# taz.de -- Gespräch zum Mauerfallgedenken: „So vieles ist unerinnert“ | |
> Renate Hürtgen, 72, war Teil der DDR-Opposition. Anna Stiede, 32, gräbt | |
> deren Geschichten aus – auch, um die eigene Biografie besser zu | |
> verstehen. | |
Bild: Szene aus dem Theaterprojekt 4-11-89 Theater der Revolution | |
taz: Frau Stiede, als ich um ein Interview zum 9. November gebeten habe, | |
war Ihre Reaktion: Puh, schwieriger Tag. Warum? | |
Anna Stiede: Es wird sich immer auf den 9. November gestürzt, es geht immer | |
um diesen Tag, um den Mauerfall. Was dahinter verschwindet, sind die | |
Geschichten des demokratischen Aufbruchs, all das, was in den Tagen danach | |
und davor geschah. Das ist ein total verkürzter Fokus. Wobei ich sagen | |
muss, als ich angefangen habe, mich stärker mit Ostgeschichte zu | |
beschäftigen, habe ich auch viel vom 9. November geredet. In meiner | |
Erinnerung sticht dieser Tag heraus, weil ich mich erinnere, wie | |
unglaublich froh meine Mutter da war. Meine Ostfreunde haben mir dann | |
gesagt: Schau auch mal auf die Tage davor und danach. | |
Frau Hürtgen, was verbinden Sie mit dem 9. November? | |
Renate Hürtgen: Dieser Tag fiel für uns, also die Oppositionsbewegung in | |
der DDR, und auch für mich persönlich ja in die Zeit allergrößter | |
politischer Aktivitäten. An dem Tag selbst hatten wir abends noch eine | |
politische Veranstaltung, auf dem Heimweg kam mir einer unserer Mitstreiter | |
entgegen, strahlend: Die Mauer ist offen. Ich war verblüfft, aber | |
gleichzeitig todmüde, ich hab mich hingelegt. Zwei Tage später bin ich dann | |
rüber, mit meinem damaligen Mann, an der Bornholmer Straße. Da hatte ich | |
dieses tiefe Gefühl: Jetzt wird sich in deinem Leben alles ändern. Das war | |
nicht negativ, aber mir kamen die Tränen, weil das so ein großer Gedanke | |
war. Mein Mann sagte zu mir: Hör uff, die denken sonst noch, du willst die | |
Mauer wiederhaben. | |
Wie sehen Sie die Art, wie heute an diesen Tag erinnert wird? | |
RH: Da wird so viel hineininterpretiert, ideologisch. Dass das der Tag der | |
Wiedervereinigung war. Das stimmt nicht, das hat sich damals überhaupt | |
nicht so angefühlt, da war von deutscher Einheit noch gar keine Rede, da | |
hat noch niemand geglaubt, dass es so weit kommen würde. | |
AS: Ich finde krass, wie verzerrt das ist, wie die Art, wie dieser Tag | |
heute präsentiert wird, im Widerspruch dazu steht, wie Menschen ihn erlebt | |
haben. | |
RH: Ich muss allerdings sagen, in der linken Rezeption ärgert mich auch | |
etwas: Natürlich war ich damals auch irritiert, befremdet von diesem Run | |
auf den Westen. Ich hab da ein schlimmes Bild vor Augen, da wurden Bananen | |
von einem Wagen geworfen und die Leute haben sich darauf gestürzt. Aber ich | |
würde da nie so verächtlich drauf schauen, wie es manche Linke getan haben | |
oder tun. Dieses Verächtlichmachen solcher Emotionen, das ärgert mich. | |
AS: Ich war gestern in Erfurt und habe da erst gelernt, dass es dort 1990 | |
einen Hungerstreik gab, bei dem es um die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen | |
ging. Ich bin in Jena geboren, ich bin seit vielen Jahren in | |
außerparlamentarischen Bewegungen aktiv, und trotzdem habe ich das bis | |
gestern nicht gewusst. Da läuft es mir kalt den Rücken herunter, wenn ich | |
daran denke, wie viele Geschichten da unerinnert sind und vergessen | |
gemacht werden. Die DDR-Oppositionsbewegung war ja nicht mit dem 9. | |
November vorbei. Aber heute wirkt es so, als wäre diese unglaubliche | |
Stimmung für einen demokratischen Aufbruch, die in den Monaten und Wochen | |
vorher entstanden war, an diesem Tag einfach verpufft. | |
RH: Das war aber nicht so. Der 9. November war auch für uns ein wichtiger | |
Tag. Ab diesem Moment war klar: Jetzt kann sich die Herrschaft nicht mehr | |
sichern. Und die offenen Grenzen waren ein sehr wichtiges Signal, die haben | |
Menschen auch ermutigt, politisch aktiv zu sein. Schließlich war es vorher | |
so: Wer Probleme bekam, weil er politisch aktiv war, der konnte | |
nirgendwohin abhauen. | |
In Berlin wurde des Mauerfalls in den vergangenen Tagen mit einer | |
„Feierwoche“ gedacht. Wie haben Sie diese Veranstaltungen empfunden? | |
RH: Das war schon ein ziemliches Spektakel, da ist auch viel Geld | |
reingeflossen. Ich hatte den Eindruck, dass eigentlich versucht wurde, ein | |
bisschen weg vom 9. November zu kommen und das differenzierter | |
darzustellen. Zwar ging es jetzt doch wieder viel um den 9. November, aber | |
zumindest in die Richtung: Wir feiern das, aber es ist auch nicht alles gut | |
gelaufen damals. | |
AS: Ich hatte das große Glück, bei der Inszenierung 4-11-89: Theater der | |
Revolution von Panzerkreuzer Rotkäppchen am Montag auf dem Alexanderplatz | |
mitwirken zu dürfen. Wir haben klar gesagt: Wir machen kein bürgerliches | |
Gedenken, sondern es geht darum, die Aufbruchstimmung dieses Tages | |
wiederzubeleben. Dank der Arbeit der Regisseurin Susann Neuenfeldt und der | |
Choreografin Maike Möller-Engemann, den tollen Tänzerinnen, die die | |
Demomenge von damals performten, den Redner*innen und der Musik von Hans | |
Narva konnte wirklich dieser Gefühlsraum eröffnet werden. Ich bin froh, | |
dass wir dort auf dem Alex eine kritische Haltung markieren konnten. Ellen | |
Schernikau hat zum Schluss eine Rede ihres Sohnes verlesen, den er auf dem | |
Schriftstellerkongress im Mai 1990 gehalten hatte. Den 9. November nennt er | |
darin eine Konterrevolution. | |
RH: Da muss ich sagen, das finde ich falsch. Der Tag war keine | |
Konterrevolution. Ihn so zu nennen, das ist dieses elitäre Verhalten | |
mancher Linker, die völlig aus dem Blick verlieren, was die Mehrheit denkt. | |
AS: Das ist interessant, dass du das sagst. Ich glaube, es gibt noch total | |
viel Redebedarf über diese Zeit, über das, was da passiert ist und wie man | |
es interpretiert. Vielleicht bräuchte es ganz viele solcher Gefühlsräume | |
und Gesprächsräume statt Hunderter Spektakel auf einmal. Das Problem ist | |
ja, diese Auseinandersetzung darüber, die hat bisher überhaupt nicht | |
stattgefunden! | |
RH: Ja! Das hat es bisher überhaupt nicht gegeben. Deine Generation, ihr | |
seid die Ersten, die da ein Interesse mitbringen, die zu Leuten wie mir | |
kommen und Fragen stellen. | |
AS: Ich glaube schon, dass es das Interesse auch vorher gab. Menschen, die | |
zehn oder fünfzehn Jahre älter als ich sind, erzählen mir, sie hätten | |
früher auch solche Fragen gehabt. Aber sie hätten sich nie getraut, sie zu | |
stellen, oder wenn sie sie stellten, wurden sie ausgelacht. | |
RH: Das ist möglich, aber ich habe das jedenfalls als Desinteresse | |
empfunden. Dass jemand kommt und sagt, erzähl mal, wie das damals für euch | |
als Oppositionsbewegung war, das kenne ich erst seit zwei, drei Jahren. | |
Wie empfinden Sie beide diesen generationsübergreifenden Austausch zwischen | |
Ostlinken? | |
RH: Für mich ist das sehr belebend. Ich finde es gut, dass da auch Sachen | |
infrage gestellt werden, nicht alles einfach hingenommen wird von den | |
Jüngeren. Aber gleichzeitig passiert dabei genau das, was jeder Psychologe | |
voraussagen könnte: Je mehr wir diese Dinge aufarbeiten, desto mehr | |
Widersprüche und Konflikte brechen auf. Da kommt auch vieles hoch, was | |
wehtut. | |
AS: Das stimmt, es ist oft auch schmerzhaft. Die Oppositionsbewegung ist ja | |
sehr zerstritten, da gibt es total viel Drama, viele Widersprüche. Dann | |
fragen wir jüngeren, linken Ostler*innen uns: Ist das jetzt unsere Aufgabe, | |
das aufzuarbeiten? Müssen wir das machen? Und können wir das überhaupt? | |
Zumal wir ja gleichzeitig auch noch die ganzen Fragen oder | |
Auseinandersetzungen mit unseren linken Westfreunden haben. | |
Das ist vorhin schon deutlich geworden: Einerseits geht es darum, linke | |
ostdeutsche Perspektiven etwa gegen ein westdeutsch und bürgerlich | |
geprägtes Einheitsgedenken in Stellung zu bringen. Andererseits läuft man | |
dabei Gefahr, verschiedene ostdeutsche Positionen auf die eine | |
Ostperspektive zu verengen. | |
RH: Es ist wichtig, dass gegen die Mythen nicht neue Mythen aufgebaut | |
werden. Der 9. November war weder der glorreiche Vollzug der deutschen | |
Einheit noch war er die Konterrevolution. Das stimmt beides nicht. | |
Frau Stiede, Sie sind in Jena geboren, haben in Marburg studiert und kamen | |
mit 24 nach Berlin. Tiefer mit dem Osten auseinandergesetzt haben Sie sich | |
erst in den letzten Jahren – wie kam es dazu? | |
AS: Ich habe angefangen, mit anderen Ostlerinnen und Ostlern, aus meiner | |
Generation oder etwas älter, darüber zu sprechen. Weil wir gemerkt haben: | |
Die DDR lässt uns nicht los, ob wir wollen oder nicht. Das war ganz stark | |
auch ein persönliches Interesse, wir wollten verstehen, was da passiert ist | |
in den 90ern, diese sehr heftige Transformation, über die nie richtig | |
gesprochen wurde. Durch diese Auseinandersetzung haben wir auch die eigene | |
Kindheit und Jugend aufgearbeitet. Wir haben besser verstanden, warum das | |
alles so grau war, so voller Gewalt und Aggression. Warum die Nazis so | |
mächtig waren. Und ich habe meine eigene Familie besser verstanden. | |
Was meinen Sie? | |
AS: Meine Großväter waren depressiv, beide, und ich weiß heute auch, warum. | |
Früher habe ich das gar nicht richtig wahrgenommen, ich dachte, Opas sind | |
immer so. Dass das was damit zu tun hatte, dass beide ihre Arbeit verloren | |
haben und das altbekannte System zusammenbrach und weg war, von einem Tag | |
auf den anderen, verstehe ich erst jetzt. | |
Und was bedeutet Ihnen Berlin? Was bedeutet es, hier als linke Ostlerin zu | |
leben? | |
RH: Für mich als politisches Wesen war diese Stadt immer ideal. Ich habe | |
Gleichgesinnte getroffen, auch in Westberlin. Zu den Westberlinern gab es | |
eigentlich eine ziemliche Nähe, viel stärker als zu Menschen aus | |
Westdeutschland. Gleichzeitig habe ich natürlich auch manche Westberliner | |
Linke als ignorant empfunden. Mein Hauptproblem war, dass ich viele | |
getroffen habe, die eine idealisierte Vorstellung von der DDR hatten. Da | |
musste ich immer dagegenhalten, und bis heute ist es so, dass ich da mit | |
manchen Menschen nicht einig werde. | |
AS: Das ist interessant, was du über das Aus-Berlin-Sein gesagt hast. Ich | |
habe neulich eine Frau aus Marzahn kennengelernt, die hat gesagt, sie habe | |
sich nie als Ostlerin, sondern immer als Berlinerin gefühlt. Die Ossis, das | |
waren die anderen (lacht). Für mich hat sich das Nach-Berlin-Kommen nach | |
meinem Studium in Hessen ein bisschen wie nach Hause kommen angefühlt. Ich | |
habe hier auch angefangen, wieder ein bisschen mehr Thüringer Dialekt zu | |
sprechen, den ich mir in Marburg komplett abtrainiert hatte. Zu Hause ist | |
für mich aber vor allem Neukölln, wo ich wohne. Wenn ich nach einer Reise | |
aus dem ostdeutschen Hinterland wieder auf dem Hermannplatz ankomme, dann | |
fühle ich mich zu Hause und kann tiefer durchatmen. | |
RH: Diese Toleranz, das Freie, das Berlin hat, das ist auch für mich sehr | |
wichtig. | |
Im Haus für Demokratie und Menschenrechte an der Greifswalder Straße, dem | |
Haus der DDR-Oppositionsbewegung, sind nicht nur Sie, Frau Hürtgen, seit | |
vielen Jahren aktiv, sondern auch Sie, Frau Stiede, saßen dort bereits im | |
Kuratorium. Was ist das für ein Ort? | |
RH: Das ist ein sehr besonderes Haus. Über 60 Mieter sind darin mit einer | |
großen Bandbreite, von antikapitalistischen linken Gruppen bis zu Amnesty | |
International. Das ist schön, aber auch nicht immer einfach, zumal ja noch | |
die Konflikte zwischen den verschiedenen Vertretern der Oppositionsbewegung | |
hinzukommen. Bei diesen Konflikten ist das Problem, dass wir einfach nicht | |
darüber reden, worum es da inhaltlich geht. Obwohl, in letzter Zeit ist das | |
etwas besser geworden. | |
Warum? | |
RH: Genau dadurch, dass du, Anna, und andere aus deiner Generation mit | |
dieser Aufarbeitung begonnen habt, dadurch reden wir auch überhaupt mal | |
wieder über unsere inhaltlichen Konflikte. Mir sind diese | |
Auseinandersetzungen, die wir da haben, ja auch manchmal peinlich, aber die | |
haben eben damit zu tun, dass so vieles nicht aufgearbeitet wurde. | |
AS: Ja, das nehme ich auch so wahr. Dass es Konflikte gibt, das ist ja | |
immer so, aber da sind so viele alte Verletzungen, die hochkommen, das | |
macht es manchmal wirklich schwierig. | |
RH: Mir ist aber auch wichtig, dass eben keine harmonisierende Ostidentität | |
geschaffen wird, hinter der die Konflikte verschwinden. Annette Simon, die | |
Tochter von Christa Wolf, hat gesagt: Es gibt einen gemeinsamen | |
Erfahrungsraum, aber innerhalb dieses Erfahrungsraums haben die Menschen | |
alle völlig verschiedene Positionen. Das ist vermutlich manchmal schwierig, | |
das anzuerkennen, weil man hofft, dass die Oppositionellen von damals sich | |
nahestehen, dass sie sich gut verstehen. | |
Was nehmen Sie beide jetzt als Impuls aus dem Erinnern an 30 Jahre 89 mit? | |
RH: Da war natürlich vieles Spektakel, aber gleichzeitig ist auch viel | |
Gutes in Gang gekommen. Das Interesse an dem Thema ist groß, ich habe so | |
viele Einladungen wie lange nicht, das ist natürlich auch etwas Schönes. | |
AS: Ich sehe das auch so, dass da tolle Sachen in Gang gekommen sind. Es | |
sind auch Perspektiven sichtbar geworden, die das sonst nie waren: | |
migrantische Perspektiven auf 89, lesbische Perspektiven auf 89, dazu gab | |
es Veranstaltungen und Auseinandersetzungen. Ich nehme da schon ein | |
positives Gefühl mit. Meine größte Frage ist jetzt: Wie kann man die | |
solidarischen Menschen im Osten stärken? Wie kriegt man es hin, dass sich | |
diese Menschen politischen Raum nehmen? Denn das nehme ich schon noch als | |
eine DDR-Altlast wahr, dass es die ausgeprägte Zivilgesellschaft, die es | |
gewohnt ist, sich den Raum zu nehmen, so nicht gibt. Und natürlich | |
beschäftigt es mich, dass ein Viertel der Menschen in Thüringen eine | |
faschistische Partei gewählt haben. Ich frage mich: Wie kann man das, was | |
da ist, auch an nicht aufgearbeiteter Geschichte, so bearbeiten, dass etwas | |
anderes als Hass und rassistische Gewalt dabei herauskommt? | |
9 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Malene Gürgen | |
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