# taz.de -- Presserat zur Aiwanger-Berichterstattung: Keine Unschuld vom Lande | |
> Die Berichterstattung der „SZ“ über die antisemitische Flugblattaffäre | |
> des bayrischen Ministers Hubert Aiwanger war zulässig. Die Presse darf | |
> nicht kuschen. | |
Bild: Hubert Aiwanger am 7. September bei einer Sondersitzung im Bayerischen La… | |
Recherche zu Missständen gehört zu den Kernaufgaben des Journalismus. Doch | |
in den letzten Jahren wehren sich Beschuldigte immer vehementer gegen | |
Berichterstattung über ihre Leichen im Keller. | |
Einer von ihnen: Hubert Aiwanger. Der bayrische Wirtschaftsminister soll | |
laut Recherchen der Süddeutschen Zeitung aus diesem Jahr als Teenager | |
Flugblätter in seinem Rucksack herumgetragen haben, auf denen als „Preis“ | |
für „Vaterlandsverräter“ (wer damit gemeint war, bleibt bis heute unklar) | |
ein „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ ausgelost wurde. | |
Doch statt zu bereuen, berief sich Aiwanger in mafiöser Manier darauf, | |
niemanden „verpfeifen“ zu wollen. Prompt bekannte sein Bruder, der | |
Verfasser des Hassdokuments zu sein. Und Aiwanger ging zum Gegenangriff | |
über: Die SZ habe es auf ihn abgesehen, wolle seine Wiederwahl gefährden. | |
Die Berichterstattung sei mangelhaft, Aiwanger Opfer einer Kampagne. Das | |
behaupteten in Windeseile auch konservative bis rechte Medien. Die NZZ | |
tauschte gar die Rollen: Statt um tiefdeutschen Antisemitismus [1][gehe es | |
hier um Verfehlungen der SZ.] | |
Nun hat der Deutsche Presserat [2][Klarheit in die Sache gebracht]: Er | |
lehnt 18 Beschwerden zur Verdachtsberichterstattung der SZ als unbegründet | |
ab. An der Vergangenheit eines führenden Politikers herrsche erhebliches | |
öffentliches Interesse. Auch, dass der geschilderte Sachverhalt 35 Jahre | |
zurückliege und Aiwanger noch (knapp) minderjährig war, werde durch die | |
„gravierenden“ Vorwürfe kompensiert. Ziffer 8 des Pressekodexes, der den | |
Persönlichkeitsschutz regelt, sei nicht verletzt worden. Auch die | |
Salamitaktik des SZ-Rechercheteams, Details in nacheinander | |
veröffentlichten Texten bekannt zu machen, habe nicht gegen die | |
Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 verstoßen. | |
## Keine Vorverurteilung | |
Der Presserat ist zwar kein Gericht, sondern ein Träger der Verlage zur | |
freiwilligen Selbstkontrolle der Branche. Aber sein Urteil hat Gewicht. Die | |
meisten Medien ändern ihre Berichterstattung und sprechen Entschuldigungen | |
aus, wenn sie gerügt werden. | |
Aiwanger hatte auch behauptet, er werde im Gericht der öffentlichen Meinung | |
vorverurteilt. Das sieht der Presserat anders: Die Vorwürfe seien als | |
solche und nicht als Tatsachen gekennzeichnet gewesen. Außerdem habe | |
Aiwanger die Gelegenheit bekommen, sich vorab gegenüber der SZ zu äußern. | |
Das ist für korrekten Journalismus absolut zentral, geht aber immer wieder | |
im moralischen Eifer unter. Die SZ hat in der Recherche sauber gearbeitet. | |
([3][Auch wenn es stilistische Probleme gab.]) | |
Wer sich unsauber verhalten hat ist Aiwanger selbst: Auf die Fragen der SZ | |
reagierte er mit Klagedrohung. Seine Strategie ist wohlbekannt: DARVO: | |
Deny, attack, reverse victim and offender, also leugnen, angreifen, Opfer | |
und Täter umkehren. Die Strategie beschrieben Psychologinnen erstmals, um | |
das Verhalten von pathologischen Narzissten und Sexualstraftätern zu | |
beschreiben. Mittlerweile ist es Standard in der Krisenkommunikation. Es | |
ist enorm wichtig, solche Strategien zu erkennen, um sie ins Leere laufen | |
zu lassen – auch, um die Demokratie zu schützen. | |
Dass Aiwanger trotz der Offenbarung, dass er das Flugblatt mindestens mit | |
sich herumtrug, trotz Zeugenaussagen, er habe [4][den Hitlergruß gezeigt | |
und judenfeindliche Witze gemacht], nicht zurückgetreten ist und bei den | |
Landtagswahlen sogar noch belohnt wurde, [5][ist eine Zäsur in der | |
Bundesrepublik]. Aiwanger hatte sogar die Frechheit, kürzlich über | |
„importierten Antisemitismus“ zu schwafeln, wo er doch gerade das | |
prominenteste Beispiel für [6][den hier gezüchteten, noch immer schwelenden | |
Antisemitismus] ist. | |
Diese Projektion auf marginalisierte Gruppen ist ein Beispiel dafür, wie | |
immer mehr aus dem Fokus gerät, wer Macht und Einfluss hat und wer nicht. | |
Wessen Einstellung moralisch zu verurteilen und [7][wessen wirklich | |
gefährlich ist]. Darum ist es so wichtig, dass der Presserat klarstellt: | |
Aiwanger ist nicht das Opfer. Aiwanger hat Macht, bei ihm durfte und musste | |
man besonders genau hinschauen. | |
6 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nzz.ch/meinung/aiwanger-die-affaere-um-den-politiker-wird-zur-a… | |
[2] https://www.presserat.de/presse-nachrichten-details/beschwerden-ueber-aiwan… | |
[3] /Nazi-Pamphlet/!5953155 | |
[4] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-08/flugblattaffaere-hubert-aiw… | |
[5] /Umgang-mit-dem-Fall-Aiwanger/!5957990 | |
[6] /Holocaust-Vergleiche/!5963348 | |
[7] /Minderheitenschutz-in-Bayern/!5967939 | |
## AUTOREN | |
Caspar Shaller | |
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