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# taz.de -- Erdmöbel-Album Retrospektive: Hits in ihrem Universum
> Erdmöbel schauen mit ihrem neuen Album "Retrospektive" zurück auf das
> eigene Schaffen und fördern interessantes Neues zutage.
Bild: Die Band Erdmöbel: Lieder werden von ihnen eben nicht gecovert, sondern …
Als Erdmöbel 1995 ihr Debütalbum veröffentlichen wollten, brummten die
Manager von den Plattenfirmen: "Sorry, Leute, aber ihr seid zu alt". Damals
waren sie Ende zwanzig. "Inzwischen heißt es nicht mehr, dass wir zu alt
sind für Popmusik, das ist witzig", sagt Ekimas, musikalischer Kopf und
Produzent von Erdmöbel. Worauf der Sänger und Texter Markus Berges sagt:
"In der Beziehung habe ich mich damals älter gefühlt als heute." Er schaut
prüfend in die Runde. Weils sonst niemand auflösen will, tut er es selbst:
"Ein Bob-Dylan-Zitat."
Ach? Ekimas, Pianist Wolfgang Proppe und Schlagzeuger Christian Wübben
nicken ergebenst. Die vier Künstler sitzen in einem Café im Berliner
Stadtteil Prenzlauer Berg und sprechen über "Retrospektive", ihr neues
Album. Aus ihrer Sicht haben Erdmöbel bereits mit dem Vorgängeralbum
"Krokus" eine neue Schaffensphase erreicht, das heißt einen dramatischen
Presseerfolg, Präsenz in Funk und Fernsehen und vor allem: ein größeres und
breiteres Publikum. Im Kern besteht noch die Indie-geprägte
Stammhörerschaft, aber drum herum sind Jüngere, Ältere, mehr und mehr Leute
dazugekommen, die nicht mehr zu einer identifizierbaren Gruppe gehören, die
sich über bestimmten Musikgeschmack definiert und abgrenzt.
Für die haben sie "Retrospektive" gemacht, 18 Lieder aus 15 Jahren,
Material aus acht Alben plus ein neues Lied. Man könnte das Wort
"Retrospektive" für etwas prätentiös halten, weil es gemeinhin für
ambitionierte Filmreihen und Ausstellungen von Gesamtwerken toter bildender
Künstler verwendet wird. Doch zum einen handelt es sich um eine aufwendig,
sorgfältig und liebevoll konzipierte Werkschau. Inklusive 100-seitigem Buch
mit Texten aller Erdmöbel-Songs ever. Zum anderen sind Erdmöbel eben keine
Jugendkultur, aber darüber sprechen wir noch.
Zum Dritten ist "Retrospektive" keine Aneinanderreihung von "Greatest
Hits", auch wenn jede Menge Hits darunter sind. Oder sagen wir "Songs, die
in unserem Universum Hits waren", wie Berges das nennt. Ganz allgemein
versammelt "Retrospektive" Songs, an denen die Musiker heute wieder etwas
interessiert. Und sie sollen zusammen als Album und als Konzert
funktionieren. Wer also "Dawai, dawai" für All-Time-Erdmöbel-Top-5 hält,
mag richtig liegen. Es ist trotzdem nicht drauf.
Wenn man mit Erdmöbel einen Schnelldurchlauf durch die deutschsprachige
Musikgeschichte der letzten 40 Jahre macht, dann sieht der etwa so aus: Wer
deutsch sang und nicht Schlager, musste politisch sein oder lustige Lieder
machen. Also: Meinungsingen oder witzig sein. Oder abwechselnd beides. Oder
mit Ironie und trotzdem bierernst. Mit der Neuen Deutschen Welle wurde der
Spaß erst Pflichtfach. Und dadurch nach 1982 gekillt. "Die verdammte
Ironie", ruft Ekimas. Es schüttelt ihn richtig, aber er kann auch grinsen
dabei. Ab 1988 dann Hamburger Schule, etwas später Erdmöbel. Und dann
konnte man irgendwann wieder ironiefrei sein, ohne deshalb "die Leute in
ihrem Schmerz vereinen" zu müssen, wie Ekimas das politische Musizieren
nennt. Und von da an dauerte es nur noch etwa ein Jahrzehnt und zwei
programmatische Songtitel, nämlich "Lied über gar nichts" und "Wort ist das
falsche Wort". Und heute kann man sogar auf deutsch singen, ohne dass die
Leute zwanghaft fragen, was es "bedeutet".
## Scheuern mit Eternit
Nehmen wir die Zeilen aus der neuen Erdmöbel-Single "Die Krähen": "Siehst
du die Wolken /an den Dächern scheuern, Eternit? / Siehst du die Lichter /
flackern wie einarmiger Bandit?" Da wären sie früher nach
"Interpretationen" gefragt worden. So in der Art: Ist das eine
Untergangsprophetie angesichts des furchtbaren Neokapitalismus der FDP bzw.
der Grünen? Heute habe man sich locker gemacht, sagt Berges, und nehme das
als Teil der Musik wahr.
Erdmöbel sind längst jenseits der tradierten Vorstellungen von populärer
Musik angekommen. Ekimas spricht ironisch davon, dass man ja nun auch in
Theatern spiele und "auf Hochkultur" mache. Aber der entscheidende Punkt
ist, dass sie in Theatersäle mindestens genauso gehören wie in Clubs und
sich der alten Unterscheidung zwischen E und U entziehen. Wenn sie wider
Erwarten doch keine Hochkultur des 21. Jahrhunderts sein sollten, wie es
andere frühere Protagonisten einer rebellischen Jugendkultur ja auch längst
sind.
Ekimas kann richtig schwärmen von seinem letzten Bob-Dylan-Konzert. "Man
konnte es kaum aushalten, so eine Katzenmusik, aber es war ein richtig
schöner Nachmittag." Wieso jetzt? Weil das Publikum seiner Idealvorstellung
nahe kam. Teenies, Thirtysomethings, alles. Leute, die nicht waren wie er.
Die will er auch in Erdmöbel-Konzerten sehen.
Das vorletzte Dylan-Konzert, das er sah, sei musikalisch grandios gewesen,
dafür war das Publikum schrecklich. Nur "Leute, die den Schuss nicht gehört
hatten". Mit dieser Formulierung beschreibt er biologisch der Adoleszenz
Entwachsene, die aber ihrer jugendlichen Gefühls- und Identitätsstruktur
treu geblieben waren. Insofern passt auch Markus Berges Adaption des
Dylan-Zitats aus "My Back Pages" ("But I was so much older then, Im younger
than that now") ungeheuer gut. Da geht es darum, dass einer in jungen
Jahren seine Ideologien festgezurrt hat. Und eines Tages merkt, dass er
sich geirrt hat, manches ganz anders ist und er insofern heute jünger als
früher.
Erdmöbel merkten es relativ früh. Sie bauen keine Stadt auf Rock n Roll,
sie rufen nicht nach dem "Baby", wenn sie down sind. Und die
gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse lassen sie auch außen vor.
"Four dead in Ohio" kommt in ihren Songs nicht vor. Obwohl gerade diese
Worte bei ihnen bestimmt großartig klingen würden. Die Zeitläufte fehlen in
ihrer "Retrospektive" konsequent. Mal abgesehen vom Einsturz des Kölner
Stadtarchivs, der sie als Wahl-Kölner wirklich mitgenommen hat. Die
musikalischen Zeitläufte? Sie beginnen zwar noch an einem Punkt der
musikalischen Gegenwart, den sie damals spannend fanden, lösen sich dann
aber von der Herrschaft der Rockgitarre und der Rockgeschichte und sind
dann im 21. Jahrhundert ganz bei sich selbst. Sogar, wenn sie covern. Weil
sie ein Lied eben nicht covern, sondern erdmöbeln.
## Kreieren und fordern
"Wir reagieren nicht, wir kreieren und fordern etwas", sagt Ekimas, und da
ist was dran. Irgendwann merkten sie, dass Hörer ihre Songs mit zeitlicher
Verzögerung spannend finden. Auch ein Grund, diese "Retrospektive" zu
machen: "Die Sachen, die da drauf sind, können heute eine Rolle spielen, so
wie sie damals für uns eine Rolle gespielt haben."
Vor allem: Erdmöbel zeigen, und das ist ihr ewiges Verdienst, wie besonders
die deutsche Sprache klingen kann. Die musikalischen Sprachbilder und die
Töne verweben sich zu seltsam-wunderbaren Stimmungen. Etwa beim Wiederhören
von "Russischbrot": Man fühlt sich melancholisch schwer und gleichzeitig
oder gleich wieder fiederfederleicht und fröhlich. Das klingt. Wie der
beste Westcoastsong seit "Take it Easy". Nur besser.
Markus Berges trägt inzwischen übrigens einen schmalen Oberlippenbart.
23 Sep 2011
## AUTOREN
Peter Unfried
Peter Unfried
## TAGS
Literatur
Musik
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