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# taz.de -- João Canijos „Mal Viver“ und „Viver Mal“: Vom Hintergrund …
> Filmisches Doppel im einsamen Hotel: João Canijos „Mal Viver“ und „Viv…
> Mal“ erzählen dieselbe Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven.
Bild: Tochter und Mutter: Salomé (Anabela Moreira) und Piedade (Madalena Almei…
Ein Film hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Jean-Luc Godard (und
sein Epigone Quentin Tarantino) würden ergänzen: nicht unbedingt in dieser
Reihenfolge. So oder so ist ein Film in aller Regel eine geschlossene Form.
Orte, Figuren, Geschichten existieren innerhalb der Laufzeit des Werks.
Angesichts der inzwischen fast 130 Jahre langen Geschichte des Films mag es
überraschen, dass diese Regel so selten aufgebrochen wurde, dass es so
wenige Versuche gab, diese Form zu sprengen.
So ein Experiment gibt es nun bei der Berlinale zu sehen, ein Doppelfilm
des portugiesischen Regisseurs João Canijo: „Mal Viver“, der im Wettbewerb
zu sehen ist und „Viver Mal“, der in der Sektion Encounters gezeigt wird.
Beide Filme spielen in einem einsamen Hotel, das nicht mehr allzu gut
läuft. Nur noch wenige Gäste verirren sich in den altmodischen Bau, der
seine besten Tage hinter sich hat, faulenzen am Pool, lassen sich im
Restaurant bedienen. „Mal Viver“ erzählt von den Besitzerinnen des Hotels,
vor allem der Geschäftsführerin Piedade (Anabela Moreira), ihrer Mutter
Sara (Rita Blanco) und ihrer Tochter Salomé (Madalena Almeida), deren
Vater, von dem Piedade schon lange getrennt war, gerade verstorben ist.
## Frauen aus drei Generationen
Das Verhältnis der Frauen aus drei Generationen ist distanziert und kühl,
was Canijo durch die Bilder noch unterstreicht: In langen Einstellungen
spielt sich das Geschehen ab, in Bildern, die oft durch Türrahmen oder
Fenster eingefasst sind, in ferne Räume blicken, in denen Figuren sich
überlagern, auch Figuren, die anscheinend keine Bedeutung haben.
Besonders zwei Szenen sind zu nennen: Eine spielt im Restaurant des Hotels,
wo Piedade den Gästen Wein empfiehlt oder Stammgäste begrüßt, und eine
frontale Einstellung der Hotelfassade, in der fünf Fenster erleuchtet sind,
fünf Zimmer, fünf Leben zu beobachten sind.
Auch für sich betrachtet ergeben diese Szenen Sinn, zeigen Variationen des
Zwischenmenschlichen, alltägliche Situationen, die eskalieren, zum Streit
führen, die um das Thema Mutter-Tochter-Beziehungen kreisen. Ein Thema,
dass durch den zweiten Film des Doppels variiert, erweitert und aus anderer
Perspektive betrachtet wird.
## Zwei Filme, zwei Perspektiven
„Viver Mal“ besteht aus drei Episoden, die jeweils von Stücken August
Strindbergs inspiriert sind. In jeder dieser Episoden stehen Figuren aus
„Mal Viver“, die dort in besagter Restaurantszene auftauchten oder in
anderen Szenen bisweilen im Hintergrund zu sehen waren, im Mittelpunkt: Ein
Paar, das durch ständige Anrufe seiner Mutter irritiert wird, ein anderes
Paar, dessen Mutter gar zusammen mit ihnen im Hotel ist, schließlich ein
lesbisches Paar, das von der Mutter der einen Frau auseinandergebracht
wird.
Manche Szenen finden sich in beiden Filmen, teils sogar dieselben
Einstellungen. Andere sind in den beiden Filmen und den drei Episoden von
„Viver Mal“ aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen, bisweilen
unterscheiden sie sich gar nur durch den wechselnden Fokus der Tonspur, die
mal die Unterhaltung dieses Paars hören lässt, später dann dieselbe
Einstellung zeigt, diesmal aber die Unterhaltung eines Paars hörbar macht,
das vorher im Hintergrund saß und nicht zu hören war.
## Missverständnisse und Streitereien
Wie eine manierierte Spielerei mag sich dieses Konstrukt anhören, doch was
João Canijo mit seinem formalen Experiment im Sinn hat, ist mehr. Zwar
funktioniert gerade „Mal Viver“ auch als alleinstehender Film durch seine
formale Strenge, den konzentrierten Blick auf die gestörten
Mutter-Tochter-Verhältnisse, in denen Verletzungen von Generation zu
Generation weitergegeben werden. Doch „Viver Mal“ zeigt nicht einfach nur
weitere problematische Beziehungen, die zufällig am selben Ort spielen:
Immer wieder ist Piedade, die eigentliche Hauptfigur des Doppelfilms, im
Bild zu sehen, als zufällige Ohrenzeugin der Missverständnisse und
Streitereien der Hotelgäste.
Vielleicht ist es all dieses Elend, das sie als ständige Präsenz im Hotel
mitanhören muss, das sie zu der Tat führt, die am Ende von „Mal Viver“
steht. Für das Verständnis des einen ist die Kenntnis des jeweils anderen
Films nicht zwingend notwendig, als formales Experiment zeigt João Canijos
Doppelfilm jedoch spannende Möglichkeiten auf, Erzählungen anders und auch
komplexer filmisch umzusetzen.
25 Feb 2023
## AUTOREN
Michael Meyns
## TAGS
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