# taz.de -- Rezension zu „Südstern“ vom Tim Staffel: Kämpfende Samariter | |
> Tim Staffel beschwört das intensive Großstadtleben und die Macht der | |
> Liebe, allem Prekären zum Trotz: „Südstern“ ist ein Berlinroman mit | |
> Sprachflow. | |
Bild: Das Kottbusser Tor in Kreuzberg ist ein Schauplatz von Tim Staffels neuem… | |
Auf einer seiner Ebenen hat dieser Roman die Anmutung von „Lindenstraße“ | |
auf ADHS. Menschen am Straucheln und Problemehaben. Alltagsschicksale und | |
Alltagssorgen in einer hier allerdings kreuzbergisch nah am Kippen gebauten | |
Kiezwelt. | |
Darin zwei Hauptfiguren, aus deren Perspektiven abwechselnd erzählt wird, | |
ein Mann, eine Frau, beide noch jung, Deniz und Vanessa, die sich | |
kennenlernen und ineinander verlieben, aber beide nicht frei sind, er, weil | |
er seinen an Parkinson erkrankten Vater pflegt, sie, weil sie noch mit Olli | |
zusammen ist. | |
Beide sind sie auf ihre Art gute Samariter. Deniz als engagierter Polizist | |
mit problematischer Partnerin im Streifenwagen in einer aus den Fugen | |
geratenen Welt voller gesellschaftlichem Druck, Armut, Straßen- und | |
Männergewalt. Sie, mit mehr als einem Bein in der Illegalität, als | |
Drogenkurierin im Nebenjob, die aber tatsächlich eher Drogenberatung | |
betreibt, gar nicht am Geld interessiert ist, sondern daran, den Leuten zu | |
geben, was sie wirklich brauchen, um das harte Leben durchzustehen, | |
Aufputschmittel, Antidepressiva, schmerzlinderndes Gras. | |
„Ich heiße Vanessa und bin ein Engel“, das ist der erste Satz des Romans. | |
Und um die beiden herum Boheme- und Problemexistenzen, der von seinen | |
Einsätzen als Fallschirmjäger traumatisierte Bruder, Frauen, die vor ihren | |
Männern fliehen müssen, Männer mit Schulden, überforderte | |
Krankenpflegerinnen. | |
## Die Sprache ist präsent | |
Auf einer anderen Ebene ist „Südstern“ von Tim Staffel aber auch reiner | |
Flow. Die Sprache ist sehr präsent. Eine Kaskade kurzer Sätze, im | |
dramatischen Präsenz aneinandergereiht, Atemlosigkeit transportierend, | |
streckenweise wie gerappt, ohne Übergänge, man wird beim Lesen von einer | |
Episode in die nächste geworfen. Das ist ein guter Effekt. Man lehnt sich | |
nicht zurück beim Lesen. Dahinter liegt ein geradezu klassischer | |
fünfaktiger Aufbau. | |
Die beiden Ebenen bedingen einander. Der Sprachflow braucht Szenenfutter. | |
Tim Staffel gibt es ihm, baut noch eine Wendung, noch eine Nebenfigur ein. | |
Und zugleich macht der Flow das Konstruierte dieses Romans nicht nur | |
erträglich, er bringt es zum Glänzen. „Alle kämpfen sich durchs Leben“, | |
heißt es, und die Sprache nimmt dieses Kämpfen ernst, will es beglaubigen, | |
ihm literarisch Anerkennung schenken. | |
Die Erzählperspektiven sind dabei ungewöhnlich und kunstvoll gebaut. Deniz | |
und Vanessa sagen zwar jeweils „ich“, doch man weiß nicht recht, ob es | |
tatsächlich Ich-Perspektiven sind. Dazu erzählen sie zu sachlich und ohne | |
individuelle Sprachfärbung. Es scheint eher so, als ob eine dem jeweiligen | |
Ich zugeordnete, ihm nahe Instanz hier erzählt, zwischendurch denkt man: | |
als ob die Seelen dieser Figuren dem jeweils anderen objektiv berichten | |
würden, was gerade vorfällt. | |
Als Deniz und Vanessa sich kennenlernen und miteinander reden, wechseln | |
sich die beiden Perspektiven schnell ab. Ziemlich genau in der Mitte | |
verschmelzen sie geradezu, da haben die beiden Hauptfiguren zum ersten Mal | |
miteinander Sex. Nicht nur an dieser Stelle fragt man sich, ob das alles | |
nicht auch eine Männerphantasie ist, aber zugleich ist diese Frage egal, so | |
sehr ist das hier auch ein Liebesroman à la [1][„Außer Atem“] (nur ohne | |
Verrat), so vehement wird hier die Macht der Liebe beschworen. Deniz und | |
Vanessa, das sind zwei Königskinder, die schließlich doch zueinander | |
finden. | |
## Gute Orte, freundliche Seelen | |
Überhaupt ist das Buch auch eine große Sozialphantasie. Der anfängliche | |
Realismus löst sich zwischenzeitlich auf, bevor er zum Ende hin dann | |
zurückkommt, es gibt dystopische Momente, der Strom wird rationiert, | |
Wildschweine drängen in die Großstadt. Das Ganze hat etwas Bedrohliches. | |
Aber es gibt hier – Kreuzberg ist in vielem eben doch [2][das Herz von | |
Deutschland] oder zumindest ein Herz – auch die guten Orte und die | |
freundlichen Seelen. | |
Die Bars, an denen die Einsamen zusammenkommen können. Die Menschen, die | |
sich um Deniz' dementen Vater kümmern, wenn der in einem Späti landet. Und | |
überhaupt treffen die meisten Figuren schließlich dann doch die richtigen | |
Entscheidungen und schrecken vor der endgültigen Selbstzerstörung zurück. | |
Die meisten, nicht alle. Drogentote kommen vor. | |
Die entscheidende Frage ist, warum man diesem Roman so gern folgt. Das | |
liegt – auch wenn es spannend bleibt, was aus dem traumatisierten Bruder | |
wird und wann Vanessa sich endlich von Olli trennt – nicht so sehr an der | |
Handlung. Es liegt am Flow, am treibenden Rhythmus der Sätze; man freut | |
sich über den Glauben an die Kraft der Literatur, der in diesen Sätzen | |
steckt. | |
## Ein nostalgisches Flirren | |
Und es liegt daran, dass, aller Gegenwartsanmutung zum Trotz, ein | |
nostalgisches Flirren über diesem Roman liegt. Die Großstadt, das ist hier, | |
allem Prekären zum Trotz, auch das wilde, intensive Leben. Und der Roman | |
schildert es, als hätte es Berlinklischees rund um „Arm, aber sexy“, | |
Partyhauptstadt, Mustafa Kebab und so weiter nie gegeben. | |
Vielleicht ist es eher ein 90er-Jahre-Kreuzberg, das Tim Staffel beschwört, | |
eines von v[3][or der Gentrifizierung] und der Touristifizierung des | |
Stadtteils. Aber das macht er mit Verve und in aller Rauheit | |
menschenfreundlich. „Diejenigen, die es noch können, leben ihr Leben | |
weiter. Keiner weiß genügend über das der anderen“, heißt es gegen Schlus… | |
Auch das ist etwas, um das der Roman weiß. | |
2 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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