# taz.de -- Nachruf auf Filmemacher Jean-Luc Godard: Das aktivste Gespenst des … | |
> Bei dem französisch-schweizerischen Ausnahmeregisseur Jean-Luc Godard war | |
> alles Analyse und Synthese zugleich. Nun ist er 91-jährig verstorben. | |
Bild: Frankie Dymon spricht mit Jean-Luc Godard bei den Dreharbeiten zu „One … | |
JEAN-LUC CINÉMA GODARD: So steht es am Ende seines Films „Außenseiterbande�… | |
von 1964 in Großbuchstaben geschrieben. Das war halb ernst, halb ironisch, | |
ganz spielerisch, wie so viel bei Godard (so konkurriert die Schrift im | |
Bild mit dem Schriftzug „Pernod“ auf einem Laster, der Witz ist gewollt). | |
Und nein, Jean-Luc Godard war nicht das Kino, aber es lässt sich keine | |
Geschichte des Kinos vorstellen, in der ihm nicht eine zentrale Stelle | |
gebührte. | |
In den Rankings der bedeutendsten Filme aller Zeiten landet keines seiner | |
sehr vielen Werke je ganz oben, zwei allerdings ragen heraus, wenn es um | |
Popularität geht: Gleich das Langfilm-Debüt, „Außer Atem“ von 1959, hat, | |
ganz buchstäblich, Epoche gemacht. | |
Hier war ein revolutionärer Film, der aus dem Regelbruch etwas sofort | |
selbst Klassisches formte, und er war ungemein populär, machte [1][Jean | |
Seberg] und [2][Jean-Paul Belmondo] zu Stars, ja zu Ikonen. | |
Eigentlich eine triviale Gangster- und Liebesgeschichte, Ausgang tragisch, | |
aber Godard hatte sie wie keiner vor ihm erzählt. Auf der Straße gedreht, | |
spontan, schnell, mit Jump Cuts montiert, ein Film, der aus Zitaten des | |
Hollywood-Kinos besteht, die berühmte Bewegung, mit der Belmondo sich à la | |
Bogart mit dem Daumen die Unterlippe entlangfährt, aber Godard macht etwas | |
ganz anderes daraus als das, was zitiert wird. | |
## Der Beginn der Nouvelle Vague | |
All das, diese Ästhetik, kam aus einem Milieu von Freunden, die ähnlich | |
dachten, die dieselben Filme an denselben Orten gesehen hatten, die | |
Hollywood viel mehr verehrten als das französische Kino, das ihnen | |
verstaubt und verknöchert vorkam. Die Freunde, auch Godard, hatten längst | |
über all das geschrieben, für Hollywood, gegen das Qualitätskino, hatten | |
angefangen, kurze Filme zu drehen, im Hintergrund stand die gemeinsame | |
Zeitschrift Cahiers du cinéma, der Theoretiker André Bazin, es gab ein | |
Programm, dann kamen die Spielfilme, dann der Name für die Bewegung: | |
„Nouvelle Vague“, neue Welle. | |
Godard hatte mitgeschrieben, unter Spannung stehende, beachtete Texte, gern | |
thesenhaft, nie schlüssig, um Aphorismen selten verlegen, alles nach vorne, | |
nichts zu Ende gedacht, das sollte so bleiben: Es ging ihm nie um | |
abgeschlossene Formen. | |
Nach „Außer Atem“ drehte Godard in rascher Folge weitere Filme, manche | |
gingen beim Publikum unter, aber „Die Verachtung“ war ein riesiger Hit, | |
eigentlich eine Auftragsarbeit, aber auch die ließ sich dekonstruieren. | |
## Bardot godardisiert | |
Superstar Brigitte Bardot godardisiert, beim nackten Körper genommen, beim | |
Nennwert und zugleich als Zitat, dazu Fritz Lang, der einen Regisseur | |
spielt, als Figur von filmhistorischem Gewicht. Es mischt sich hier und | |
stets bei Godard immer alles zugleich: Hommage, Aneignung, Einschreiben in | |
eine Tradition, die zugleich auf den Kopf gestellt wird. Auch Godard selbst | |
wird in diesen Jahren zur Person in der Öffentlichkeit, die seine | |
Beziehungen zu seinen weiblichen Stars Anna Karina und Anne Wiazemsky und | |
deren Auseinanderbrechen verfolgt. | |
Als „permanenten Revolutionär“ hat Bert Rebhandl den Regisseur, und den | |
Mann, in seiner Biografie beschrieben. Godard wendet sich, wieder und | |
wieder, nicht zuletzt gegen sich selbst. Es war ihm das Revolutionäre dabei | |
nicht in die Wiege gelegt: Geboren und nach ein paar Jahren in Paris auch | |
aufgewachsen in der Schweiz, in idyllischer Umgebung, am Genfer See, aus | |
großbürgerlicher Familie, der Vater leitete eine Privatklinik, die | |
Großeltern hatten mit den Nazis kollaboriert. | |
Keineswegs war Godard von Anfang an links, erst im Lauf der sechziger Jahre | |
kam es zur Radikalisierung – auch der Antisemitismus, der ihm nicht ohne | |
Grund vorgeworfen wird, ist eher typisch für den der damaligen | |
propalästinensischen Linken. | |
## Gegen Tradition, für Glamour | |
Sein erster Revolutionsfilm war „La chinoise“ (1967), der im Pariser | |
Maoistenmilieu spielt, sein letzter „Weekend“ im selben Jahr, denn damit | |
war mit dem Godard der frühen Jahre mit seiner Mischung aus Traditionszitat | |
und Traditionszertrümmerung, Witz, Pop und Star-Glamour erst einmal | |
Schluss. | |
Und mit der Autorschaft auch: Godard tat sich mit dem intellektuellen | |
Filmemacher Jean-Pierre Gorin zusammen, sie drehten unter dem Namen Groupe | |
Dziga Vertov Dokumentarisches, Pamphletartiges, durchaus wiedererkennbar im | |
Stil mit seinen Texttafeln, Schlagworten, Musik, die an- und gleich wieder | |
abbricht, abrupter Montage, die das Geschehen stets aus dem Hinterhalt | |
überfällt. | |
Vom Kino als bürgerlicher Institution hatte sich Godard damit allerdings | |
verabschiedet, er drehte auf Video, filmte Revolutionäre im Gras, brachte | |
obskur Linientreues aus Prag mit, ließ sich, um es für seine revolutionären | |
und auch pädagogischen Zwecke zu kapern, mit dem Fernsehen ein. Das war | |
alles durchaus faszinierend, auch in den Sackgassen noch, in die Godard | |
sich mit hohem Tempo begab, ist aber teils bis heute schwer greifbar, ein | |
größeres Publikum hat nichts davon je erreicht. | |
## Ungeheure Energie | |
Dann wieder eine Wende. In den späten siebziger Jahren tut sich Godard mit | |
der Filmemacherin Anne-Marie Miéville zusammen, privat und auch filmisch, | |
sie ziehen sich in das malerische Örtchen Rolle in Godards Schweizer Heimat | |
am Ufer des Genfer Sees zurück. Und Godard macht wieder Kino, mit | |
ungeheurer Energie, jedes Jahr mindestens einen Film, auch mit Stars. In | |
„Passion“ (1982) spielt Michel Piccoli, vor allem aber eine ganz junge | |
Isabelle Huppert. | |
Sein „King Lear“ (1987), der aus Filmrechtegründen lange quasi unsichtbar | |
bleibt, taucht neben Molly Ringwald, Julie Delpy und Godard selbst sogar | |
Woody Allen auf, was Prinzip hat, denn Godards Filme sind längst von einer | |
radikalen Durchlässigkeit für eigentlich alles: Tagesrest, Mythos, | |
Hollywood, Musik, Theorie, Malerei, Zitat-Artefakte aller Art. | |
Ein Hauptwerk: „Histoire(s) de cinéma“ (1998), eine Geschichte des Kinos | |
als monströse Videomontage, an der Godard rund zehn Jahre saß, eine Flut | |
der historischen Kino-Bilder und nicht zuletzt auch der Töne, viereinhalb | |
Stunden, zwischen den Filmzitaten immer wieder Godard, an der | |
Schreibmaschine, die ikonische Zigarre im Mund: Er tippt. | |
## Die Beschwörung des Kinos | |
Es geht um die Beschwörung des Kinos in ungezählten Ausschnitten: Hitchcock | |
als Schöpfer seines eigenen Universums spielt eine wichtige Rolle. Der | |
eigentliche Fluchtpunkt der „Histoire(s)“ aber sind der Holocaust, Hitler, | |
das „Dritte Reich“, der Jugoslawienkrieg, die Menschheitsverbrechen – und | |
das Versagen des Kinos, das Tod und Gewalt nicht verhindert hat. | |
Das Kino wird zur Sache der Gespenster beim späten Godard, der Präsenz des | |
zugleich anwesenden und abwesenden Toten. Die Montage ruft herauf und | |
zurück, was verdrängt war, was insistiert, die Filme sind mit Zitaten | |
gepflastert, Godard ist der Name für ein filmisches Verfahren, das die | |
Bilder und Töne nicht hierarchisiert, sondern Zuschauer*innen in | |
maßloser Überforderung als dialektischen Strom überfällt. | |
Alles ist immer Analyse und Synthese zugleich. Godard ist ein Engel (oder | |
Teufel, wer weiß) der Geschichte, der der Gegenwart radikal zugewandt | |
bleibt, unternimmt mit [3][„Adieu au langage“ (2014) ein atemberaubendes | |
3D-Experiment]. | |
Die Filme laufen in Cannes oder auch nicht, Godard bleibt immer in Rolle. | |
2020 gibt er mitten in der Coronapandemie eine Art Masterclass live auf | |
Instagram, als aktivstes Gespenst der Kinogeschichte. Weshalb man auch | |
sicher sein kann, dass der am Dienstag im Alter von 91 Jahren durch | |
[4][aktive Sterbehilfe] gestorbene Godard fortleben wird, solange es Kino | |
gibt, als zentralste aller seiner Randfiguren, forever Godard, der schon zu | |
Lebzeiten der untoteste aller Regisseure war. | |
13 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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