| # taz.de -- Neuer Roman von Markus Berges: Große Gefühle und sozialer Druck | |
| > Angst vorm Atomstaat, Verliebtheit und Loslösung vom Konformismus: Markus | |
| > Berges erzählt in „Irre Wolken“ vom Aufwachsen in den Achtzigern. | |
| Bild: Roman-Autor und Sänger der Band Erdmöbel: Markus Berges | |
| Sie nennen ihn „Tonne“ oder „dicke Sau“ oder „Hoss“ nach dem mittle… | |
| von Ben Cartwright. Wir schreiben das Jahr 1986, also das Tschernobyl-Jahr. | |
| Fotos werden bei „Ihr Platz“ entwickelt, überall wird geraucht, Kopfnüsse | |
| vom Lehrer erhöhen das Denkvermögen. Der Ich-Erzähler ist 19, hat das | |
| Abitur geschafft und macht nun ein freiwilliges soziales Jahr in einer | |
| Psychiatrie. | |
| Er wird vom Vater immer noch regelmäßig ganz normal zusammengebrüllt, hört | |
| im popkulturellen Widerstand Elvis Costello und die Talking Heads, | |
| versucht, Ernst Bloch zu lesen, und wienert sich einen bei Betrachtung | |
| verschatteter Mösen in den Magazinen Playboy oder Lui. Vor allem ist er im | |
| Bann seiner eigenen Peinlichkeit und gibt deshalb den Introvertierten. | |
| Jetzt wird man denken: Aha, männliche [1][Boomer]-Literatur. | |
| Gar nicht. Das ist keine | |
| Im-Schlafanzug-nach-dem-Wannenbad-Rudi-Carrell-Show schauen-Nostalgie. | |
| Zeitgenössische Grusel-Elemente wie „Der Puppenspieler von Mexiko“ oder | |
| „Der Nippel“ werden sparsam und präzise eingesetzt, weil das Zeug halt | |
| damals wirklich lief. | |
| Und [2][Tschernobyl ist zentral,] weil die Frau, in die er sich verliebt, | |
| nach dem Gau in seine Klinik zurückkommt. Sie leidet an Schizophrenie, | |
| genauer an der Wahnvorstellung eines totalitären Atomstaates. Das ist eine | |
| Superpointe, weil das damals in progressiv sein wollenden Kreisen nicht als | |
| Wahn, sondern als notwendige Haltung galt. Die heutigen Wahn- und | |
| Verschwörungsvorstellungen von Rechtspopulisten spiegeln die unsrigen aus | |
| den 80er Jahren, das wird einem beim Lesen klar. | |
| ## Kraft des großen Verliebtseins | |
| Im Kern geht es in diesem Buch aber um etwas anderes, nämlich um die | |
| befreiende Kraft eines großen Verliebtseins in der | |
| Coming-of-Age-Lebensphase. Es ist nämlich so: Liebe und der erste Sex (auf | |
| einem Hochstand) sind einschneidender für ein zu bewältigendes Leben im | |
| Westfälischen als dieser Super-Gau in der Ukraine. | |
| Das erste Buch schreibt man meistens über sich, „autobiografisch“, weil man | |
| selbst die einzige Super-Geschichte ist, die man erzählen kann und erzählen | |
| will. Markus Berges schrieb erstmal zwei Romane, die weit weg waren von | |
| ihm, und das ist gar nicht überraschend für die, die ihn als Sänger und | |
| Texter der wirklich solitären [3][Kölner Band Erdmöbel] kennen. Anders als | |
| Lindenberg, Grönemeyer oder Dingsbums hat er nie Ich-Erzählungen, | |
| Ich-Perspektiven, Ich-Meinungen mit Popmusik transportieren wollen und | |
| schon gar keinen „Diskurs-Rock“ machen. Eine Meinung haben ist keine Kunst, | |
| sagte Berges mal. | |
| An diesem Tag betritt Markus Berges ein Studenten-Café nahe der | |
| Humboldt-Uni in Berlin-Mitte. Jeans, Second-Hand-Jacket, oder jedenfalls | |
| sieht es so aus. Er kommt vom ZDF-Mittagsmagazin Unter den Linden, wo man | |
| seinem Buch 10 oder 15 Minuten gewidmet hat. War offenbar okay, er wirkt | |
| heiter oder sogar aufgekratzt. „Mein Lebensgefühl war immer: Mir ist in | |
| meinem Leben zu langweilig. Da gibt es nichts zu erzählen. Deshalb ist auch | |
| Schreiben über mich langweilig“, sagt er. | |
| Irgendwann habe er begriffen, dass Fiktion Möglichkeiten eröffne, aus der | |
| vermeintlichen Langeweile eines normalen Lebens eine große Geschichte zu | |
| machen. Er nahm das Leben eines 1966 in Telgte geborenen Jungen aus einem | |
| kleinbürgerlich-engen Milieu (damals normal eng, aus heutiger Sicht brutal | |
| eng), der verschiedenstem sozialen Druck ausgesetzt ist. Das verband Berges | |
| mit seinen Erfahrungen als Pflegediensthelfer in der geschlossenen | |
| Psychiatrie, mit dem erwähnten Supergau, der aber viele Leute im gelebten | |
| Alltag längst nicht so durchschüttelte, wie man manchmal denken möchte – | |
| und alles kulminiert in einer verbotenen Liebe dieses Pflegers und einer | |
| Patientin. | |
| ## Der Wahn ist nicht lustig | |
| Sie ist Künstlerin, Fotografin, sie glaubt, dass der „Atomstaat“ ihre | |
| Gedanken absaugt. Die Krankheit ist gar nicht lustig, einmal schlägt sie in | |
| ihrem Wahn fast einen Betreuer tot. Der Junge hat davor nie gegen Gesetz | |
| und Ordnung rebelliert (abgesehen von einem Diebstahl bei „Ihr Platz“, bei | |
| dem er erwischt wurde), aber nun tut er etwas für sie, was für ihn einen | |
| Kontrollverlust bedeutet, der dann die Verliebtheit auslöst. | |
| Das ist der Auslöser für seine Loslösung von dem alles beherrschenden | |
| Konformismusdruck der Law-and-Order-Gesellschaft und speziell vom Vater, | |
| der den Typus Flakhelfer-Generation repräsentiert, die knapp zu jung war, | |
| um dem Nazi-Wahn zu verfallen, aber die Folgen erlitten hat und nun auf | |
| Kleindenken, Regeln und Ball flach halten setzt. | |
| Aber emanzipiert sich auch von der pseudo-rebellierenden Peergroup, etwa | |
| seiner Band, deren kleinster gemeinsamer Distinktions-Nenner darin besteht, | |
| dass sie Deutschrock verabscheuen. Durch diese erste Liebe (davor hat er | |
| nur ein Mädchen geküsst, allerdings ohne Zunge) kann er zugeben, dass er | |
| auch mal eine Supertramp-Phase hatte. Er wird selbstbewusster, größer, | |
| freier. Und weniger dick. | |
| ## War er ein dicker Junge? | |
| Jetzt die uncharmante Frage, aber das will man ja nun schon wissen: War | |
| Markus Berges ein dicker Junge? | |
| „Wenn's nicht Realität gewesen wäre, hätte es mir einfallen müssen“, sa… | |
| er in den Krach des Cafe's hinein. Ein echter Berges-Satz, der sehr | |
| wahrscheinlich auch darauf verweist, was ihm sonst so eingefallen ist, was | |
| nicht „Realität“ war, aber für die gelingende Geschichte notwendig. | |
| Also, ja, er war selbst ein dicker Junge, er wurde ständig gemobbt, er hat | |
| in seinem freiwilligen Jahr nach dem Abitur abgenommen. Aber als er zu | |
| Recherchezwecken mit alten Weggefährten in seine 80er zurücktauchte, | |
| erinnerten die sich kaum noch daran, dass er dick war. Geschweige denn an | |
| das permanente Mobbing. Es spielte womöglich für die Beziehungen eine sehr | |
| viel geringere Rolle, als er immer fürchtete. Sehr wohl allerdings dafür, | |
| das kann man nicht schönreden, wie er in Sachen Liebe bei Mädchen ankam. | |
| Das letzte Drittel des Romans, jetzt wird es spektakulär, hat Berges mit | |
| der Hand geschrieben. Das habe er im Kopf gehabt. Es brauchte keine | |
| Technologie, um die sich entwickelnden Worte und Sätze vielfach zu | |
| überarbeiten und hin und her zu schieben. Es war alles da. | |
| Eine den Schreibprozess betreuende Leserin sagte zu ihm: „Ich habe Angst | |
| vor einem tragischen Ende.“ Ich hatte das beim Lesen zwischendrin auch mal, | |
| Tschernobyl, Tod und so weiter, ich dachte, das würde dann viel zu fett und | |
| was hätte das dann überhaupt für eine größere Wahrheit sein sollen? | |
| ## Tiefergelegter Wumms | |
| Es wird dann ein emotionaler Wumms, aber inhaltlich tiefergelegt, ein | |
| tiefergelegtes gutes Ende in mehrfacher Beziehung. Im Herbst 1986 ist der | |
| Sarkophag über Tschernobyl gebaut, aber das interessiert hier maximal am | |
| Rande. | |
| Der junge Mann reitet in den Sonnenuntergang, seine fetten Jahre sind | |
| vorbei, er findet das handelsübliche Abiturientengeschwätz über Atomstaat | |
| und Frieden jetzt „poplig“, Distinktion über Popbands auch. Und beim Lesen | |
| kulminiert diese besondere Stimmung, die Berges und sein co-genialer | |
| Musikchef Ekimas auch mit Erdmöbel-Songs hervorbringen können; mit der das | |
| Nicht-Sagbare einen Ausdruck bekommt und große Gefühle aufkommen, ohne in | |
| Sentimentalität abzugleiten. | |
| Man denkt: Naja, Revolution braucht der Junge keine, aber Kegelabende und | |
| Kellerbar eben auch nicht. Der wird das schon alles okay hinkriegen. Mit | |
| seinen Eltern, mit einem Leben zwischen Verpflichtung und Freiheit, mit | |
| irgendeinem ordentlichen Beruf, mit einer anderen tollen Frau. | |
| Ist es so gesehen doch Boomer-Literatur geworden? „Das Wort | |
| Boomer-Literatur ist schrecklich“, schreibt Berges an einem anderen Tag auf | |
| Nachfrage. Vielleicht sei er selbst heute ein „Boomer“ im Sinne von | |
| unideologisch und ziemlich pragmatisch. | |
| „Vielleicht bin ich auch einfach nur 57 Jahre alt. Aber mein Ich-Erzähler | |
| ist jung. Und für ihn ist es, wie es für mich selbst mit 19 war: Alles ist | |
| möglich und nichts. Wirklich alles! Und vor allem nichts.“ | |
| 2 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
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