# taz.de -- Kinofilm aus der Schweiz: Unerhörte Dinge | |
> „Drei Winter“ ist ein eigenwilliges Drama, das in den Schweizer Alpen | |
> spielt. Es erzählt wortkarg von einer Liebe unter erschwerten | |
> Bedingungen. | |
Bild: Szene aus „Drei Winter“: Ein Schweizer Bauer zieht eine Kuh den schne… | |
„Ein Heimatfilm, der kein Heimatfilm ist“ – Simon Wisler, Bauer aus dem | |
Schweizer Kanton Uri, brachte in einem Interview treffend auf den Punkt, | |
wie er Michael Kochs eigenwilliges Bergdrama „Drei Winter“ und seine Rolle | |
darin sieht. | |
Mit Wislers breitem Rücken in der Sonne und seinen wuchtigen Schlägen beim | |
Einrammen der Zaunpfähle fürs Almvieh beginnt eine Geschichte, die in der | |
beliebten Urlaubsregion am Südende des Vierwaldstättersees angesiedelt | |
ist, aber in keinem Moment den Blick durch touristische Alpenklischees | |
verstellt. | |
Mit einem kleinen Ensemble ortsansässiger Laien gelingt dem Schweizer | |
Filmemacher Michael Koch ein fast ethnologisch präzises Porträt der rauen, | |
die Wortkargheit der Bergler prägenden Lebenswirklichkeit in einem | |
hochgelegenen Seitental, in dem einst auch [1][Urs Odermatts] Film | |
„Gekauftes Glück“, ein Klassiker des Schweizer Kinos, entstand. | |
## Markante Landmarken aus Fels | |
Anschluss ans moderne Leben ist da, man kurvt hinunter zum See und zu den | |
urbanen Institutionen, aber immer noch setzen die Felsen und Wasserläufe | |
die markanten Landmarken und bestimmen die unerbittlichen Naturgewalten | |
Sonne, Nebel und Schnee den jahreszeitlichen Takt der bäuerlichen Arbeit. | |
Die Bilder geben den langsamen Rhythmen Raum, wenn das Heu am Steilhang | |
eingebracht wird, wenn ein archaischer Begattungsversuch unter den Rindern | |
misslingt, wenn eines davon, liebevoll Olga genannt, zum Schlachten geführt | |
oder die Post auch im Winter bis zu entlegenen Höfen gebracht werden muss. | |
Die Stille vieler Szenen überträgt sich intensiv, plötzlich aber passieren | |
unerhörte, unerwartete Dinge: Zwei Bauern stehen zum Beispiel wartend im | |
Herbstnebel, ein surreales metallisches Sirren wird lauter, und mit einem | |
Mal sieht man, wie sich ein riesiger Heuballen am Hängeseil nähert und auf | |
den Boden prallt. | |
## Starke Arme | |
In dieser wenig idyllischen und doch faszinierenden Bergwelt inszeniert | |
Michael Koch eine elliptisch erzählte Liebesgeschichte, deren tragischer | |
Ernst durch die Balladen und Elegien eines Chores (Musik: Tobias Koch) über | |
drei Winter hinweg in Kapitel geteilt und schmerzlich akzentuiert wird. | |
Marco (Simon Wisler), der zugewanderte „Eisteetrinker“ mit den starken | |
Armen, und Anna (Michèle Brand), eine alleinerziehende Mutter, die als | |
Serviererin jobbt und die Post ausfährt, verlieben sich unter den Augen der | |
dörflichen Stammtischrunde. | |
Das heißt: Eher nimmt sich die willensstarke zarte Anna den Schweiger, auch | |
gegen die unausgesprochene Missgunst der Bergler, von denen kaum einer eine | |
Frau fürs harte Landleben gewinnen kann. | |
Die Frage „What is Love?“ aus dem anfangs begeistert mitgesungenen | |
90er-Jahre-Dance-Hit von Haddaway kippt bald unmerklich ins Existenzielle, | |
als sich herausstellt, dass Marco schwer krank ist. Schlimmer noch, bald | |
nach seiner Operation verändert sich sein Verhalten und er tut etwas, das | |
Anna und schärfer noch ihre beste Freundin als nicht hinnehmbare Bedrohung | |
für Annas kleine Tochter Julia ansehen. | |
Die vertrauten Gespräche zwischen Mutter und Kind kreisen bald mehr um die | |
letzten Dinge, um Marcos Satz „Ich will nicht sterben“ und Julias Frage, ob | |
man in den Himmel komme. Sie deuten unmissverständlich an, dass das Mädchen | |
keinen seelischen Schaden davongetragen hat. Aber der Druck wirkt so stark | |
auf Anna, dass sie nichts gegen die Einquartierung des Kranken bei einem | |
Bergler außerhalb des Dorfes unternimmt und bedrückt ihrem Winteralltag | |
nachgeht. | |
Ganz ins Innere zurückgenommen und dennoch berührend deutlich in ihren | |
ungeschminkten Gesichtszügen gespiegelt, vermag Michèle Brand, die | |
Darstellerin der Anna, den Tumult zwischen Abwehr, Mitleid und Liebe | |
glaubhaft zu machen – bis sie schließlich handelt und den Einsamen zu | |
besuchen beginnt. Der Film „Drei Winter“ fragt nicht, was es heißt, wenn | |
sich die Liebe im Zeichen des unaufhebbar nahen Todes wandelt, er zeigt es. | |
15 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Tom-Schilling-spielt-den-jungen-Hitler/!5125609 | |
## AUTOREN | |
Claudia Lenssen | |
## TAGS | |
Schweiz | |
Landwirtschaft | |
Alpen | |
Filmkritik | |
Regisseur | |
Jean-Luc Godard | |
Postpunk | |
Kakao | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Regisseur über seinen Film „Unruh“: „Die Welt ist überall wichtig“ | |
Cyril Schäublin spricht über die anarchistischen Anfänge im Schweizer Jura, | |
seine Uhrmachergroßmutter und die Rolle der Peripherie im Film „Unruh“. | |
Nachruf auf Filmemacher Jean-Luc Godard: Das aktivste Gespenst des Kinos | |
Bei dem französisch-schweizerischen Ausnahmeregisseur Jean-Luc Godard war | |
alles Analyse und Synthese zugleich. Nun ist er 91-jährig verstorben. | |
Debütalbum von OneTwoThree: Dreifach Schmackes vom Bass | |
Drei Bässe, drei unterschiedliche Biografien: Das Trio OneTwoThree aus | |
Zürich rollt den Postpunkfaden aus feministischer Perspektive neu auf. | |
Nachhaltigkeit bei Schokokonzern: Ein bittersüßes Vergnügen | |
Der weltgrößte Schokoladenproduzent Barry Callebaut will nachhaltig werden. | |
Experten zweifeln an den Angaben des Schweizer Konzerns. |