# taz.de -- Roman über die 1980er Jahre: Zwischen Westberlin und Nicaragua | |
> In „Liebe und Revolution“ schildert Jörg Magenau ein politisiertes | |
> Milieu. Es ist ein Biotop, dem auch die taz entsprungen ist. | |
Bild: Teilnehmende Beobachter der linken Szene: Kreuzberg, 80er Jahre | |
Eine Lesegruppe gehörte eben dazu. Links musste sie sein. Und an Peter | |
Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ führte dann kein Weg vorbei. „Ein d… | |
Ding“, das weiß Paul, als er sich das erste Mal mit seinen zukünftigen | |
Mitlesenden getroffen hat. „Da musst du dich durchbeißen, der sperrt sich | |
dagegen, konsumiert zu werden“, sagt Beate. Die findet er toll, himmelt sie | |
an, liebt sie wahrscheinlich, nein, liebt sie wirklich, auf alle Fälle | |
bewundert er sie und beneidet sie auch ein wenig, weil sie es als Autorin | |
auf die Feuilletonseiten der Frankfurter Allgemeinen geschafft hat. Beate | |
hatte ihn gefragt, ob er nicht mal mitkommen wolle. | |
Er kommt mit, trifft in einer dunklen Berliner Hinterhauswohnung auf | |
Kommilitonen aus seinem Philosophiestudium. Darunter ist ein Typ aus Bayern | |
mit einem Protest-T-Shirt gegen die Wiederaufbereitungsanlage in | |
Wackersdorf. Der hat eine „knallenge, seitlich geschnürte schwarze | |
Lederhose“ an. | |
Kenne ich. Das wird denken, wer auch nur ein einziges Mal vorbeigegangen | |
ist an diesem dauerpolitisierenden Milieu von Politik- oder | |
Philosphiestudierenden und solchen, die es vielleicht gerne gewesen wären, | |
das im alten Westberlin so präsent war. | |
[1][Es ist das Biotop, dem auch die taz entsprungen ist.] Diesem Milieu hat | |
Jörg Magenau, selbst ein paar Jahre lang Redakteur dieser Zeitung, seinen | |
neuen Roman „Liebe und Revolution“ gewidmet. In gewisser Weise ist es eine | |
Liebeserklärung geworden. | |
Paul, der Protagonist, der in diese Welt hineinstolpert, sich nie ganz | |
sicher ist, ob er wirklich dazugehört, ist so etwas wie der teilnehmende | |
Beobachter in dieser Szene, in der es normal war, seinen marxistischen | |
Lehrmeister an der Uni als intellektuelle Koryphäe anzuhimmeln. | |
## Wolfgang Fritz Haug bekommt einen Ehrenplatz | |
Und so bekommt Wolfgang Fritz Haug, der von 1991 bis 2001 Professor für | |
Philosophie an der Freien Universität war, eine Art Ehrenplatz in Magenaus | |
Roman. Natürlich besucht Paul die „obligate“ Vorlesung „Einführung ins | |
Kapital“ bei Haug. Sie werden „nie wieder erreichte Höhepunkte seines | |
Studiums“. | |
Dem Autor sei Dank, werden die Lesenden nicht auf eine Bibliothek | |
verwiesen, um die Gedankenwelt Haugs ein wenig nachvollziehen zu können. | |
Wie die Mitschrift einer Vorlesung wirkt es, wie Magenau da Haugs Gedanken | |
in der Zeit von Perestroika und Glasnost schildert. | |
Von dessen Konzept des „pluralen Marxismus“ ist da zu lesen. „Vielleicht | |
ließen sich – bei Strafe des Untergangs, wie Haug gerne sagte – Sozialismus | |
und Demokratie ja doch vereinen, waren Organisation und Subjektivität kein | |
Widerspruch, sondern ineinander verzahnte Prinzipien und vielleicht würde | |
marxistische Kritik zu einem Instrument werden, das nicht nur auf Ideologie | |
und kapitalistische Wirklichkeit, sondern auch auf den Marxismus selbst | |
anwendbar wäre.“ Wow! Das also war das theoretische Rüstzeug, mit dem sich | |
Paul alsbald auf den Weg nach Nicaragua macht. | |
## Auch so ein Beispiel linker Folklore | |
Nicaragua. Auch so ein Beispiel linker Folklore. Da war diese Zeit, in der | |
es für viele logisch schien, ins Land der Sandinistischen Revolution zu | |
gehen, eine Schule, eine Werkstatt, eine Näherei aufzubauen und damit an | |
einer vermeintlich gerechteren Welt mitzuarbeiten, die gegen alles | |
Kapitalistische rundrum bestehen konnte. Paul also geht nach Nicaragua. Er, | |
der „wusste, dass er kein Draufgänger war“. | |
In dem Milieu, in das er geraten war, ist es eben ein bisschen normal | |
gewesen, mindestens seinen [2][Ernesto Cardenal] gelesen zu haben oder eben | |
nach Nicaragua zu gehen, um Teil einer Revolution zu werden, zumindest | |
einer „revolutionären Situation“, wie es im Roman heißt. Und dann ist da | |
die Sache mit Beate, die Liebe, der er davonläuft, weil er sich nicht | |
vorstellen kann, dass einer wie er zurück geliebt werden könnte von einer | |
wie Beate. | |
Sechs Monate bleibt Paul in Nicaragua, solange, bis er weiß, wie sinnlos | |
das Projekt ist, für das er arbeitet, weil es nichts nützt, im Sinne der | |
Frauenermächtigung eine Halle für Näherinnen zu bauen, wenn keine Stoffe | |
aufzutreiben sind. Solange, bis er weiß, dass er nicht wirklich zum | |
Revolutionär taugt. | |
Eine Gefährtin, mit der schläft und die er zu lieben versucht, wird auf dem | |
Weg ins Gebiet der Contras umgebracht. Helfen kann er ihr nicht, er | |
versteht sie und ihren Antrieb nicht mal richtig, so wie er das Versprechen | |
von Daniel Ortega nicht versteht, freie Wahlen abzuhalten. Gefährdet er | |
damit nicht die Revolution? Es geht nicht mehr. Paul ist nicht der | |
einfachste Protagonist, den man sich als Medium für diese Zeit erschaffen | |
kann. Magenau impft ihm derartig viele Selbstzweifel ein, dass man ihm | |
bisweilen durch die Handlung helfen möchte. | |
## Weh tut Pauls Blick auf Frauen | |
Und richtig weh tut es, wenn Magenau durch Pauls Augen auf die Frauen | |
schaut, mit denen er ins Bett geht. Beim Sprachkurs irgendwo in der Provinz | |
in Spanien kann oder will er sich erst Renate („Ich bin Nymphomanin“) nicht | |
erwehren und lässt sich dann auf eine Art Internatsbeziehung mit Karo ein, | |
einem Kind fast noch, die ihm davon erzählt, wie sehr sie doch ihr Pferd | |
vermisse. „Paul konnte sich kaum sattsehen an diesem rosigen Mädchen.“ Oh | |
je! Und: Finger weg! | |
Das möchte man Paul zurufen, dem Magenau den Lesenden doch arg nahekommen | |
lässt. Aber vielleicht gehört das auch zu jener Zeit, dass Männer zwar an | |
sich selbst und ihrer Rolle als Mann zu zweifeln beginnen und dennoch nicht | |
aufhören können, wie Männer ohne jeden Selbstzweifel zu agieren. So wie | |
Paul, der dann hinterher am liebsten doch nicht gemacht hätte, was er | |
angerichtet hat. „‚Ich liebe dich‘, sagt Karo da zu Pauls Bestürzung, de… | |
so hatte er es ja auch nicht gemeint“, heißt es an einer dieser Stellen, an | |
denen man sich von diesem Paul am liebsten schnell verabschieden würde. | |
Aber wie steht es um die Revolution? Das würde man dann verpassen. Also | |
weiter mit Paul. | |
Als der zurückkehrt, landet er in der nächsten Revolution. Was heißt hier | |
Revolution? Die DDR hat ihre Grenzen geöffnet. Die Leute aus dem Osten | |
lassen sich von Westberlinern umarmen. Das soll eine Revolution sein, die | |
einen ihrer Höhepunkte darin hat, dass Menschen aus einem untergehenden | |
Staat vor Banken anstehen, um sich ihr Begrüßungsgeld abzuholen? Hat Paul | |
dafür seinen Haug studiert? | |
Mit Beate, die für die FAZ als Reporterin unterwegs ist, durchschreitet er | |
das untergehende Westberlin. Zudem gehört auch die taz, so wie sie damals | |
war. Im Café Adler am ehemaligen Checkpoint Charlie sehen sie Arno Widmann, | |
damals Literaturredakteur der taz. Eine Sehenswürdigkeit zweifellos. Sie | |
bestaunen den Mann, der im „Adler“ am Kaffeetisch seiner | |
Redakteurstätigkeit nachgekommen ist, lassen sich von ihm seine | |
Lebensanekdote erzählen und taumeln weiter durch diese merkwürdige | |
Revolution, deren Zeugen sie gerade werden. | |
Und nebenbei müssen sie über sich reden, ihre Gefühle, seine Flucht vor | |
ihr, ihr Abtauchen, all die Missverständnisse, die dazu geführt haben, dass | |
er nicht wusste, dass sie von ihm schwanger geworden war. Liebe? Man weiß | |
es nicht. Revolution? Mit dem Sozialismus war es jedenfalls erst mal | |
vorbei. Alles nicht so einfach für einen wie Paul. Alles nicht so einfach | |
für das alte linke Westberlin. Wer das ein bisschen verstehen möchte, | |
sollte Jörg Magenaus Roman lesen. | |
19 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /40-Jahre-taz-Wie-alles-begann/!5536160 | |
[2] /Nachruf-auf-Ernesto-Cardenal/!5666535 | |
## AUTOREN | |
Andreas Rüttenauer | |
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fahren. Dieser denkt dabei übers Leben und Schreiben nach. |