| # taz.de -- Bethanien-Besetzer über Vergangenes: „Sich erst mal verwirkliche… | |
| > Vor 50 Jahren besetzten Jugendliche das ehemalige Schwesternwohnheim des | |
| > Bethanienkrankenhauses in Berlin-Kreuzberg. Sie wollten selbstbestimmt | |
| > leben. | |
| Bild: Besetzer*innen der ersten Stunde (von links): Bernhard Käßner, Renate D… | |
| Haus-Besetzer*innen stellen sich normalerweise nicht vor: Ich bin Frau XYZ. | |
| Es wäre schräg zu behaupten, dass dieses Gespräch in der „Sie“-Form | |
| stattgefunden hat. Außerdem sollte ursprünglich auch jemand von der | |
| aktuellen Bewohnerschaft dabei sein. Doch während die Oldies gerne | |
| erzählen, sind die Jungen eher verschwiegen und wollen nicht als Personen | |
| sichtbar werden. | |
| taz am wochenende: Am 8. Dezember vor 50 Jahren kletterten Jugendliche über | |
| den Zaun des [1][Bethanienkrankenhauses am Mariannenplatz in | |
| Berlin-Kreuzberg] und besetzten das ehemalige Schwesternwohnheim, das | |
| heutige Rauch-Haus. Wie lief das ab? | |
| Marina: Das Bethanien stand damals seit anderthalb Jahren leer. Wir hatten | |
| einen guten Kontakt zu dem Hausmeister und wussten von ihm, dass das | |
| Gebäude beheizt wurde und in sehr gutem Zustand war. Wir entschieden uns, | |
| das „Martha-Maria-Heim“ mit seinen etwa 50 Zimmern zu besetzen. Da wollten | |
| wir ausschließlich mit Jugendlichen selbstbestimmt wohnen. Ich gehörte zur | |
| Vorhut. Wir waren gut vorbereitet, hatten Proviant und Kerzen dabei und | |
| Werkzeug, um das Schloss aufzubrechen. Als wir drin waren, haben wir uns | |
| still in einen Raum gesetzt und auf die Anderen gewartet. Nach etwa zwei | |
| Stunden hörten wir Stimmen im Garten, bald waren ungefähr 100 Leute im | |
| Haus. | |
| Wo kamen die alle her? | |
| Bernhard: An der TU hatte es ein Teach-in gegeben. Die Polizei hatte vier | |
| Tage vorher Georg von Rauch erschossen, und darüber wurde in der | |
| Veranstaltung informiert. Die Scherben [die Band Ton, Steine, Scherben – | |
| Anm. d. Red.] spielten, und Rio Reiser, der Sänger der Band, forderte die | |
| Leute auf, zum Mariannenplatz zu fahren und die Jugendlichen zu | |
| unterstützen. | |
| Marina: Die (zögert) Bullen waren aber bald informiert. Mehrere hundert | |
| Leute standen dann noch draußen und wurden brutal abgedrängt. | |
| Wie hattet ihr das Ganze vorbereitet? | |
| Marina: Im Sommer 71 hatten wir drei Fabriketagen am Mariannenplatz 13 | |
| besetzt – zusammen mit der Stadtteilgruppe Kreuzberg, die sich gegen die | |
| Sanierungspläne des Senats engagierte, der Theatergruppe Rote Steine und | |
| der Band Ton, Steine, Scherben. Das Gebäude war sehr runtergekommen und | |
| nicht beheizbar. Zusammen haben wir versucht, die Räume zu renovieren und | |
| einzurichten, aber das gelang nur mäßig. Schon dort fand wöchentlich ein | |
| Plenum statt, an dem alle beteiligt waren. Unter uns Jugendlichen wuchs das | |
| Bedürfnis, auch gemeinsam zu leben. | |
| Bernhard: Ich habe damals in der Theatergruppe Rote Steine mitgespielt, wir | |
| traten in verschiedenen Jugendheimen in Kreuzberg auf. Da ging es viel um | |
| Probleme von Lehrlingen und die beengten Wohnverhältnisse. Ich lebte | |
| zusammen mit vier anderen Jugendlichen in einer 2-Zimmer-Wohnung mit | |
| Außenklo. Wir brauchten alle ein eigenes Zimmer und waren sofort | |
| begeistert, das Bethanien zu besetzen. | |
| Marina: Ich bin in einer 1,5-Zimmer-Wohnung im Hinterhof, Seitenflügel | |
| aufgewachsen. Die Toilette einen halben Stock tiefer teilten meine Eltern, | |
| meine Schwester und ich uns mit zwei Nachbarn. Das Badezimmer war in der | |
| Küche. Wenn ich mich morgens gewaschen hab, machte meine Mutter direkt | |
| daneben das Frühstück, und mein Vater kam auch noch rein. | |
| Wie hat die Politik auf die Besetzung reagiert? | |
| Marina: Das Bezirksamt wurde alarmiert, und wir forderten, dass der | |
| Jugendstadtrat Erwin Beck zu uns ins Haus kommen sollte. Der zählte zur | |
| linken SPD und war uns als Antifaschist bekannt. Wir hatten die Tür | |
| verrammelt, damit die Polizei nicht reinkommen konnte, und so musste er | |
| über eine Leiter durch ein Fenster einsteigen. Wir erklärten ihm, dass wir | |
| darauf bestehen, das Gebäude als selbstverwaltetes Jugendwohnhaus zu | |
| nutzen. Der Stadtrat wiegelte ab, das Haus sei schon für andere soziale | |
| Einrichtungen verplant – aber wir machten klar, dass wir das Haus nicht | |
| wieder verlassen würden. Schließlich willigte er ein, das Haus vorerst | |
| nicht räumen zu lassen. | |
| Bernhard: Dann kamen auch schon die ersten Trebegänger, weil sich | |
| rumgesprochen hatte, dass es da ein offenes Haus gibt. | |
| Was sind Trebegänger? | |
| Renate: Das waren Kinder und Jugendliche, die von ihren Familien oder aus | |
| Heimen abgehauen waren und auf der Straße lebten. Die Zustände in den | |
| Heimen waren furchtbar. Es gab starre Regeln, Schläge, und Kinder wurden in | |
| Zellen, sogenannte Bunker, eingesperrt, wenn sie sich nicht fügten. | |
| Bernhard: Nach 14 Tagen mussten wir Aufnahmestopp machen. Das Erdgeschoss | |
| und die erste Etage wurden für Schüler, Lehrlinge, Jungarbeiter und | |
| Arbeitslose bereitgestellt, die zweite Etage für die Trebegänger. | |
| Marina: Wir mussten für den Nutzungsvertrag einen Verein gründen. Das aber | |
| konnten nur Volljährige, also Leute ab 21. Ich war damals 16. Ein paar aus | |
| der Stadtteilgruppe Kreuzberg haben das dann übernommen. Für die ersten | |
| sechs Wochen bekamen wir vom Senat 25.000 Mark für Lebensunterhalt, Farbe | |
| und Werkzeug für die Renovierung. | |
| Bernhard: Viele haben einen roten Stern an ihre Tür gemalt und jeder konnte | |
| sich erst mal verwirklichen. | |
| Marina: Für uns war aber ganz klar, dass wir die Verantwortung nicht an den | |
| Verein delegiert haben. Die Selbstorganisation war uns extrem wichtig. Der | |
| Senat forderte drei Sozialarbeiter im Haus, Renate war eine von ihnen. Sie | |
| haben uns nicht beaufsichtigt und sich nicht eingemischt, sondern uns | |
| beraten: Wie kann man mit dem Senat verhandeln, wo müssen wir Kompromisse | |
| eingehen und so weiter. | |
| Renate: Es ging vor allem erst mal um die Legalisierung. Die Eltern mussten | |
| ja ihr Einverständnis geben, dass die Jugendlichen da wohnten. Wir haben | |
| mit ihnen, den Heimleitungen und Jugendämtern gesprochen. Und, ja, wir | |
| haben es in allen Fällen geschafft. | |
| Das klingt jetzt alles nicht so schwierig. Gab es keine Widerstände? | |
| Bernhard: Natürlich hat die Springer-Presse propagiert, dass das Haus von | |
| Terroristen, Gammlern und Arbeitslosen eingenommen wurde. Wir haben dagegen | |
| am 1. Mai ein großes Fest auf dem Mariannenplatz organisiert, um die | |
| Bevölkerung zu informieren, was wirklich bei uns lief. | |
| Renate: Viele Leute fanden es eine Provokation, dass dieses riesige Gebäude | |
| leer stand. Es hat sehr geholfen, dass sich die Bevölkerung solidarisch | |
| verhielt – und das war auch notwendig, denn die Verhandlungen standen | |
| mehrmals auf der Kippe. | |
| Marina: Viele Leute haben uns Möbel geschenkt, wir hatten ja nichts. | |
| Renate: Auch die Situation mit den Trebegängern war damals in Berlin sehr | |
| präsent. Es gab kein Konzept als Alternative zur Heimerziehung. Da war dann | |
| die Hoffnung, dass das Rauch-Haus vielleicht eine Lösung sein könnte. | |
| Es gibt ja auch einen [2][„Rauch-Haus-Song“ von Rio Reiser]. Welche Rolle | |
| spielte die Musik damals? | |
| Marina: Für mich war die Musik wahnsinnig wichtig. [3][Den Song „Ich will | |
| nicht werden, was mein Alter ist“] habe ich zum ersten Mal im Jugendzentrum | |
| in der Wrangelstraße gehört, und das hat mich mobilisiert. Ich dachte, wir | |
| müssen was tun gegen die ganze Ordnung. Auch das Theater Die roten Steine | |
| war superwichtig für uns Jugendliche, die wir ja nicht studiert oder viel | |
| gelesen haben. | |
| Bernhard: Die Musik hat uns Hoffnung gegeben und Kraft. Wenn ich heute | |
| zurückdenke, was ich ändern wollte – und wie die Welt heute schlimmer ist | |
| als je zuvor … Ich höre deswegen nicht mehr so viel Scherben-Songs, weil | |
| ich dann eine Krise kriege. Die knallharten Texte berühren mich emotional | |
| sehr stark. Sie stimmen ja immer noch. | |
| Wie war der Alltag im Rauch-Haus? | |
| Marina: Klar war, alle Entscheidungen werden auf einem Plenum getroffen. Im | |
| ersten Jahr fand das zweimal wöchentlich statt. Da ging es um die | |
| Verhandlung mit dem Senat, Putzpläne und wer neu einziehen durfte. Es gab | |
| eine Kochliste; das gemeinsame Mittagessen war für uns sehr wichtig. Wir | |
| haben immer versucht, einen Konsens hinzubekommen. Und es ging uns nicht | |
| nur ums Wohnen. Draußen lebten und arbeiteten die Menschen ja weiter in | |
| Verhältnissen, die wir ungerecht und falsch fanden. Dagegen wollten wir was | |
| machen, auch in den Betrieben, in denen wir gejobbt oder eine Ausbildung | |
| gemacht haben. | |
| Bernhard: Am Anfang war alles Happyness und Chaos. Aber dann wuchsen bald | |
| die Spannungen. Die Treber sind nachts in die Küche eingebrochen und haben | |
| sich aus dem Kühlschrank bedient. Als die Schüler dann morgens kamen, war | |
| kein Essen mehr da. | |
| Wie habt Ihr euch finanziert? | |
| Marina: Wir wollten für unseren Lebensunterhalt selbst aufkommen. Wer eine | |
| Lehre machte oder jobbte, brachte den Lohn ein. Die Schüler hatten Anspruch | |
| auf Sozialhilfe. Wir wollten unabhängig sein vom Senat und Bezirksamt. | |
| Bernhard: Es stand noch mal im Raum, dass der Senat uns ein zweites Mal mit | |
| einem größeren Betrag unterstützen würde. Ich wäre dafür gewesen. Es gab | |
| viel zu viele Probleme, zum Beispiel die Trebegänger zu integrieren. Aber | |
| das wurde abgelehnt. | |
| Renate: Du glaubst wirklich, wenn ihr noch einmal eine finanzielle | |
| Unterstützung angenommen hättet, wäre es grundsätzlich anders geworden? | |
| Bernhard: Das weiß ich nicht. Natürlich gab es Schmarotzer, die nichts | |
| beigetragen und nur Dreck gemacht haben. Vielleicht hätte man da ein | |
| bisschen mehr Geduld haben müssen. Auf dem Plenum konnten einige Leute sehr | |
| intellektuell quatschen, einer wollte sogar eine kommunistische Partei | |
| gründen. Das waren keine Themen für die Treber, die zum Teil nicht einmal | |
| richtig lesen und schreiben konnten. So ist es eskaliert: Wer nicht zur | |
| Schule ging oder arbeitete, musste gehen. | |
| Marina: Ich erinnere mich an viele Diskussionen, wo wir versucht haben, | |
| Leute zu halten und zu unterstützen. Und wir haben auch gesehen, dass es | |
| Jugendliche gibt, die die Regeln nicht einhalten können. Mit den | |
| Trebegängern waren wir einfach überfordert, glaube ich. Wir waren ja selbst | |
| grad erst den Kinderschuhen entwachsen und haben nicht gesehen, dass die | |
| Kinder aus den Heimen im Grunde ein Nest gebraucht hätten. | |
| Renate: Ich finde, es stimmt beides. Ich fand es richtig, dass ihr die | |
| Entscheidung getroffen habt zu arbeiten, um euch zu finanzieren. | |
| Gleichzeitig war das eine sehr politische Idee, der auch nicht alle folgen | |
| konnten – auf keinen Fall die Trebegänger. Die sind da rausgefallen. Wenn | |
| jemand aufgrund seiner Sozialisation so kaputt gemacht wurde wie diese | |
| Jugendlichen, dann brauchen sie Stabilität, auch emotional. Und die können | |
| ihnen Jugendliche nicht geben, die selbst auf der Suche sind. | |
| Bernhard: Wir hätten kreativer sein können. Heute stellt man Holzspielzeug | |
| her, strickt Pullover und vertickt das. Im Haus aber war die Parole: | |
| Arbeiten gehen. Ich habe damals vorwiegend Theater gespielt und nur ein | |
| oder zwei Tage gejobbt. Viele im Haus waren aber der Meinung, wir müssen | |
| die Arbeiter in den Betrieben agitieren. Ich war ja bewusst aus diesen | |
| Zusammenhängen rausgegangen. Das hat dann dazu geführt, dass ich nach etwa | |
| einem Jahr ausgezogen bin und erst mal bei den Scherben mitgewohnt habe. Da | |
| sind auch viele Treber untergekommen. | |
| Gab es auch Streit zwischen den Mädchen und Jungen? | |
| Marina: Ja. Viele Mädchen fühlten sich von den Jungs unterdrückt – in ihren | |
| Beziehungen, aber auch auf dem Plenum. Wir haben uns deshalb zur Gruppe | |
| Rote Kralle zusammengeschlossen und uns gegenseitig Stärke gegeben. Da habe | |
| ich meine Interessen und Fähigkeiten überhaupt erst entdeckt. Und wir haben | |
| natürlich auch politische Arbeit gemacht, zum Beispiel gegen den Paragrafen | |
| 218. | |
| Welche Rolle spielten die SozialarbeiterInnen? | |
| Renate: Mein Vorgesetzter, der Stadtrat, wollte, dass wir im Haus bleiben, | |
| damit sie mitkriegen, was da los ist. Wir haben aber im Plenum diskutiert, | |
| dass Selbstorganisation und Sozialarbeit nicht zusammenpassen. Deshalb | |
| haben ich und meine beiden Kollegen nach etwa drei Monaten entschieden, | |
| dass wir aus dem Haus rausgehen. Formal waren dann die Sozialarbeiter aus | |
| dem Bezirk zuständig. Ich selbst habe mich dann weiter persönlich im und | |
| fürs Rauch-Haus engagiert. | |
| Marina: Für mich waren Renate und die anderen beiden Sozialarbeiter sehr | |
| wichtig, weil sie mich ernst genommen und stark gemacht haben. Und es war | |
| gut, dass sie nicht mehr als Vertreter von staatlichen Stellen zu uns | |
| kamen. Den Staat hatte ich in der Schule kennen gelernt, und dort fühlte | |
| ich mich unterdrückt. | |
| Wie ist eure Bilanz nach 50 Jahren? | |
| Marina: Die meisten Besetzer der ersten Stunde sind wie ich nach drei oder | |
| vier Jahren ausgezogen. Aber der Geist ist in uns geblieben. Wir haben | |
| gelernt, uns von oben nicht sagen zu lassen, wie wir zu leben haben. Und | |
| wir haben unsere Interessen in die eigene Hand genommen. Das habe ich | |
| versucht weiterzuleben und weiterzugeben an meine eigenen Kinder und auch | |
| an die, mit denen ich später als Erzieherin gearbeitet habe. | |
| Bernhard: Für mich war das Rauch-Haus eine schöne Zeit, ich hatte mein | |
| eigenes Zimmer und fand es gut, in einer Kommune zusammenzuleben. Dass das | |
| dann längerfristig nicht so gut geklappt hat, fand ich schade. Wenn ich | |
| damals in einen Betrieb hätte gehen müssen, hätte ich mich eher vor die | |
| U-Bahn gestürzt. | |
| Renate: Das Rauch-Haus war ein wichtiger Impuls für die Sozialpädagogik: | |
| Gebt Kindern und Jugendlichen mehr Möglichkeiten, selber zu machen und | |
| selbst zu entscheiden. Da hat sich danach wirklich viel getan. | |
| 11 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Bethanien_(Berlin) | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Rauch-Haus-Song | |
| [3] https://youtu.be/p4sQ_LI5Hk4 | |
| ## AUTOREN | |
| Annette Jensen | |
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