# taz.de -- Dokuserie über Berlin: Ruinierte Stadt | |
> Der Dokumentarfilm „Capital B“ erzählt in fünf Teilen die Entwicklung | |
> Berlins seit 1989. Es ist die Geschichte eines beispiellosen Niedergangs. | |
Bild: Das Tacheles im Berlin der frühen 90er Jahre | |
„Guten Morgen Berlin / Du kannst so hässlich sein / So dreckig und grau“ | |
deklamiert Peter Fox zu den Vorspannbildern, und zwar gleich fünfmal. Denn | |
so viele Teile hat der Dokumentarfilm „Capital B“. „B“ wie Berlin – | |
„Capital“ wie Großbuchstabe, wie Hauptstadt, aber auch wie: Kapital. | |
Die Geschichte Berlins wurde schon oft erzählt, auch im Film, wiederholt | |
sogar meisterhaft, von „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ (1927) bis … | |
h Berlin – Ein Tag im Leben“ (2009). Die Geschichte der Musikkultur der | |
Vorwendejahre wurde erzählt in dem wunderbaren „B-Movie: Lust & Sound in | |
West-Berlin 1979–1989“. Und genau da, wo „B-Movie“ aufhört, hätte „… | |
B“ nun anknüpfen und die Protagonisten von einst, Dimitri Hegemann, Johnnie | |
Stieler und Danielle de Picciotto vom Tresor Club und der Loveparade, von | |
der beispiellosen Erfolgsgeschichte des Techno in der Gründerzeit der | |
ersten [1][Berliner Nachwendejahre] erzählen lassen können. Das tut er | |
auch, aber er tut es eben nicht nur. | |
Einen ersten Hinweis, wohin die Reise geht, gibt bereits am Anfang der aus | |
dem Osten stammende Tresor-Mitbegründer Johnnie Stieler, wenn er seine | |
allerersten Eindrücke von Westberlin nach dem Fall der Mauer beschreibt: „… | |
so ’ne eingemauerte Stadt mit so Günter-Pfitzmann-Gestalten mit so | |
gelb-schwarzen Hahnentritt-Jacketts … Es war furchtbar, furchtbar | |
provinziell. Wirklich furchtbar provinziell.“ | |
Vom Größenwahn der Günter-Pfitzmann-Gestalten in ihren zu großen Jacketts | |
erzählt „Capital B“ nämlich auch. Vom damaligen Bürgermeister Eberhard | |
Diepgen und seinem Buddy Klaus-Rüdiger Landowsky, deren Bankenskandal den | |
Berliner Schuldenstand schwuppdiwupp um ein paar Milliarden erhöhte. „Er | |
war die Spinne im Netz“, sagt der frühere Fraktionsvorsitzende der Grünen | |
im Berliner Abgeordnetenhaus, Wolfgang Wieland, über Landowsky: „Bei ihm | |
liefen also die politischen und die finanziellen Fäden dieser Stadt | |
zusammen.“ | |
## Präzise erzählt | |
Bereits Florian Opitz’ erster Kino-Dokumentarfilm „Der große Ausverkauf“ | |
(2007) über Privatisierungen auf der ganzen Welt hatte eine | |
kapitalismuskritische Tendenz. Aber es ist ja nicht seine Schuld, wenn | |
Diepgen sich da heute bar jeder Demut bräsig in seinem Ledersessel räkelt, | |
nicht bereit, auch nur den kleinsten Fehler einzugestehen. Diepgen und | |
Landowsky lässt Regisseur Opitz nämlich genauso zu Wort kommen wie ihre | |
Kritiker. In einem anderen Ledersessel sitzt dann etwas später Diepgens | |
Nachfolger im Bürgermeisteramt, Klaus Wowereit, und lobt sich für seinen | |
„Arm, aber sexy“-Stadtmarketing-Slogan. | |
Und so fällt es einem – Wahl-Berliner seit 2006 – wie Schuppen von den | |
Augen. Eins folgt aus dem anderen. Alles hängt mit allem zusammen. So | |
konzise wurde einem das bisher noch nie erzählt. Wie erst das Duo | |
Diepgen/Landowsky das arme Berlin nur noch ärmer gemacht hat, worauf dann | |
dem Duo Wowereit/Sarrazin nichts Besseres eingefallen ist als der große | |
Ausverkauf: Wohnungen zu je 30.000 Euro – heute sind sie in der Hand von | |
Konzernen mehr als das Zehnfache wert. | |
Und eine Mehrheit der Berliner wünscht sich, keinen bezahlbaren Wohnraum | |
mehr findend, [2][per Volksentscheid die Enteignung der Vonovia]. Während | |
der zunehmend von Rollkoffer-Billigtouristen heimgesuchte Techno-Club Bar | |
25 exemplarisch dem „Mediaspree“ genannten Investorenprojekt zum Opfer | |
gefallen ist. Wie zuvor die einst so idyllische Loveparade an ihrer | |
Kommerzialisierung erstickt ist. | |
## Seit 30 Jahren im Niedergang | |
Bewegte Bilder aus den Jahren seit 1989 gibt es zuhauf. So konnte Regisseur | |
Opitz sich auf diese Archivaufnahmen und seine Talking Heads (darunter | |
Renate Künast, der Stadtsoziologe Andrej Holm, die Radio-Moderatorin Marion | |
Brasch, die Journalisten Alexander Osang und Güner Balci) beschränken – und | |
auf jeglichen Off-Kommentar verzichten. „Capital B“ führt nämlich auch das | |
vor Augen: den Unterschied zwischen Dokumentarfilm(-kunst) und dem | |
alltäglichen Schwarzbrot journalistischer TV-Dokus. | |
Berlin befindet sich seit 30 Jahren im Niedergang. Trotzdem hat keiner der | |
vorkommenden Protagonisten die Stadt bislang verlassen. Der Rapper Kool | |
Savas kann mit Techno ebenso wenig anfangen wie Peter Fox. Die beiden | |
letzten Zeilen von dessen (Anti-)Hymne auf Berlin lauten: „Und ich weiß, ob | |
ich will oder nicht / Dass ich dich zum Atmen brauch.“ | |
5 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jens Müller | |
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