüber wurde in der Familie der Erzählerin nicht gesprochen. Das | |
Schweigen, das in der DDR staatlich verordnet war, setzt sich nach der | |
Wiedervereinigung fort. | |
Die Frau, mit der ich meine Zigaretten teilte, sprach auch von dieser | |
Schuld und davon, dass ihre Erziehung von Gewalt geprägt war. Es waren die | |
Nachkriegsjahre, in denen auch in Westdeutschland geschwiegen wurde. | |
Nicht selten passiert es, dass in den Gesprächen nach Lesungen die | |
Erinnerung an das Schweigen in den Familien als Gemeinsamkeit zwischen Ost- | |
und Westdeutschland erkannt wird. Und auch wenn es bei den Lesungen in | |
Westdeutschland immer mal wieder dazu kommt, dass lange gepflegte | |
Vorurteile über „den Osten“ in aller Breite vorgetragen werden, gelingt es | |
mir immer besser, diese Entlastungsversuche zu durchbrechen und auf die | |
Schweigetradition zu sprechen zu kommen. Auch in Westdeutschland wissen | |
viele Menschen erstaunlich wenig über die Beteiligung ihrer Vorfahren am | |
Krieg und Terror der Nationalsozialisten. | |
Eine Mehrheit glaubt auch hier, dass ihre Eltern, Großeltern oder | |
Urgroßeltern zwischen 1933 und 1945 entweder Opfer oder Gegner des | |
Naziregimes waren. Vielleicht noch Mitläufer, aber dann ganz sicher solche, | |
die niemandem geschadet haben. | |
„Ich weiß nicht einmal, wo mein Vater in Gefangenschaft war“, sagte die | |
Frau und ergänzte, dass sie schon oft darüber nachgedacht hätte, die Sache | |
mal zu recherchieren. Ich versuchte ihr Mut zu machen. Es wäre gar nicht so | |
schwer. Man bräuchte nur Geduld. | |
Es ist ein seltsames Paradox, das ich noch nicht durchdrungen habe. Nichts | |
prägt die deutsche Identität so sehr wie die immer detailliertere, immer | |
differenzierte und auch kritisch hinterfragte Erinnerungskultur. Kaum eine | |
politische Debatte kommt ohne den Bezug zur Vergangenheit aus. | |
Das betrifft nicht nur die Debatten um unser [9][Verhältnis zu Israel]. | |
Auch in der Frage um Waffenlieferungen in die Ukraine oder den Umgang mit | |
Geflüchteten ist die deutsche Geschichte stets präsent. Aber die | |
Verstrickungen der eigenen Vorfahren bleiben davon oft unberührt, wie in | |
einem märchenhaften Nebel, der über ein Land vor unserer Zeit schwebt. | |
Der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland ist lediglich, dass das | |
Schweigen im Osten mehr Schichten hat. | |
## Der Mut derjenigen, die sprechen | |
„Es war ein merkwürdiger Abend“, schrieb ein User im April auf Twitter üb… | |
meine erste Lesung in Ostdeutschland, die in Jena stattfand. Ich fragte | |
nach, was ihn so verwundert habe, und er erklärte, dass eben kein Gespräch | |
mit dem Publikum zustande gekommen sei. Ich erinnerte mich gut an Jena und | |
es stimmte, ein Gespräch gab es nicht. Keine Fragen aus dem Publikum, kaum | |
Anmerkungen. | |
Gerade anfangs musste ich bei meinen Lesungen im Osten lernen, diese Stille | |
auszuhalten. Zu warten und immer wieder zum Gespräch aufzufordern. Oft | |
hatte ich das Gefühl, dass die Menschen zwar sprechen wollten, aber | |
besonders in kleinen Orten oft Angst haben, nicht die richtigen Worte zu | |
finden oder sich vor ihren Nachbarinnen und Nachbarn zu offenbaren. Ich war | |
im Gegensatz zu ihnen ja auch in der einfacheren Position. Ich würde am | |
Abend wieder nach Berlin fahren. Sie würden einander schon morgen wieder | |
begegnen. | |
Der Mut derjenigen, die dann jedoch begannen zu sprechen, hat mich tief | |
beeindruckt. Ich werde nicht vergessen, wie Frauen von den letzten | |
Kriegstagen in den Städten entlang der Havel erzählten. Wie sie vorsichtig | |
nach Worten suchten. Mit Halbsätzen begannen und dann doch von ihrem | |
eigenen und dem Leid ihrer Mütter erzählten, an deren Körpern nicht selten | |
die Rache der sowjetischen Soldaten vollzogen wurde. | |
Sie sprachen auch über die grausamen Konsequenzen, die der Befehl „Sieg | |
oder Untergang“ in den letzten Kriegstagen vor allem für ihre Brüder hatte. | |
Ich weiß noch, wie mir plötzlich auffiel, dass die Älteren bei einer der | |
Lesungen vor allem Frauen waren, und als ich mit meinem Auto die Stadt | |
verließ, sah ich plötzlich ganz deutlich die Spuren des Krieges. Entlang | |
der Hauptstraße nur Neubaublöcke und zwischen diesen Plattenbauten einzelne | |
Backsteinhäuser, wie die letzten echten Zähne in einem reparierten Gebiss. | |
Nicht vergessen werde ich den Mann, der immer wieder sagte, wie normal doch | |
die ganze Gewalt sei, die in dem Buch geschildert wird. Er sagte das nicht, | |
um die Gewalt abzutun, auch das begriff ich erst später, sondern um den | |
anderen im Raum mitzuteilen, dass es ihm auch so ergangen war und dass er | |
es auch nicht vergessen kann. | |
## Tröstende, ängstigende Ostsee | |
Mit meinem Freund Anton spreche ich oft über die Lesungen. Besonders dann, | |
wenn mir Leserinnen erzählen, dass ihnen die Gewalt, die meine Erzählerin | |
Stine in ihrer Familie erlebt hat, vertraut ist. So vertraut, dass sie das | |
Gefühl haben, ich hätte ihr eigenes Leben aufgeschrieben. | |
Ich bin dann meist kurz angebunden. Versuche das Gespräch schnell zu | |
beenden, weil es mich überfordert. Es berührt mich und ich würde sie gern | |
trösten. Sie vertrauen mir ihren Schmerz an, aber ich kann ihn nicht | |
lindern. | |
„Pass auf dich auf“, sagt Anton, „das ist nicht deine Aufgabe.“ Aber was | |
bedeutet es dann, wenn ich doch betone, dass wir einander zuhören müssen. | |
Dass wir über die Gewalt sprechen müssen, um zu verhindern, dass sie immer | |
wiederkehrt? In den Familien, in den Schulen und auf den Straßen. Dass die | |
Gewalt von uns Besitz ergreift und dass sie Politik macht. | |
Manchmal denke ich daran, wie ich als Jugendliche in meinem Versteck am | |
Strand saß. Kaum sichtbar für die Spaziergänger hinter einer ausgerissenen | |
Baumwurzel. Ich tat nichts, als den Ostseewellen zu lauschen und mir | |
vorzustellen, dass dieses Geräusch schon immer da war und lange nach mir | |
bleiben würde. Tröstend und ängstigend zugleich. Die Geschichten von der | |
endlosen Gewalt sind wie dieses Geräusch. Und würde ich ins Meer gehen, | |
würde ich eintauchen in all die Geschichten, würde es mich fortspülen. | |
Während ich durch das Land fahre, füllt sich das Notizbuch auf meinem | |
Smartphone mit Meldungen über rechtsextreme Vorfälle. Ich speichere die | |
Artikel. Der [10][erste Landrat mit AfD-Parteibuch], Schüler*innen in | |
Brandenburg, die sich mit Hitlergruß begegnen, Lehrer*innen, die dagegen | |
vorgehen wollen und deshalb [11][mit SA-Methoden in ihrem Wohnort verfolgt | |
werden]. Eine Regenbogenflagge, die auf dem Bahnhof in Neubrandenburg | |
gestohlen [12][und durch einen Hakenkreuzflagge ersetzt wurde]. Ein | |
Twitter-Thread über eine Schuldirektorin in Sachsen, die mit der | |
identitären Bewegung verbandelt ist und einen bekannten Rechtsextremen in | |
ihrer Schule AGs leiten lässt. | |
Auf montäglichen „Friedendemos“ in Görlitz erklingt in diesem Jahr wieder | |
regelmäßig der Ruf „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!“ Und in | |
Sebnitz in Sachsen gibt es eine Demo mit 400 Teilnehmenden, nachdem ein | |
Nazischlägertrupp in eine Geflüchtetenunterkunft eingedrungen ist. Die | |
Demonstrant*innen bekunden lautstark ihre Solidarität mit den Tätern. | |
## Große Einigkeit beim Asylrecht | |
Doch wir haben in diesem Jahr auch erlebt, dass Angriffe auf die Demokratie | |
und ihre Institutionen ebenso aus den Reihen der demokratischen Parteien | |
kamen. Der stellvertretende Ministerpräsident von Bayern ist mit einer | |
halbgaren Entschuldigung für ein [13][antisemitisches Flugblatt] | |
davongekommen, um gleich danach zu behaupten, es hätte sich bloß um eine | |
Pressekampagne gegen ihn gehandelt. Dabei schlug er Töne an, die an Trump | |
oder die Rufe der „Lügenpresse“ erinnerten. Sein Koalitionspartner und | |
Ministerpräsident Markus Söder nutzt Social Media inzwischen wie ein | |
rechter Troll. | |
Ohne zu zögern, stimmte er auf Twitter in den Chor der rechten | |
Kulturkämpfer ein, die im fehlenden Weihnachtsbaum in einer Hamburger Kita | |
das Unterdrücken christlicher Kultur erkannten. Auch als sich der Vorfall | |
als Falschmeldung herausstellte und er darauf hingewiesen wurde, dass die | |
Mitarbeiterinnen, Kinder und Eltern der Kita von einem rechten Shitstorm | |
betroffen seien, zuckte er nur mit den Schultern. Hätte schließlich auch | |
stimmen können und dann wäre es schlimm. | |
Ein Teil der Ampelkoalition freute sich über das Scheitern des eigenen | |
Haushaltsentwurfs und stimmte genüsslich in den Hohn über das eigene | |
Kabinett mit ein. Der Bundeskanzler wiederum verhöhnte die Institution des | |
parlamentarischen Untersuchungsausschusses, in dem er, der sonst so stolz | |
darauf ist, was er sich alles merken kann, behauptete, sich ausgerechnet an | |
Treffen mit den wichtigsten Bänkern der Stadt Hamburg nicht zu erinnern. Er | |
hält es wohl weder für nötig, die Kontrollfunktion des Parlaments zu | |
achten, noch den Verdacht auszuräumen, einer Bank im Fall einer kapitalen | |
Steuerhinterziehung mit Nachsicht begegnet zu sein. | |
Und die größte Einigkeit herrscht inzwischen in Fragen der | |
Asylrechtsverschärfung. Das erinnert an die 90er Jahre, als man auf den | |
Rechtsruck in der Gesellschaft ebenfalls mit einer Gesetzesänderung für | |
Asylsuchende reagierte. Heute suggerieren Politiker*innen, dies hätte | |
damals die Gesellschaft befriedet. Aber das ist falsch, und da man dies mit | |
wenigen Klicks im Internet herausfinden kann, muss man davon ausgehen, dass | |
diese Behauptung eine bewusste Lüge ist. | |
Die [14][Asylrechtsverschärfung der 90er] hat den Startschuss für die | |
brutalste Welle rechter Gewalt gesetzt, denn die Politik hat mit ihr den | |
Tätern das Gefühl gegeben, sie hätten recht. Tatsächlich war vor allem in | |
Ostdeutschland Protest immer dann politisch wirksam, wenn er rechtsextrem | |
war. | |
## Gemeinsam nachts wach bleiben | |
Und dennoch. Das Jahr 2023 hat mir auch Hoffnung gemacht. Dass überhaupt | |
eine Regenbogenflagge auf einem Mecklenburger Bahnhof gehisst wurde. Dass | |
es in Bautzen und Weißenfels zum ersten Mal CSD-Paraden gab. Dass es nun | |
Lehrer*innen gibt, die nicht mehr wegsehen, wenn ihre Schüler*innen | |
offen rechtsextrem agieren. All das macht mir Hoffnung. | |
Regelmäßig fahre ich seit dem Sommer am Wochenende nach Sachsen, um dort | |
gemeinsam mit Menschen an der B96 für einen offene und demokratische | |
Gesellschaft zu demonstrieren. | |
Dass Rechtsextremismus in den ländlichen Regionen Sachsens die bestimmende | |
Kultur ist, ist dort offen sichtbar. Sprüche an Firmenwagen, | |
Reichskriegsfahnen an Autofenstern und die demonstrative Beflaggung des | |
Vorgartens verdeutlichen: Hier schämt sich niemand mehr, ein Nazi zu sein, | |
und muss sich weder vor beruflichen Konsequenzen noch vor | |
gesellschaftlicher Ächtung sorgen. | |
Im Gegenteil, wer sich offen für eine demokratische Gesellschaft einsetzt, | |
so die Erzählungen der anderen Teilnehmenden, muss mit nächtlichen | |
Drohanrufen, Gängelungen am Arbeitsplatz und Post von örtlichen | |
Neonazigruppen rechnen. Die Angst vor einer rechten Machtübernahme ist in | |
Ostdeutschland sehr konkret. Und die Leichtfertigkeit, mit der auch | |
demokratische Politiker zum rechtspopulistischen Repertoire greifen, ihre | |
Kabinettskollegen lächerlich machen oder parlamentarische Kontrollgremien | |
ins Leere laufen lassen, macht gerade den Menschen, die sich unter diesen | |
schwierigen Bedingungen für eine freie Gesellschaft einsetzen, Angst. | |
Aber ich weigere mich, die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung zu | |
akzeptieren. Ich habe in diesem Jahr ein wütendes, ängstliches und oft | |
trauriges Land erlebt. Ein Land, dem es noch immer schwerfällt, über die | |
eigene Geschichte zu sprechen. Darüber, was sie mit uns gemacht hat. Aber | |
ich stelle mir vor, dass wir alle gemeinsam nachts wach liegen und statt zu | |
schlafen überlegen, wie wir es besser können. | |
29 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Post-DDR-Roman-von-Anne-Rabe/!5959234 | |
[2] /Romane-von-Charlotte-Gneuss-und-Anne-Rabe/!5963332 | |
[3] /Schwerpunkt-AfD/!t5495296 | |
[4] /Schwerpunkt-Pegida/!t5008701 | |
[5] /Schwerpunkt-Rechter-Terror/!t5007732 | |
[6] /Baseballschlaegerjahre-in-Wernigerode/!5941578 | |
[7] /Antisemitismus-in-Deutschland/!5968473 | |
[8] /Zusammenarbeit-von-FDP-CDU-und-AfD/!5974293 | |
[9] /Die-deutsche-Linke-und-Israel/!5977774 | |
[10] /Fuenf-Monate-AfD-Landrat-in-Thueringen/!5978732 | |
[11] /Drohungen-gegen-Lehrkraefte-in-Brandenburg/!5947345 | |
[12] /Volksverhetzung-in-Neubrandenburg/!5951701 | |
[13] /Presserat-zur-Aiwanger-Berichterstattung/!5974206 | |
[14] /Betroffene-ueber-Rechtsextremismus/!5873062 | |
## AUTOREN | |
Anne Rabe | |
## TAGS | |
Rechtsextremismus | |
Schwerpunkt AfD | |
Debütroman | |
Belletristik | |
Schriftstellerin | |
Podcast „Vorgelesen“ | |
Deutsche Einheit | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
Literatur | |
Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Autorin über Nachwendekinder: „Ich feiere Nie-Wieder-Vereinigung“ | |
Ein Gespräch unter Nachwendekindern über das Trauma der Arbeitslosigkeit, | |
gebrochene Nasen und Sekt am dritten Oktober. | |
Buchpreis für Tonio Schachinger: „Feinsinnige Ironie“ | |
Der Deutsche Buchpreis 2023 geht an Tonio Schachinger. Sein Roman | |
„Echtzeitalter“ erzählt die Geschichte eines Gymnasiasten im Wiener | |
Eliteinternat. | |
Romane von Charlotte Gneuß und Anne Rabe: Was hast du vor 1989 gemacht? | |
Eine 68er-Bewegung für den Osten? Die DDR-Romane von Charlotte Gneuß und | |
Anne Rabe arbeiten daran. Rabe könnte den Buchpreis erhalten. | |
Post-DDR-Roman von Anne Rabe: Mit tiefer Verletzlichkeit | |
Anne Rabe analysiert Familienstrukturen und übt Systemkritik. Ihr | |
Debütroman „Die Möglichkeit von Glück“ ist ein heftiges Buch. |