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# taz.de -- Nahost-Konflikt in Deutschland: Wann, wenn nicht jetzt?
> Der Comedian Abdul Chahin sagt, er würde den Bezug zur Community nie
> riskieren. Frei ist aber nur, wer sich von der eigenen Gemeinschaft
> emanzipiert.
Bild: Oktober 2023: Propalästinensischer Protest in Berlin-Neukölln
Berlin taz | Der Comedian Abdul Kader Chahin spricht [1][in einem Gespräch
mit der SZ- Journalistin] Nele Pollatschek Klartext – und zwar nicht nur
über den Skandal, dass seine Eltern nach 30 Jahren in Deutschland noch
immer nur befristet aufenthaltsberechtigt sind.
Chahin sagt, er fände es schockierend, dass es in seiner, „in der
palästinensischen Community so viel Verständnis für die Hamas gibt“.
Gleichzeitig sieht er – auch für sich persönlich – die palästinensische
Community als einzigen „sicheren Rückzugsort“, und zwar deswegen, „weil …
Mehrheitsgesellschaft uns so ablehnt“. Seinen „Community-Bezug“ werde er
„niemals riskieren“. Schon „ein dummes Missverständnis“ könne einen d…
Zugang kosten, „dann bist du niemand und hast nichts“. Und schlimmer: Wer
die Community verärgert, der müsse damit rechnen, nur noch mit
„Personenschutz“ durch die Straßen laufen zu können.
Dieses Risiko, von den eigenen Leuten – oder auch von den Vertretern der
Mehrheitsgesellschaft, das wird nicht ganz klar – attackiert zu werden,
wolle er für eben diese Mehrheitsgesellschaft, die ihn ablehne, nicht
eingehen: Ein Risiko allerdings, das, wie Chahin im Gespräch selbst
feststellt, für seine jüdischen Freunde in Deutschland spätestens seit dem
Massaker vom 7. Oktober und der militärischen Antwort Israels Alltag sei –
wenn sie denn auf den gefährlichen Gedanken kämen, die Zugehörigkeit zu
ihrer Community durch Kippa, Davidstern oder ein paar zu laute Worte am
Telefon auf der Straße oder in der U-Bahn zu offenbaren.
## Realistisch und ehrlich
Was Chahin da sagt, ist einerseits offensichtlich realistisch; und wenn
derzeit etwas gebraucht wird, dann ist es Realismus in der Beurteilung der
Lage.
Was es nicht braucht, sind Gratisaufrufe von rund um die Uhr beschützten
Repräsentanten des Staates, sich schützend vor jüdisches Leben zu stellen,
während die Polizei, über deren Einsätze ebendiese Repräsentanten
bestimmen, nicht mal den sicheren Zugang zu einem „koscheren Restaurant“
gewährleistet, weil das nicht die gewünschten autoritär-versichernden
Bilder liefert wie Polizei vor einer Synagoge. So hat die Schriftstellerin
Deborah Feldman zuletzt [2][in der Talkshow von Markus Lanz] und [3][in
einem Interview mit der Frankfurter Rundschau ] von ihrem ungeschützten
Berliner Lieblingsrestaurant berichtet, vor dem 7. Oktober ein Ort der
Toleranz, „im Prinzip meine Gemeinde“.
Chahin ist aber nicht nur realistisch, er ist auch ehrlich, und zwar in
Bezug auf sein Verständnis von Freiheit. Er will sich nicht aus seiner
Community lösen, weil die Alternative dazu sei, „niemand“ zu sein. Und er
wagt den Bruch auch deswegen nicht, weil das Gefahr bedeuten würde.
Mit anderen, realistischen Worten: Abdul Kader Chahin ist Mitglied einer
Sekte. Sie in Richtung einer unbestimmten, ja feindlichen Umgebung hin zu
verlassen, würde die Art von Entschlossenheit erfordern, die der Popkanon
auf die Zeile gebracht hat: „Freedom’s just another word for nothing left
to lose“; und jene Art von Mut, die alle brauchen, die sich Abweichung
nicht straflos hinnehmenden Systemen entziehen wollen – vom Iran über den
bis vor Kurzem von der Hamas als Gefängniswärter kontrollierten
Gazastreifen bis hin zu Putins Russland.
Das sind gewiss radikale, problematische Vergleichsgrößen.
## Zuerst das Eigene
Wenn allerdings klar ist, dass nach dem Massaker vom 7. Oktober und der
israelischen Reaktion darauf – gegen die zu protestieren selbstverständlich
möglich sein muss [4][und auch ist] – alle Lügen der deutschen
Integrationswindel geplatzt sind und es entsprechend stinkt: Wann, wenn
nicht jetzt, wäre radikaler Realismus angebracht? Wann, wenn nicht jetzt,
ist der Moment, alles auf den Tisch zu packen, wenn wir dieses Land nicht
den Hetzern und Lügnern à la AfD, Merz und Aiwanger überlassen wollen?
Mein Kollege Volkan Ağar hat deswegen am Wochenende in der taz [5][eben
genau jetzt „massenhafte Einbürgerung“ gefordert] und vollkommen zutreffend
ausgeführt, rechtliche Ungleichbehandlung habe begünstigt, „dass sich viele
Menschen weder mit dem deutschen Staat noch mit irgendeiner Art von
Staatsräson identifizieren“.
Die andere Seite der Medaille ist, dass es für freie Menschen, insbesondere
für [6][kritische Intellektuelle, immer zuerst das Eigene sein muss], das
individuelle und das gemeinschaftliche, das eigene Ich und die eigene
Familie, welche hinterfragt werden müssen: Es gibt keine Freiheit in einer
palästinensischen Community, die von Unfreiheit bestimmt wird. Wer die Tür
nicht aufstößt, weil es draußen gefährlich sein könnte, ist ein Gefangener,
kein solidarisches Mitglied einer Gemeinschaft.
Mit rechtlosen wie mit gefangenen Menschen können Interessierte viel Böses
anfangen: Nur eine demokratische Gesellschaft – die lässt sich mit ihnen
nicht begründen.
10 Nov 2023
## LINKS
[1] https://www.sueddeutsche.de/kultur/israel-gaza-krieg-antisemitismus-intervi…
[2] https://www.youtube.com/watch?v=yblJzvEw2Go
[3] https://www.fr.de/kultur/literatur/schriftstellerin-deborah-feldman-wir-ste…
[4] /Juedische-Stimmen-nach-Demonstrationen/!5968622
[5] /Migrationsdebatte/!5967950
[6] /Braune-Tradition-zwischen-Main-und-Alpen/!5956403
## AUTOREN
Ambros Waibel
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
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Freiheit
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Antisemitismus
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Migration
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