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# taz.de -- Braune Tradition zwischen Main und Alpen: Bayern schafft sich ab
> Die Gegend zwischen Lech und Inn war stets Projektionsfläche für Derbes
> und Zünftiges. Mit Söder und Aiwanger ist die Sache leider nicht mehr
> lustig.
Bild: Der Niederbayer Hubert Aiwanger im Bierzelt zu Maisach
Bayern war eine Erfindung des Auslands. Im fünften Jahrhundert nach
Christus räumten die römischen Legionen die randständige Provinz Rätien und
nahmen die meisten Menschen mit über die Alpen nach Italien. Die
Zurückgebliebenen, ihrer romanischen Sprache wegen später Walchen (Welsche)
genannt, begründeten eine typisch bayerische Eigenschaft, das
Hockenbleiben; in der Fachliteratur ist von Oknophilie die Rede, der Laie
spricht von Heimatverbundenheit.
Stoßweise füllte sich im Folgenden der geleerte Raum mit einer
multikulturellen Melange, für die sich in der Forschung der Begriff
Sauhaufen etabliert hat. Um diese frontier stritten sich die angrenzenden
Ostgoten, Oströmer und Franken, Letztere waren am Ende siegreich und
setzten eines ihrer Geschlechter als Herzöge ein, damit eine Ruh’ war.
Wie die Menschen zwischen Lech und Inn, Donau und Alpen – unter ihnen viele
Hunnen – zum Namen Bayern kamen, weiß niemand. Wie die Historikerin
Brigitte Haas-Gebhard („Die Baiuvaren“) vermutet, handelt es sich „mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ um eine Bezeichnung, die von
außen vergeben wurde.
Dass sich die dort zusammen Raufenden später großes Ansehen unter ihren
Nachbarn erworben hätten, wird man nicht behaupten können. Schwer lasteten
die Drogen Bier und Katholizismus auf dem Land, Faulheit, Grobheit und
Freude am Gesang galten als Hauptcharakterzug der Bevölkerung, getreu dem
Sprichwort: „Wenn der Bauer nicht muss, rührt er weder Hand noch Fuß.“
## Das triste Bayern schnellstmöglich loswerden
Gefensterlt und geschnackselt wurde bei all der Muße frei und unverhohlen,
noch meine geliebte Urgroßmutter aus der Mühldorfer Gegend, die ich nie
ohne Rosenkranz in der Hand gesehen habe, hat ihre Kinder ganz
selbstverständlich unehelich bekommen, bis sie der Uropa dann doch noch vor
den Altar kriegte. Auf einer Berliner Karte von 1875, auf der das frisch
gegründete Deutsche Reich sich seiner blonden und blauäugigen Kinder zu
versichern glauben musste – warum nur? –, [1][wird Bayern rassistisch als
Land der Dunkelhaarigen und Braunäugigen markiert].
Die heimische Linie des herrschenden Geschlechts starb ob der Verhältnisse
im 18. Jahrhundert deprimiert aus, ein Pfälzer Verwandter musste übernehmen
und wollte das Land gleich an den damals noch größeren Nachbarn Österreich
veräußern.
Auch der einzige bedeutende Staatsmann, den Bayern je gehabt hat,
Maximilian von Montgelas, dachte zu Beginn seiner Tätigkeit unter dem
späteren ersten bayerischen König Max nur daran, wie man [2][„dieses ganze
triste Bayern“] schnellstmöglich wieder loswerden könnte. Aber dann blieb
er. Und schuf einen rabiat säkularisierten und autoritären Zentralstaat,
dabei mit Einsetzen der Romantik stark angefeindet von
katholisch-volkstümlich-antisemitischen Kreisen (heute: Freie Wähler).
## Ein Hort des Urpopulismus
Wer mag, kann hier den gleichen Gegensatz sehen wie aktuell beziehungsweise
während der eingangs skizzierten wilden Anfänge des bayerischen
Gesellschaftsgefüges: nämlich den zwischen besinnungslos dem Geselchten,
Gebrauten, Geheiligten und Geschlechtlichen hingegebenen Natives und oft
unfreiwillig zugereisten Eliten, die etwas Vernünftiges mit den ihnen
zugefallenen Ländereien und Wesen anzufangen suchten.
Bayern ist mit dieser präbürgerlichen Konstellation ein Hort des
Urpopulismus mit eingebauter Selbstopposition bei beständiger
Volk-Herrscher-Interaktion unter Drogen („Bierzelt“), von oben changierend
– [3][sehr gut an Söders Coronapolitik zu sehen] – zwischen Zuckerl und
Züchtigung, dabei mit einem für deutsche Verhältnisse [4][hohen Anteil
direktdemokratischer Elemente.]
Das Verhältnis der Menschen zur Obrigkeit gestaltet sich einerseits im
Duktus antiautoritär, um sich nach Aufwallung doch rasch wieder knatschig
zu fügen: ein Dauergranteln, dessen typischstes Symbol der Bierkrawall ist,
die bayerische Variante der Revolution, ausgelöst durch Verteuerung des
Grundberuhigungsmittels. Wenn ich noch mal meine geliebte Urgroßmutter als
Beleg anführen darf: Sie ernährte sich in ihren letzten Jahren vorwiegend
von in dunkles Bier eingebrockten Semmeln, dabei stets vorparadiesisch
lächelnd.
Wenn das Volk sich von den Eliten verraten fühlte, etwa durch den Anschluss
an das deutsche Kaiserreich 1871, dann suchte es Zuflucht bei einer
Lichtgestalt, einem seine Untergebenen vergewaltigenden schwulen König zum
Beispiel, dem „Kini“, der selbstverständlich einem preußisch-städtischen
Mordanschlag zum Opfer gefallen sein musste. Lieder, die den Tod Ludwig
II. so interpretierten, [5][blieben bis zur Revolution 1918 verboten].
## Lichtgestalten und Volkserzieher
Spätere Lichtgestalten hießen Hitler (oder sein Bruder), Schönhuber
(Republikaner), Brunner (Bund freier Bürger) und eben nun Aiwanger. Typisch
für die Lichtgestalt ist, dass sie die zu ihr Aufstoßenden gründlich
verachtet und nach höheren Sphären strebt: Wer möchte schon sein Leben als
Bierzeltanimator fristen?
Einer, der die Rollen von Lichtgestalt und autoritärem Volkserzieher
schweißglänzend vereinigte, war der CSU-Don [6][Franz Josef Strauß], ein
[7][hochbegabter Krimineller] und skrupelloser Demagoge. Als er 1978
Ministerpräsident in München wurde, konnte es ihm gar nicht genug
pressieren, wieder dahin zu kommen, wo wirklich etwas entschieden wurde,
damals nach Bonn. Dazu passend verfügte Strauß, dass in der Bayernhyme von
„deutscher Erde“ gesungen werden sollte statt von einer
provinziell-grattlerigen „Heimaterde“. Wie alle seine Vorgänger und
Nachahmer scheiterte er allerdings damit, sich oder das Land in die
wirklich erste Klasse zu pushen.
Zum Glück, wenn man so will: Dachau stand am Beginn des
Vernichtungslagersystems, Nürnberg war die „Stadt der Reichsparteitage“ und
München die „Hauptstadt der Bewegung“, der Führer (oder sein Bruder)
residierte in Berchtesgaden.
Als in Bonn der Feind in Form der sozialliberalen Koalition an die Macht
kam, erreichte der heute vergessene Politiker Alfons Goppel
([8][NSDAP-Mitgliedsnummer 5.495.933]) das beste Wahlergebnis ever, 62,1
Prozent wählten 1974 CSU und damit ihn zum Ministerpräsidenten. Davon ist
Markus Söder für die am 8. Oktober anstehenden Landtagswahlen weit
entfernt: Nicht mal eine absolute Mehrheit kann er noch anpeilen,
lächerliche 40 Prozent gelten als Ergebnis, das seinen maßlosen Appetit auf
die Unions-Kanzlerkandidatur untermauern könnte. Landespolitik ist ihm
egal, die Bundesländer nur föderalistische Folklore.
## Hubert Aiwanger sah seine Chance auf eine Hauptrolle
Söder ist als lutherischer Franke das letzte Aufgebot der [9][nach Strauß
und Amigoskandalen] zerbröselnden Staatspartei CSU; das eigentlich
vorgesehene oberbayerische Führungspersonal war schon mit Seehofer nur noch
ein weinerlicher Abklatsch. Übrig geblieben sind atemberaubend schlechte
Witzfiguren wie Ramsauer, Dobrindt oder Scheuer, alle einst im Amt des
Bundesverkehrsministers – mit den bekannten katastrophalen Folgen für
unsere Gesellschaft.
Es ist kein Zufall, dass in diesem zerfallenden Tragödienstadl eine Gestalt
wie Hubert Aiwanger seine Chance auf eine Hauptrolle erkannt und genutzt
hat. Als eine Art Hügelland-Haider bedient er in Nachfolge des alpinen
Urrechtspopulisten jene ehemalige Nazi-CSU-Klientel, die Seehofer in der
menschenfeindlichen rhetorischen Tradition von Franz Josef Strauß mit dem
Gerede von der „letzten Patrone“ noch gerade so im Bierzelt hielt.
Aiwanger zieht pöbelnd über die Lande und durch die Sendeanstalten, als
„rechtspopulistischer Staubsauger mit Dreckschleudervorrichtung“, [10][wie
der Haider-Biograf Klaus Ottomeyer das Phänomen auf den Punkt gebracht
hat.]
## Auch Bayern gehört zu Deutschlnd, mit allen Do's and Dont's
Aiwangers Taktik ist dabei vollkommen globalisiert-trumpisiert, jede Kritik
an ihm ist eine Kampagne, jede obszöne Brutalität, die er äußert, wurde nur
von böswilligen Medien verdreht, wer ihn kritisiert, wird zum
[11][Volksfeind ohne gesunden Menschenverstand] erklärt, der „den Arsch
offen“ hat.
Was an Aiwanger als bayerisch gelten kann, ist, dass er bisher als
[12][„Spinner“,] als Grantler und Grattler durchgehen konnte statt als
[13][ganz normaler deutscher Rechtsradikaler]. Das außerbayerische oder
auch nur münchnerische Ausland hat Aiwanger jede Menschenfeindlichkeit
durchgehen lassen, [14][sogar als er öffentlich für Messerstechereien
plädierte,] immer unter dem Vorbehalt: Ja mei, ein (Nieder-)Bayer halt.
Bayern, wir erinnern uns, ist eine Erfindung des Auslands.
Als klassische „verfolgende Unschuld“ (Karl Kraus), als mindestens
ehemaliger Neonazi – ob er nun mit 15, 16 oder 17 einer war oder nicht, das
ist Aiwanger wie der Mehrzahl der Deutschen nach 1945 beim besten Willen
„[15][nicht erinnerlich“] – hatten Aiwanger und seine Volks- und
Parteigenossen aber eines übersehen, dachte man zumindest bisher: Bayern
gehört zur Bundesrepublik Deutschland, einem strukturell protestantischen
Gebilde, das sich aufgrund seiner verbrecherischen Geschichte und
alliierter Erziehung zumindest auf offizieller Ebene auf gewisse Werte,
umgesetzt in Rituale und Sprachregelungen, auf Dos and Don’ts festgelegt
hat.
Durch den Nasenring der Bierzelte gezogen
Die fortgesetzte Karriere Aiwangers zeigt nun, dass diese moralische
Verabredung nicht mehr gilt. Ermöglicht hat diesen Dammbruch Markus Söder,
aus niedrigen persönlichen und parteipolitischen Motiven. Söder hat damit
auch vorweggenommen, auf welche Weise er die Bundesrepublik regieren würde:
Wer Aiwanger in München deckt, hat wohl auch in Berlin keine Skrupel,
Rechtsradikale in Ministerämter zu berufen.
Aus der blutleeren CSU wird es selbst jetzt niemand schaffen, Söder zu
stoppen. Wie er sich Aiwanger ausgeliefert hat, um von diesem sofort
triumphierend durch den Nasenring der Bierzelte gezogen zu werden, so ist
die CSU, in der Diktion von Franz Josef Strauß, ein Verein „politischer
Pygmäen“ geworden.
Müssen es also wieder einmal Eliten von außerhalb sein, die für
demokratische Ordnung in Bayern sorgen oder wenigstens dafür, dass Bayern
in Bayern, also in seiner eigenen braunen Soße hocken bleibt? Keine Ahnung.
Und wenig Hoffnung.
Dem populistisch-enthemmten Hochgefühl der Aiwanger-Adepten [16][folgt
früher oder später die Bauchlandung]. Bis dahin wird vieles irreparabel
zerstört sein. „Diese Gegend hat mich kaputt gemacht, und ich bleibe so
lange, bis man ihr das anmerkt“, räsonierte schon Herbert Achternbusch vor
bald 50 Jahren im Film [17][„Servus Bayern“]. Das ist jetzt vollendet:
Bayern ist Hubert Aiwanger. Bayern ist Deutschland.
9 Sep 2023
## LINKS
[1] /Ausstellung-im-Hygienemuseum-Dresden/!5509381
[2] http://www.aufklaerung-bayern.de/links_thema.html
[3] /Markus-Soeder-auf-dem-CSU-Parteitag/!5891376
[4] https://www.bayern.landtag.de/parlament/aufgaben-des-landtags/gesetzgebung/…
[5] https://www.youtube.com/watch?v=ifeIvKx7F8I
[6] /Buch-ueber-bayerische-Korruption/!5221877
[7] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/franz-josef-strauss-kassierte-sc…
[8] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/alfons-goppel-hatte-kontakt-zu-n…
[9] /Der-FC-Bayern-und-der-Freistaat/!5653363
[10] /Strategie-rechter-Populisten/!5952055
[11] /Die-Wahrheit/!5937727
[12] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/ex-mitschueler-belasten-…
[13] /Archiv-Suche/!5953380&s/
[14] /Hubert-Aiwanger-will-Messer-fuer-alle/!5631711
[15] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/flugblatt-affaere-soeder-haelt-…
[16] https://www.google.com/search?q=warst+net+aufigstiegn%2C+warst+net+obagfal…
[17] https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Servus+Bayern+(1977…
## AUTOREN
Ambros Waibel
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