| # taz.de -- 50 Jahre Kunstraum Kreuzberg: „Die letzte Bastion“ | |
| > Stéphane Bauer leitet den Kunstraum Kreuzberg. Es ist bitter, dabei | |
| > zuzusehen, wie die Kunstszene in Kreuzberg untergeht, sagt er. | |
| Bild: Stéphane Bauer, Leiter des Kunstraums Kreuzberg im Bethanien | |
| taz: In Berlin hat jeder Bezirk noch eigene Ausstellungsräume. Warum muss | |
| das eigentlich sein in einer Stadt, die ein riesiges Angebot an Museen und | |
| Galerien hat? | |
| Stéphane Bauer: Das ist eine Frage, die ich dauernd gestellt bekomme. Wenn | |
| der Kulturstadtrat oder die -rätin neu im Amt ist, dann kommen die hierher | |
| und fragen uns das. Das ist auch verständlich, denn sie müssen | |
| verantworten, dass wir als öffentliche Institution mit Steuergeldern | |
| finanziert werden. Wir arbeiten für die Öffentlichkeit. Unser Ansatz ist | |
| es, unsere Ausstellungen immer zu kontextualisieren. Wir kreieren keine | |
| Kopfgeburten. Wir schauen immer, dass wir Themen setzen, die hier im Bezirk | |
| oder in Berlin einen Resonanzboden haben. Wir fragen uns, welche Gruppe | |
| oder welche Individuen beschäftigen sich mit einer Fragestellung, sei es | |
| Street Art oder sei es Gentrifizierung, um das dann in eine Ausstellung | |
| zurückzuführen. Dadurch entstehen mehr Reibungen, als wenn man reine Kunst | |
| zeigen würde. Manchmal ist es auch wilder. | |
| Was bedeutet das konkret für den [1][Kunstraum Kreuzberg]? | |
| Wir können Themen lancieren, die nicht von großen Museen verhandelt werden | |
| können. Institutionen wie der Hamburger Bahnhof haben den Auftrag, zu | |
| sammeln und zu forschen, und müssen da viel vorsichtiger sein. Die müssen | |
| auch einem Kanon und etablierten Positionen folgen. Wir haben die Freiheit, | |
| viel schneller, viel direkter auf bestimmte Fragestellungen und Themen zu | |
| reagieren und neue kulturelle und künstlerische Ausdrucksweisen | |
| aufzugreifen. Schon 1975, also zwei Jahre nach Schaffung der Galerie hier | |
| im Bethanien, hat Dieter Ruckhaberle, der später Leiter der Berliner | |
| Kunsthalle geworden ist, die allerersten Ausstellungen in der | |
| Bundesrepublik mit migrantischen Künstlerinnen und Künstlern gemacht. | |
| „Mehmet Berlin’de – Mehmet kam aus Anatolien“ gilt heute als ein | |
| historischer Meilenstein der Soziokultur, weil sie zum ersten Mal diese | |
| Arbeitsmigration in einem Ausstellungs- und Kulturkontext thematisiert hat. | |
| Das war in den 70er Jahren, als sich in Kreuzberg in den Altbauten, die | |
| damals zum Abriss vorgesehen waren, viele der sogenannten Gastarbeiter | |
| niederließen, weil hier die Mieten niedrig waren und man davon ausging, | |
| dass sie nach ein paar Jahren wieder in ihre Heimatländer zurückkehren | |
| würden. Das prägt den Bezirk bis heute, aber es hat auch andere Aspekte | |
| gegeben, die für Kreuzberg charakteristisch waren oder sind: | |
| Hausbesetzungen, eine politische Alternativkultur, die Punk- und | |
| New-Wave-Szene, billige Ateliers für Künstler. Für welches Kreuzberg machen | |
| Sie denn Programm? | |
| Kreuzberg war immer und ist auch immer noch ein aufgeladener Begriff. Für | |
| mich war Kreuzberg immer ein Labor für neue politische und soziale | |
| Entwicklungen, und da spielen auch Kunst und Kultur eine wichtige Rolle. | |
| Kreuzberg war immer eines der ärmsten Stadtgebiete in ganz Deutschland, und | |
| das ist in einigen Teilen des Bezirks bis heute so, zum Beispiel in der | |
| Gegend um den Anhalter Bahnhof. Das heißt: Die soziale Frage ist immer noch | |
| sehr wichtig. Auf der politischen Ebene hatte Kreuzberg den allerersten | |
| grünen Direktkandidaten im Bundestag und den ersten grünen Bürgermeister, | |
| nach der Wende dann die erste Bürgermeisterin der PDS in einer westlichen | |
| Kommune. | |
| Und es gab diese ganze Alternativkultur der 80er Jahre mit Besetzerkneipen, | |
| selbstorganisierten Gesundheitszentren und Fahrradwerkstätten, | |
| feministischen und queeren Aktivisten, Clubs wie dem SO36 oder | |
| Stadtteilzentren wie der Regenbogenfabrik oder dem Frontkino … | |
| Genau. Ohne die Hausbesetzer hätte die Politik hier andere Entscheidungen | |
| getroffen, und die Architekten hätten anders gebaut. Diese neuen sozialen | |
| Bewegungen haben hier eine sehr wichtige Rolle gespielt. Das hat hier alles | |
| ineinander gegriffen. Der Kunstraum Kreuzberg versucht, diese Situation zu | |
| reflektieren. | |
| Kunst und Kultur haben von dieser speziellen Kreuzberger Situation lange | |
| profitiert: Die Mieten waren für Künstler niedrig, es gab viel Platz für | |
| Ateliers und nichtkommerzielle Galerien und Projekträume. Das ist nun nicht | |
| mehr so, Kulturinstitutionen wie die [2][Neue Gesellschaft für Bildenden | |
| Kunst (NGBK)] oder das [3][Werkbundarchiv] werden von Immobilienspekulanten | |
| verdrängt. Wie sehen Sie diese Entwicklung? | |
| Das ist in der Tat auch meine Befürchtung, dass wir immer mehr zur letzten | |
| Bastion werden, in der künstlerische Präsentationen in Kreuzberg überhaupt | |
| noch möglich sind. Es ist bitter, dabei zuzusehen, wie die Kunstszene in | |
| Kreuzberg untergeht. Man merkt, dass die Künstlerinnen und Künstler jetzt | |
| viel weitere Wege haben, wenn sie von da, wo sie wohnen, zu uns kommen, und | |
| dass viele ihre Ateliers verloren haben. Dass die NGBK und das Museum der | |
| Dinge ausziehen, ist ein riesiger Verlust, auch was Besucherströme angeht. | |
| Aber noch brutaler ist der [4][Verlust von hunderten von Ateliers]. Die | |
| berühmte Kreuzberger Mischung, wo in den Hinterhöfen große WGs oder | |
| Künstlerateliers oder Performance-Räume entstehen konnten, wurde ab etwa | |
| 2010 von der sogenannten Kreativwirtschaft abgelöst und wird jetzt von | |
| Start-ups und Risikokapital brutalst rausgeschmissen. | |
| Könnte dem Kunstraum Kreuzberg ein ähnliches Schicksal bevorstehen? | |
| Zum Glück nicht. Es ist 2009 gelungen, das Bethanien in eine gemeinnützige, | |
| nichtkommerzielle und gemeinwohlorientierte Trägerschaft zu überführen, in | |
| der außer uns zum Beispiel die Kreuzberger Musikschule, die Druckwerkstatt | |
| des Berufsverbands Bildender Künstler*innen Berlin oder das | |
| Internationale Theaterinstitut und 23 Künstler*innenateliers sind. Da | |
| war der Druck auf die Politik so groß, dass die verstanden hat, dass sie | |
| solche öffentlichen Räume nicht einfach leichtsinnig weggeben dürfen. | |
| Sie haben vorhin die Verankerung des Kunstraum Kreuzberg in seinem Umfeld | |
| betont und dabei auch den Begriff „Soziokultur“ benutzt. Was ist der | |
| Unterschied zwischen diesem Ansatz und einer Kiezkultur mit migrantischen | |
| Folkloregruppen und Jugendtheater? | |
| Der Begriff „Soziokultur“ ist in den 70er Jahren von Leuten wie Hilmar | |
| Hoffmann in Frankfurt am Main und Hermann Glaser in Nürnberg geprägt | |
| worden. „Kultur für alle“ war damals das Motto. Glaser kann man das wohl | |
| weniger vorwerfen, aber bei Hilmar Hoffmann hatte das auch eine | |
| paternalisierende Komponente: Man ist als gebildeter Kunsthistoriker oder | |
| Kulturdezernent dazu da, um der Bevölkerung Kultur anzubieten. Ich glaube, | |
| da hat es irgendwann einen Turning Point gegeben. Heute geht es eher darum, | |
| die Akteurinnen und Akteure einzubeziehen statt von oben herab Angebote zu | |
| machen. Das ist das Credo des Kunstraums, seit ich ihn leite: Es müssen | |
| andere das Programm mitgestalten, erst dann bekommt man auch ein anderes | |
| Publikum. Es ist kein Zufall, dass Shermin Langhoff zusammen mit drei | |
| weiteren Künstlerinnen hier die allerersten postmigrantischen | |
| Veranstaltungen organisiert hat, bevor sie das Ballhaus Naunynstraße | |
| übernommen hat und dann das Gorki-Theater. | |
| Gleichzeitig heißt die [5][Jubiläumsausstellung „Voicing Bethanien“], auch | |
| sonst sind die meisten Ausstellungstitel auf Englisch, und die | |
| Ausstellungen haben oft einen sehr hohen intellektuellen Anspruch. Das | |
| wirkt nicht so, als würde sich das an die Kids richten, die draußen auf dem | |
| Mariannenplatz Fußball spielen. | |
| Teil meiner Arbeit ist es auch, die Lust zu Anstrengung zu wecken und zu | |
| steigern. Unsere Ausstellungen sind nicht immer einfach. Aber ich würde | |
| behaupten, dass jeder, der hier reinkommt, immer etwas mitnehmen kann. Sei | |
| es eine Ästhetik, sei es ein neuer Gedanke. Wir biedern uns nicht an. Wir | |
| machen kein Makramee. Das wäre auch falsch verstandene Kulturarbeit. Unsere | |
| schärfsten Kritiker sind übrigens die Eltern, die ihre Kids hier zum | |
| Musikunterricht bringen. Die haben dann eine Stunde Zeit, um sich hier | |
| alles anzugucken, und dann schreiben sie ihre Kommentare ins Gästebuch. Wir | |
| haben auf jeden Fall super Besucherzahlen, pro Jahr 50.000 bis 60.000 | |
| Leute. | |
| Gleichzeitig hat der Kunstraum Kreuzberg nur eine Grundfinanzierung, für so | |
| gut wie alle Ausstellungen muss Geld beantragt werden. | |
| Inzwischen haben wir 50.000 Euro Programmmittel, das ist mehr als früher. | |
| Aber nichtsdestotrotz: Wenn wir größere Ausstellungen machen wollen, sind | |
| wir auf Fördertöpfe angewiesen. Darum gehen wir Kooperationen ein, sei es | |
| mit dem Goethe-Institut, mit dem IfA-Institut, mit Goldrausch, mit der | |
| Transmediale, mit dem Club Transmediale … | |
| Das bedeutet aber auch, dass das Programm des Kunstraums immer auch ein | |
| Stück weit dadurch beeinflusst ist, dass jemand gut Anträge schreiben kann. | |
| Das ist ein bisschen meine Rolle. Ich verstehe mich als Ermöglicher. Wenn | |
| jemand mit einer Idee kommt, dann überlege ich: Für wen könnte das spannend | |
| sein? Ich habe da mittlerweile einen guten Riecher. | |
| 27 Sep 2023 | |
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| [3] https://www.museumderdinge.de/information/presse/goodbye-kreuzberg | |
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| ## AUTOREN | |
| Tilman Baumgärtel | |
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