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# taz.de -- Jahresausklang auf dem Tempelhofer Feld: Im leeren Zentrum Berlins
> 2023 war ein schlimmes Jahr – immerhin gibt es noch die Weite des
> Tempelhofer Feldes. Ein desillusionierter Spaziergang in Berlin zum
> Jahresausklang.
Bild: Ein letzter Blick übers Tempelhofer Feld, die Krähen krächzen
Diesmal waren es die Vögel. Irgend etwas gibt es immer zu sehen, wenn man
sich in Berlin mitten auf dem Tempelhofer Feld auf eine der beiden
Landebahnen stellt und einmal umherschaut. Manchmal sind es die Wolken.
Manchmal neue Sporttrends. Manchmal besonders bunte oder auch besonders
alltägliche Parkbesucher.
Und an diesem trüben Dezembertag kämpften also erst die Krähen mit den
Möwen, die Krähen gewannen. Dann entdeckte ich ein hübsches kleines
Raubvogelpaar, Falken vielleicht oder Milane, die flatternd in der Luft
standen und dann auch von den an diesem Tag unerbittlichen Krähen
attackiert wurden.
Waghalsige Flugmanöver vollführten die Krähen, so lange, bis die Raubvögel
vertrieben waren. Und man steht da, den Wind im Gesicht, zwei Kilometer in
jede Richtung bis zu den Gebäuden, und wundert sich über die Natur und ist
draußen. Und spürt Weite. Mitten in der Millionenmetropole und zugleich
weit weg von allem. Das Ein- und Ausatmen eines Wintertages.
Im Frühjahr 2010 stand ich [1][zum ersten Mal bewusst hier] mitten auf dem
Tempelhofer Feld. Lange her. Gefühlt noch viel länger als real. Im
Nachhinein betrachtet war es eine gute Zeit. Barack Obama war seit einem
Jahr US-Präsident. Russland galt als einhegbar. Die Krim war noch nicht
besetzt. Die EU wuchs und wuchs, und Großbritannien war noch drin.
Istanbul hatte Flair, bis zu den Gezi-Protesten waren es noch drei Jahre,
und man hielt es für möglich, dass die Stadt das New York des 21.
Jahrhunderts werden könnte. Ob sich der Arabische Frühling bereits
ankündigte, weiß ich nicht mehr, am Ende des Jahres war er jedenfalls da.
Und Berlin stand auf dem Höhepunkt des Arm-aber-sexy-Seins, ein viriles
Labor der Lebensformen und des Balancierens zwischen Selbstbestimmung und
Selbstausbeutung.
## Es sah nach Aufbruch aus
Einen historischen Augenblick lang sah es nach Aufbruch aus. Und hier, auf
dem Tempelhofer Feld, meinte ich diese Offenheit sinnlich wahrnehmen zu
können. In der Brise, die einem ins Gesicht wehte. In dem weiten Blick. In
den Möglichkeiten, die die Leere der Fläche bot, Platz für jeden. Und in
der Abwesenheit von Reglementierungen (was gar nicht stimmt, es gibt
Reglementierungen, aber so wenig wie möglich).
Von [2][Richard Rorty] stammt der Gedanke, dass das Zentrum einer modernen
Kultur leer sein sollte. Damit ihre Bewohnerinnen und Bewohner es mit ihren
Projekten ausfüllen können. In diesem Sinn war und ist das Tempelhofer
Feld, während die Brache im historischen Zentrum Berlins bald mit dem
nachgemachten Hohenzollernschloss zugebaut wurde, das ideale Zentrum einer
modernen Kultur.
Und die Menschen kamen mit ihren Projekten. Sie bauten Allmendegärten und
fuhren Inlineskates, joggten und lagen lesend im Gras, hielten Händchen und
grillten, ließen Drachen steigen. Tranken ein Bier beim Sonnenuntergang und
fuhren ihre Kinderwagen spazieren. Hier ist man frei wie sonst nirgends in
Deutschland. Und kann zugleich stolz darauf sein, dass sich vieles hier wie
von selbst organisierte, die meisten Menschen sich an die abgesperrten
Vogelbrutplätze im Frühjahr halten und die Windsurfer an ihre Flächen.
## Capital B und bodentiefe Fenster
Doch inzwischen zerschellte, eine nach der anderen, jede einzelne der
Hoffnungen aus dem Jahr 2010. Auf Obama folgte Trump. Putin legte die
Hebel um und setzte auf Krieg. Der Brexit war da. Erdoğan gewann gegen die
Gezi-Proteste. Der Arabische Frühling kollabierte. Und was in Berlin
passierte, konnte man neulich in [3][der Fernseh-Doku „Capital B“]
verfolgen.
Die Mieten stiegen, die Investoren übernahmen, die Immobilienmenschen
kriegten sich vor bodentiefen Fenstern gar nicht mehr ein. Und die
Kreativen, deren Lebensmodell auf billigen Mieten basierte, mussten
vielerorts weichen. Und all dem Übel setzte 2023 mit seinem
steckenbleibenden Krieg, den AfD-Umfragen und dem Massaker im Nahen Osten
die Krone auf.
Das Tempelhofer Feld gibt es noch. In „Capital B“ steht es am Schluss als
letztes Monument da, als Erbe des subkulturell lebendigen Berlin. Da ist
was dran. Doch die Politik arbeitet unermüdlich daran, [4][den
Volksentscheid, der eine Bebauung verbietet, auszuhebeln]. Die
CDU-SPD-Koalition versucht den Eindruck zu vermitteln, dass es gar nicht
mehr die Frage ist, ob es bebaut wird, sondern nur noch geklärt werden
muss, wie.
## Stadtplaner haben Horror Vacui
Wahrscheinlich können manche Stadtentwickler gar nicht anders, als einen
Horror Vacui zu empfinden, wenn sie an die kommerziell ungenutzten
Möglichkeiten dieser Fläche denken. Aber sie wird anders genutzt und
rechnet sich sogar. Metropolen brauchen ihre Besonderheiten, das, was sie
unverwechselbar macht. So etwas wie das Tempelhofer Feld gibt es weltweit
nirgendwo sonst. Luxus für alle. Hier muss Berlin auch nicht ständig
werden, hier kann es sein.
Ein letzter Blick über das Feld für dieses Jahr, die Krähen krächzen, in
der Ferne fahren ein paar Radfahrer. Wie gut, dass 2023 vorbei ist, es war
ein schlimmes Jahr. Immerhin, die Tage werden wieder länger. Und es mag
sein, dass sie das Tempelhofer Feld klein kriegen werden. Aber noch ist es
da. Das ist gut. An irgendetwas muss man sich ja festhalten.
31 Dec 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Dirk Knipphals
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