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# taz.de -- Romane von Charlotte Gneuß und Anne Rabe: Was hast du vor 1989 gem…
> Eine 68er-Bewegung für den Osten? Die DDR-Romane von Charlotte Gneuß und
> Anne Rabe arbeiten daran. Rabe könnte den Buchpreis erhalten.
Bild: Schriftstellerin Anne Rabe
Eine der interessantesten Figuren in Charlotte Gneuß' derzeit zu Recht so
vielbeachtetem [1][Debütroman „Gittersee“] ist der Mann von der Stasi. Er
heißt Wickwalz. Die 16-jährige Ich-Erzählerin des Romans, Karin, wirbt er
als Inoffizielle Mitarbeiterin an. Sein Trick, bei dem bis zum Schluss
offen bleibt, ob es eine Masche oder ihm ernst ist: Während alle anderen
Erwachsenen Kinder und Jugendliche nicht für voll nehmen, nimmt er sie
ernst.
Einmal versucht er Karin zu erklären, was ihn umtreibt. „Aber denk doch
mal“, sagt er, „den Staat wie ein erstes Kind. Da sehen die Eltern doch
überall Gefahren, da denken die, sie müssen es vor allem Möglichen
beschützen. Verstehst du das, verstehst du.“
Karin versteht schon. Nur dass ihre Eltern sie, ihr erstes Kind, beschützen
würden, das stimmt gar nicht. Vielmehr kümmern sie sich gar nicht groß um
sie. Die bittere Pointe der Szene mit Wickwalz besteht also darin, dass
sich die Erwachsenen in diesem Roman um die eigenen Kinder keineswegs so
engagiert sorgen wie er sich um das System der DDR. Niemand ist hier so
zugewandt wie der Mann von der Stasi. Eine niederschmetternde Wendung.
Stimmt sie historisch? Ist so eine Szene in einem Roman über die 70er Jahre
in der DDR realistisch? Der Schriftsteller Ingo Schulze hat Charlotte Gneuß
in einer öffentlich bekannt gewordenen Liste einige historische Fehler
aufgelistet. Von da aus flackerte eine Debatte auf, ob Gneuß, die 1992 im
Westen geborene Debütantin, die sich in dem Buch auf Erfahrungen ihrer in
der DDR geborenen Eltern stützt, berechtigt ist, so einen Roman zu
schreiben.
Doch es geht Gneuß um etwas anderes als um museumsgerechte
DDR-Rekonstruktion. Sie will auf die Ebene der Gefühle zu kommen und die
damalige gesellschaftliche Situation literarisch zum Sprechen zu bringen.
Was war in den Familien los? Es wirkt fast wie ein versuchter Abwehrzauber,
wenn man mit dem Klammern an einigen Details diese literarische Freiheit
negieren würde.
## Kein Schwarz-Weiß für Täter und Opfer
Den Fokus ihres Romans hat Charlotte Gneuß auf die Familie der Erzählerin
und ihre Freundschaften gelegt. Aber dieser Wickwalz ist mehr als nur eine
Nebenfigur. Er gewinnt eine eigene Tragik. Mit einer
Schwarz-Weiß-Einteilung in Täter und Opfer hat er nichts zu tun. Es geht in
seiner Figurenzeichnung um die Grauwerte. Und er ist eine derjenigen
Figuren, bei denen man, aus dem Romanzusammenhang herausspringend, sehr
gern einmal wüsste, was aus ihnen nach 1990 geworden ist und was sie heute
über das denken, was sie in der DDR gemacht haben.
Eine solche individuell interessierte Fragestellung kommt in den
[2][gegenwärtigen Kollektivdebatten] um die Nachwehen der DDR nicht recht
vor; sie sollte es aber, wenn man ans Eingemachte der Gefühle und der
individuellen Lebensläufe kommen will. Die allgemeinen Debatten
beschäftigen sich mit Fragen wie: Warum sind Ost und West immer noch nicht
gleich? Oder: Raubt der Westen den Ossis ihre Ost-Identität?
Vielfach ist festgestellt worden, dass derzeit Post-Colonial-Ansätze auf
die ostdeutschen Bundesländer angewandt werden, mit den Ostdeutschen als
Kolonisierten. Das ist ein weites Feld. Eines ist jedoch klar: An die Ebene
der Frage nach den individuellen Schicksalen, ob nun auf der
systemkonformen wie auch der oppositionellen Seite, kommen diese Debatten
nicht heran. Sie lenken sogar davon ab.
Charlotte Gneuß dagegen zielt auf diese individuelle Ebene. Von ihrem Roman
aus versteht man gleich, was sie meint, wenn sie in einem bemerkenswert
klaren FAZ-Interview sagt: „Und ja, wir brauchen ein 1968 für unsere
Ostgeschichte, davon bin ich überzeugt.“ Tatsächlich trifft diese Chiffre
etwas. 68, das steht hier für eine breite gesellschaftliche Bewegung, in
der die Nachgeborenen die ältere Generation bis in die eigenen Familien
hinein befragen, was sie in diktatorischen Zeiten gemacht haben, was sie
erlebt haben und inwieweit sie Teil des Systems gewesen sind. Und in der
die Jüngeren sich zugleich selbst befragen, was davon in ihnen selbst noch
nachwirkt.
„Wo wart ihr damals? Was habt ihr vor 1989 gemacht?“ Diese Fragen
artikuliert Charlotte Gneuß in Bezug auf die Elterngeneration in dem
Interview.
## Oma ist sauer, weil sie den Krieg verlor
Aber wird mit der 68er-Chriffre nicht allzu schnell ein Bogen von der
Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, der ja der Hintergrund der
68er-Bewegung-West war, zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit geschlagen?
Nein. Die gewaltigen Unterschiede zwischen NS- und SED-Diktatur werden
damit keinesfalls nivelliert.
Und mit der Figur der Großmutter in ihrem Roman – „Oma meint das nicht so.
Sie ist nur sauer, weil sie den Krieg verloren hat“ – macht Charlotte Gneuß
sehr klar, dass neben der Beschäftigung mit der SED-Diktatur auch die
ernsthafte Auseinandersetzung mit der Nazizeit im Osten vielerorts noch
aussteht. Der offizielle Antifaschismus ersparte vielen Menschen die
Beschäftigung mit dem eigenen individuellen Verhalten.
Charlotte Gneuß’ Schriftstellerkollegin Anne Rabe, Autorin von [3][„Die
Möglichkeit von Glück“,] des zweiten DDR- beziehungsweise Post-DDR-Romans,
der derzeit viel Aufmerksamkeit erhält (und am Montag den Deutschen
Buchpreis gewinnen kann), hat bestimmt nichts gegen ein DDR-68 in diesem
Sinn. Mehr noch, die Autorin, 1986 im Norden der DDR an der Ostsee geboren,
arbeitet schon kräftig und, wenn man recht sieht, auch mit einigem Erfolg
daran, so ein DDR-68 umzusetzen. Auf Lesungen und in öffentlichen
Äußerungen artikuliert Anne Rabe die Gewalterfahrungen, die mit dem
SED-Regime verbunden sind. Die Resonanz ist groß.
Was in dem Roman von Charlotte Gneuß den weiteren Horizont des
Dargestellten darstellt, wird dabei bei Anne Rabe explizit: Es geht um die
Gefühlserbschaften, die von den Gewalterfahrungen der DDR-Zeit ausgehen und
die nachgeborenen Generationen weiterhin beschäftigen.
## Das Miteinander deformiert
Wie wirksam diese Erbschaften bis heute sind, und zwar bis in die
unmittelbaren körperlichen Reaktionen hinein, stellt Anne Rabe deutlich
aus. An einer Stelle ihres Romans heißt es: „Plötzlich wird mir schlecht.
[…] Dieses System ist in die Menschen gekrochen, hat sie geformt und unser
Miteinander deformiert.“ Das bezieht sich im Kontext noch gar nicht einmal
auf die brutalen handgreiflichen Gewalttaten, die es vom DDR-System gegeben
hat, sondern darauf, dass der Großvater der Ich-Erzählerin seine privaten
Verhältnisse intimst den Behörden offenlegen musste, um eine Arbeitsstelle
zu erhalten.
Die Privatheit, auch die Familie waren keine Schutzräume, die dem Zugriff
des Regimes entzogen waren. Es gab den Überbau, für eine bessere,
gerechtere antikapitalistische Welt zu streiten, und die Eltern der
Ich-Erzählerin Stine glauben in dem Roman unbedingt daran – und zugleich
fehlte die Möglichkeit, innerhalb der Familie nahe Beziehungen zwischen der
Eltern- und der Kindergeneration aufzubauen. Das macht das individuelle
Schicksal, das von Anne Rabe geschildert wird, allgemein interessant. Es
trifft auf viele Familien der DDR zu.
Anne Rabe schildert auch handfeste Gewalterfahrungen: Kopfnüsse, brühend
heiße Wannenbäder, ein mit Schlägen auf die Hand abtrainiertes
Linkshändertum, Liebesentzug. Dabei behauptet sie keineswegs, dass solche
Schwarze Pädagogik nur im Osten vorgekommen ist. Es gab sie tatsächlich
auch in Westdeutschland. Nur ist sie, Stichwort 68, dort im Zuge der
gesellschaftlichen Aufbrüche irgendwann problematisiert worden. Eine
Entwicklung, die im Osten mindestens bis zur Wende ausblieb und die, so der
Blick von Anne Rabe, immer noch nachgeholt werden muss.
Die Romane von Charlotte Gneuß und Anne Rabe treffen sich darin, die
staatlich unterstützte emotionale Vernachlässigung der eigenen Kinder
literarisch zu analysieren. Bei Charlotte Gneuß ist ein Vertrauen auf die
Kraft der Literatur selbst, auf die geschlossene Erzählung spürbar. Anne
Rabe zielt eher auf ein Aufbrechen der Form. Stellenweise liest sich das
wie Protokolle einer Ein-Frau-Selbsthilfegruppe und entwickelt darin große
Dringlichkeit.
## Solidarität unter Geschwistern
Was einen bei Anne Rabe genauso in Atem hält wie die Schilderungen des in
die Menschen gekrochenen Systems, ist die unterschwelligen Sicherheit,
dieses Systems auch wieder aus den Menschen herauszukriegen. Analyse hilft,
Selbstreflexion hilft, Solidarität auf Geschwisterebene hilft, der Aufbau
eines Freundesnetzwerks hilft. Und auch das Schreiben arbeitet hier daran,
sich aus dem Bann der Familie herauszuarbeiten und die Rollenmuster durch
tatsächlich persönliche Beziehungen zu ersetzen, etwa auch im Verhältnis zu
den eigenen Kindern.
In beiden Büchern spielen Träume eine große Rolle. Es ist, als wollten die
jeweiligen Erzählerinnen sagen, dass der äußeren Wirklichkeit nicht die
alleinige Macht zukommen soll. Genau daran kann auch die Literatur arbeiten
und tut es hier.
15 Oct 2023
## LINKS
[1] /Charlotte-Gneuss-Roman-Gittersee/!5954741
[2] /Debatte-um-DDR-Geschichte/!5935607
[3] /Post-DDR-Roman-von-Anne-Rabe/!5959234
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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