# taz.de -- Charlotte Gneuß Roman „Gittersee“: Bei der Stasi war alles geh… | |
> Dieser Autorin nimmt man die Alltagsschilderungen aus der DDR ab. | |
> Charlotte Gneuß erzählt in „Gittersee“ von Erwachsenen, die ihre Kinder | |
> verraten. | |
Bild: Leicht manipulierbar: die Volkspolizei im Gespräch mit Jugendlichen, Dre… | |
Menschen möchten gesehen werden, sie wünschen sich, unter dem gnädigen | |
Blick eines anderen Konturen anzunehmen. Und das umso mehr, wenn die eigene | |
Gestalt für sie selbst nicht greifbar ist. Wenn die Grenzen noch nicht | |
bestimmt und die Wünsche noch nicht klar formuliert sind. Adoleszenz, | |
Pubertät oder Jugend nennt man diese Lebensspanne, in der alles möglich | |
scheint, alles Schlimme und Schöne, bis auf eines: Sicherheit. | |
[1][Es ist mithin eine Zeit, in der man leicht manipuliert werden kann.] | |
Das galt wohl immer und überall und also auch im Jahr 1976 am Rande des | |
Dresdner Stadtteils Gittersee, genauer: in einem geparkten Wagen, dessen | |
Fahrer der 16-Jährigen neben ihm eine Zigarette anbietet. Nein, kein | |
körperlicher Übergriff wird hier folgen, durchaus aber ein Missbrauch. | |
Der Mann ist ein Stasi-Offizier, er horcht die junge Karin aus, macht sie | |
zum Spitzel, schenkt ihr Aufmerksamkeit und bekommt dafür Vertrauen. | |
„Damals glaubte ich, dass er mich mochte. Wickwalz sprach ja mit mir wie | |
mit einer ganzen Person. Er gab mir das Gefühl, ich würde immer etwas | |
außerordentlich Kluges sagen. Und alles war herrlich geheim.“ | |
Eine ganze Person zu sein, was immer das bedeuten mag, geht in diesem Alter | |
sicher nicht ohne Hilfe. Was ist mit der Familie der jungen Frau? Man darf | |
sie als Totalausfall bewerten. Karin muss sich ständig um ihre kleine | |
Schwester kümmern, während die Großmutter in Erinnerungen an ihre | |
Flakhelferzeit schwelgt. | |
## Familie ist ein Totalausfall | |
Der Vater hängt an der Flasche, die depressive Mutter zieht aus, um der | |
tristen Ehe zu entkommen und an ihre Träume von einem Leben in | |
intellektuellen Kreisen anzuknüpfen. Sie sei eigentlich ein völlig anderer | |
Mensch, sagt sie mit Tränen in den Augen zu ihrer Tochter, bevor sie das | |
Haus verlässt. | |
Auch Karins Freund Paul tritt die Flucht an, [2][eine Flucht über die | |
Grenze in die Bundesrepublik]. Weswegen in Charlotte Gneuß’ Roman | |
„Gittersee“ dann der Stasi-Mann Wickwalz vor der Tür steht, weswegen das | |
Mächen bald neben ihm sitzt, seine Zigaretten raucht und ihre Freunde | |
verrät, kurz die Ohnmacht loswird und sich dann nur noch verlassener | |
vorkommt. Es ist kaum möglich, in diesem Land jung zu sein, in dem die | |
Alten entweder Täter sind oder es sich in ihrem Opferdasein bequem machen. | |
Sicher ist das System dafür verantwortlich, dass die persönlichen | |
Verhältnisse zu unsicher sind, um sich in ihnen einzurichten, dass niemand | |
hier erreichen kann, was er will, dass alle ständig auf dem Sprung sind: in | |
den Westen, in die Kneipe, in die verklärte Vergangenheit. Doch erkennt man | |
auch in vielen Szenen verpasste Gelegenheiten, das Unheil aufzuhalten, es | |
zumindest abzumildern. | |
Der Vater, die Mutter und Großmutter, die Klassenlehrerin, sie alle könnten | |
Karin helfen und sei es nur dadurch, dass sie ihr etwas mehr Aufmerksamkeit | |
schenkten, aber in den entscheidenden Momenten versagen sie. | |
## Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung | |
Die Autorin ist 1992 in Ludwigsburg geboren, sie kennt die DDR also nicht | |
aus eigener Anschauung, hat laut der Danksagung zu Recherchezwecken aber | |
viel mit ihren Verwandten gesprochen. Gneuß studierte Soziale Arbeit in | |
Dresden, literarisches Schreiben in Leipzig und szenisches Schreiben in | |
Berlin. Den renommierten Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung hat sie | |
bereits erhalten. Nicht ganz überraschend steht Gittersee auch auf der | |
Longlist für den Deutschen Buchpreis, erscheint doch nur selten ein so | |
souverän erzähltes Debüt. | |
Man nimmt Gneuß ohne zu zweifeln die Schilderungen des Alltagslebens in der | |
DDR ab, ihre Figuren hat sie mit souveränem Strich gezeichnet und es | |
bereitet große Freude, mitzuverfolgen, wie genau sie das persönliche mit | |
dem politischen Unrecht verwebt. Vor allem aber hat Gneuß in ihrer Karin | |
eine Figur erfunden, der man nur allzu gerne auch durch andere Staaten und | |
Zeiten folgen würde. | |
Unbeschwert, frech und verliebt hüpft sie anfangs über die Seiten, schließt | |
sich nach der Flucht ihres Freundes nur kurzzeitig heulend in ihrem Zimmer | |
ein, um rasch wieder Verantwortung für die Familie zu übernehmen. Die | |
wenige Jahre alte Schwester betreut sie praktisch im Alleingang, den | |
volltrunkenen Vater spürt sie in seiner Stammkneipe auf und deckt den | |
schlafenden Mann mütterlich mit einer Decke zu. | |
## Unrealistisches Krimi-Setting | |
Diese Erzählerin möchte man furchtbar gerne mögen. Dass einem das schwerer | |
fällt, nachdem sie unter Wickwalz’ freundlichem Blick die Lebensträume | |
ihrer besten Freundin zerstört, wollte die Autorin dem Stasi-Mann offenbar | |
nicht ungesühnt durchgehen lassen. Und so rutscht dieser Roman, der zuvor | |
beeindruckend lebendig eine Coming-of-Age-Geschichte in den viel zu engen | |
Grenzen der DDR-Gesellschaft erzählt hat, leider in den letzten Zügen noch | |
in ein unrealistisches Krimi-Setting ab. | |
Das ist schade, aber die 200 Seiten zuvor entschädigen großzügig für diese | |
Enttäuschung. Denn Gneuß wiederholt nicht lediglich einmal mehr die | |
Geschichte einer tristen DDR, in der Zwänge die Beziehungen zerrütten. Sie | |
erzählt vor allem von Erwachsenen, die zu schwach sind, ihre Kinder zu | |
schützen. | |
1 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Doku-ueber-Punks-in-der-DDR/!5011398 | |
[2] /Feiern-in-der-DDR/!5953902 | |
## AUTOREN | |
Michael Wolf | |
## TAGS | |
wochentaz | |
deutsche Literatur | |
Debütroman | |
DDR | |
Jugend | |
Stasi | |
Pubertät | |
Manipulation | |
Familie | |
Flucht | |
Literatur | |
Literatur | |
DDR | |
Brandenburg | |
30 Jahre friedliche Revolution | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neuer Roman von Markus Berges: Große Gefühle und sozialer Druck | |
Angst vorm Atomstaat, Verliebtheit und Loslösung vom Konformismus: Markus | |
Berges erzählt in „Irre Wolken“ vom Aufwachsen in den Achtzigern. | |
Romane von Charlotte Gneuß und Anne Rabe: Was hast du vor 1989 gemacht? | |
Eine 68er-Bewegung für den Osten? Die DDR-Romane von Charlotte Gneuß und | |
Anne Rabe arbeiten daran. Rabe könnte den Buchpreis erhalten. | |
Podcast „East Side Stories“: Annäherung statt Streit | |
„East Side Stories“ widmet sich der DDR-Historie aus zwei Perspektiven: | |
einerseits tiefgründig, andererseits unterhaltsam. | |
Autor Alexander Kühne im Interview: „Da sind schon Narben geblieben“ | |
In den 80ern organisierte er Punkkonzerte in Brandenburg und eckte an, weil | |
er Make-up trug. Alexander Kühnes Bücher über die DDR-Provinz widerlegen | |
alte Klischees. | |
Gespräch zum Mauerfallgedenken: „So vieles ist unerinnert“ | |
Renate Hürtgen, 72, war Teil der DDR-Opposition. Anna Stiede, 32, gräbt | |
deren Geschichten aus – auch, um die eigene Biografie besser zu verstehen. |