# taz.de -- Migrationsdebatte: Massenhafte Einbürgerung hilft | |
> Wegen antisemitischer Demos will die CDU Einbürgerung erschweren. Doch | |
> migrantischer Judenhass ist auch Ergebnis restriktiver | |
> Einwanderungspolitik. | |
Bild: Wirksames Werkzeug gegen Zersplitterung: Der schöne bordeauxrote Pass | |
Bevor ich pünktlich zur Volljährigkeit endlich meinen schönen bordeauxroten | |
[1][deutschen Pass in den Händen halten durfte], musste ich ein Versprechen | |
abgeben: Mit einer Unterschrift sollte ich dem deutschen Staat – um dessen | |
Bürger zu werden, ich ein langes und mühevolles bürokratisches Prozedere | |
durchlaufen hatte – versichern, dass ich keine extremistischen oder | |
terroristischen Absichten verfolge und mich zum Grundgesetz bekenne. | |
15 Jahre später erinnert mich CDU-Chef Friedrich Merz daran, wie absurd ich | |
es fand, dass mir der Sachbearbeiter nach allem, was ich als in Deutschland | |
geborene Person bereits geliefert hatte, noch diese Loyalitätserklärung | |
vorlegte. Natürlich unterschrieb ich. Weil ich endlich diesen deutschen | |
Pass haben wollte. Weil ich tatsächlich auch kein Terrorist war. Aber auch | |
ein Terrorist hätte einfach unterschrieben, um den deutschen Pass zu | |
bekommen, und dann seine terroristischen, verfassungsfeindlichen Ziele | |
weiterverfolgt. | |
Merz hatte vergangene Woche angesichts antisemitischer Demonstrationen in | |
Deutschland nach dem barbarischen Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel | |
am 7. Oktober gefordert, die [2][Anerkennung Israels per Unterschrift zur | |
Voraussetzung] einer Einbürgerung zu machen. „Die zu schnelle Einbürgerung | |
muss gestoppt werden“, sagte der Oppositionsführer außerdem. | |
Sein Generalsekretär [3][Carsten Linnemann legte vor wenigen Tagen nach] | |
und forderte den Stopp der von der [4][Ampelregierung beschlossenen | |
Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsrechts]. Demnach sollen sich | |
Personen bereits nach fünf Jahren legalen Aufenthalts für den deutschen | |
Pass bewerben können statt wie bisher nach acht. Außerdem will die | |
Regierung doppelte Staatsbürgerschaften erlauben. | |
„Die Geschehnisse der vergangenen Tage und Wochen haben gezeigt, dass weder | |
die Staatsbürgerschaft noch der bloße Erwerb der deutschen Sprache zu einer | |
entsprechenden Integration in unsere Wertegemeinschaft führen“, sagte | |
Linnemann. Die „Expresseinbürgerung“ sende „völlig falsche Signale“. | |
Auch in einem 26-Punkte-Forderungskatalog der CDU zum Thema Migration heißt | |
es ohne Belege, dass die Erleichterung der Einbürgerung ein Anreiz für | |
illegale Migration darstelle und verhindert werden müsse. Einbürgerung | |
müsse am Ende einer gelungenen Integration stehen, nicht am Anfang, sagen | |
CDU-Politiker immer wieder. | |
## Ungleichbehandlung und Zersplitterung | |
Dabei beweisen antisemitische Demonstrationen, das Feiern von Terror durch | |
Menschen mit Migrationshintergrund und die Empathielosigkeit gegenüber | |
Jüdinnen und Juden gerade das Gegenteil. Das restriktive deutsche | |
Staatsbürgerschaftsrecht hat seine Wurzeln im bis zur Jahrtausendwende (!) | |
einzig geltenden Ius sanguinis, dem Recht des Blutes. Demnach kann jemand | |
nur Deutscher werden, wenn ein Elternteil die deutsche Staatsbürgerschaft | |
besitzt. Es hat offensichtlich nicht dazu geführt, einer politischen, | |
sozialen und moralischen Zersplitterung der Gesellschaft entgegenzuwirken. | |
Vielmehr hat rechtliche Ungleichbehandlung begünstigt, dass sich viele | |
Menschen weder mit dem deutschen Staat noch mit irgendeiner Art von | |
Staatsräson identifizieren, geschweige denn sich als Teil einer deutschen | |
Gesellschaft verstehen, deren Mitglieder sich auf einen demokratischen | |
Grundkonsens einigen. | |
Statt Migrant:innen einzubürgern und sich somit einer unumgänglichen | |
Auseinandersetzung über ein gutes Zusammenleben in einer | |
Einwanderungsgesellschaft zu stellen, die neuen Deutschen dann auch wie | |
jeden anderen Bürger zur Rechenschaft ziehen zu können, ohne sich dabei | |
Vorwürfen der Ungleichbehandlung aussetzen zu müssen, propagierten deutsche | |
Politiker:innen jahrzehntelang einen fehlgeleiteten | |
Multikulturalismus: Sollen die Ausländer doch in ihren eigenen Vierteln ihr | |
eigenes Ding machen, solange sie hier nur hart genug arbeiten und uns | |
Deutsche in Ruhe lassen! | |
## Die Mehrheit schafft die Minderheit erst | |
„Die Erfahrung, in einer Gesellschaft zu leben, die weniger engstirnig, | |
dafür dynamischer und kosmopolitischer wird, sollte begrüßt und gefeiert | |
werden“, schrieb der britische Publizist Kenan Malik vor zehn Jahren in | |
seinem [5][viel beachteten Essay „Das Unbehagen in den Kulturen“]. „Als | |
politischer Prozess bedeutet Multikulturalismus jedoch etwas anderes. Hier | |
beschreibt der Begriff ein Bündel politischer Maßnahmen, um Vielfalt zu | |
verwalten und zu institutionalisieren, indem Menschen in ethnische und | |
kulturelle Schubladen gesteckt werden. Sodann werden ihre individuellen | |
Rechte und Bedürfnisse anhand ebenjener Schubladen bestimmt und die | |
Schubladen so zum Gestalten der öffentlichen Ordnung genutzt.“ | |
Diese Politik, die Minderheitengruppen überhaupt erst geschaffen habe, habe | |
einerseits zur Entfremdung vieler Migrant:innen von der | |
Mehrheitsgesellschaft geführt und andererseits dazu, dass Migrant:innen | |
als Sündenböcke herhalten müssen. | |
Zum Glück erinnere ich mich heute nicht nur an meine schriftliche | |
Distanzierung vom Terrorismus, sondern auch an das schöne Gefühl, endlich | |
mitmachen zu dürfen, als ich als Sohn türkischer Arbeitsmigrant:innen bei | |
meiner ersten Bundestagswahl den Umschlag mit meiner Stimme in die Urne | |
gesteckt habe. | |
Ich erinnere mich daran, wie sehr ich das Privileg einer deutschen | |
Staatsbürgerschaft schätzte, als ich das erste Mal mit dem deutschen Pass | |
gereist bin und nicht von Grenzbeamten aufgehalten wurde. | |
Ich erinnere mich an meine Erleichterung, nicht mehr von der Gunst der | |
deutschen Ausländerbehörde oder des türkischen Konsulats abzuhängen. | |
Welches Demonstrationsverbot, welche Vizekanzleransprache, welcher | |
Polizeieinsatz, welche schriftliche Loyalitätserklärung kann das alles | |
übertreffen, wenn es darum geht, Akzeptanz für und Identifikation mit einem | |
demokratischen Grundkonsens in einer vielfältigen Gesellschaft zu schaffen? | |
## Einbürgerungen statt Sonntagsreden | |
Wer Antisemitismus bekämpfen und demokratische Werte stärken will, muss | |
sich deshalb auch davon verabschieden, die rechtliche Ungleichbehandlung | |
mit leeren folkloristischen Sonntagsreden zu verwalten und migrantische | |
Menschen, die zum Teil seit Jahrzehnten in Deutschland leben und arbeiten, | |
ewig hinzuhalten. | |
Wer jene hehren Ziele verfolgt, muss massenhaft einbürgern – und zwar | |
sofort! | |
Wer dagegen [6][den machtpolitischen Manövern der CDU] folgt, verstärkt die | |
Zersplitterung der postmigrantischen Gesellschaft in Deutschland, die trotz | |
aller restriktiven Migrationspolitik postmigrantisch bleiben wird. Was wir | |
gerade erleben, dürfte dann nur der Anfang eines leidvollen | |
Auflösungsprozesses der Gesellschaft sein. | |
4 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Wahlrecht-ohne-deutschen-Pass/!5788493 | |
[2] https://www.zeit.de/politik/2023-10/friedrich-merz-einbuergerung-israel | |
[3] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/cdu-forderung-einbuergerungsr… | |
[4] /Gesetzentwurf-zur-Staatsbuergerschaft/!5935662 | |
[5] https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/283522/das-unbehagen-in-den-… | |
[6] /Rassistischer-Wahlkampf/!5913773 | |
## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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