| # taz.de -- Neues Buch von Jörg Magenau: Fluchtpunkt Sprache | |
| > Jörg Magenau lässt seinen Protagonisten durch die „Kanadische Nacht“ | |
| > fahren. Dieser denkt dabei übers Leben und Schreiben nach. | |
| Bild: Etwas mehr Mut zur Banalität des Lebens hätte dem neuen Buch von Jörg … | |
| Wie erzählt man ein Leben? Nicht nur darüber grübelt der Erzähler nach, | |
| während er in einem Mietwagen durch die Nacht fährt, dem sterbenden Vater | |
| entgegen. Während dessen Leben dem Ende zugeht, türmen sich beim Sohn | |
| gerade die Probleme zur Existenz- und Schaffenskrise auf. | |
| Die betagte Malerin aus Berlin-Kreuzberg, die ihn mit der Biografie ihres | |
| verstorbenen Geliebten, mehr Lebenskünstler als Dichter, beauftragt hatte, | |
| lehnt sein Manuskript ab. „Traumsegler“ wird wohl nie als Buch erscheinen, | |
| denn die Auftraggeberin hat es mit einem Veto belegt: das falsche Bild | |
| gezeichnet, die Fakten verzerrt, einen unredlichen Fokus gewählt. Für | |
| einen, der sich schreibend der Welt nähert, ein schreckliches Verdikt. | |
| Dazu drängt sich auch noch der Vater zurück in sein Leben: Schwabe, Arzt, | |
| seit jeher unnahbar und seit 30 Jahren nur noch ein Punkt auf der | |
| Landkarte, irgendwo in British Columbia. Auf der Fahrt zu diesem Punkt, auf | |
| dem nächtlichen, gottverlassenen kanadischen Highway, lässt Jörg Magenau | |
| den Großteil der Handlung im Hirn seines Ich-Erzählers ablaufen. | |
| Von Anfang an ist klar: „Kanadische Nacht“ ist ein Meta-Roman. Die | |
| Vater-Sohn-Geschichte ist stets auch Reflexion über das Schreiben und die | |
| Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Leben. Ist es nicht „immer ein | |
| Gewaltakt“ […], Menschen in Figuren, ihr Leben in Text und ihre Liebe in | |
| etwas so Fragwürdiges wie eine Erzählung zu verwandeln“? Und nimmt, wer | |
| über jemanden schreibt, diesem nicht „etwas weg, nicht zuletzt seine | |
| Wahrheit“? | |
| ## Magenau ist Biograf von Walser und Wolf | |
| Magenau, selbst als Biograf, unter anderem von Christa Wolf und Martin | |
| Walser unterwegs (und natürlich als Literaturkritiker), verhandelt hier | |
| auch sein eigenes Handwerk – Schreiben zwischen Broterwerb und | |
| Weltaneignung, zwischen Wirklichkeits- und Legendenproduktion. Dabei | |
| erweist er sich als geschickter Erzähler: Mühelos verwebt er Rückblenden, | |
| Gedankenfetzen und Situationskomik mit literarisch-philosophischen | |
| Überlegungen zu einer stimmigen Erzählung über ein Leben. | |
| Ein merkwürdig aus der Zeit gefallenes Leben ist das, wo der Arzt-Vater zu | |
| Hause [1][Hölderlin liest], wenn er nicht gerade im Nebenzimmer | |
| praktiziert, und die Mutter mit dem Sohn musiziert: „Mutter begleitete mich | |
| gerne auf dem Klavier, wir spielten Cello-Sonaten von Beethoven, sie viel | |
| besser als ich […]. | |
| Nie waren wir uns näher als im gemeinsamen Musizieren, das mehr ist als | |
| bloß ein Gespräch, weil man zusammen etwas erschafft, etwas Flüchtiges, das | |
| nur so lange hält, wie das Spiel dauert, aber doch eine enorme Befriedigung | |
| hinterlässt.“ | |
| So viel Bildungsbiedermeier hält man nur aus, weil die Idylle nicht | |
| ungebrochen bleibt: Die Mutter brennt mit dem Klavierlehrer durch und der | |
| Vater bringt von einer Trekkingtour im Himalaya eine Sächsin mit Vorliebe | |
| für Ethnokitsch mit. Als Paar kann man sich diese in praktischer | |
| Zweckgemeinschaft verbundenen deutschen Aussiedler gut vorstellen, wie sie | |
| in ihren Outdoorjacken Gipfel erklimmen oder sich in ihrem Garten mit | |
| Seeblick einen kitschigen Teich anlegen. | |
| ## Künstlerklischee aus Kreuzberg | |
| Ebenso gut kann man sich das andere, jüngere Paar vorstellen, das Magenau | |
| in Kreuzberg das Klischee einer von gegenseitiger Inspiration und | |
| Leidenschaft durchwehten Künstlerexistenz leben lässt. Die Malerin und der | |
| Dichter, dessen Leben der Biograf für die Nachwelt festhalten soll, sie | |
| sind eher plakative Typen als plausible Individuen. | |
| So fasziniert den Biografen auch eher die schillernde Vita des Poeten als | |
| dessen Gedichte: Aufgewachsen in einem Künstlerdorf, mit 15 zur See | |
| gefahren, auf großer Fahrt gestrandet, dann Straßentheater und | |
| Literaturcafé in Kreuzberg. Und ewig die Südsee im Herzen. Kann man so | |
| sehen. Der Biograf sieht aber auch den Alkohol, den ausbleibenden Erfolg, | |
| ein vollgerumpeltes Kabuff in einer ärmlichen Altbauwohnung – Lesarten, die | |
| ihm die Auftraggeberin natürlich strikt verbietet. | |
| Dieser gerade einmal 200 Seiten dicke Roman quillt geradezu über vor großen | |
| Fragen. Was bleibt von einem Leben? Kann man Worten trauen? Was bedeutet | |
| Familie? Und was ist Heimat? | |
| Heimat finden Vater und Sohn, die selbst nie zu einer gemeinsamen Sprache | |
| gefunden haben, in den Versen Hölderlins, so wie sich die Liebe zwischen | |
| dem Erzähler und seiner Freundin irgendwo [2][im Philosophischen zwischen | |
| Ernst Jünger] und Heidegger abspielt. | |
| Endlich das zweite Leben des Vaters betretend, kommt dem Sprachbesessenen | |
| wieder einmal Hölderlin in den Sinn: „Froh kehret der Schiffer heim an den | |
| stillen Strom / Von Inseln fernher, wenn er geerntet hat; / So käm’ auch | |
| hier zur Heimat, hätt’ ich / Güter so viele, wie Leid, geerntet.“ | |
| Das allerdings denkt niemand, der das Haus des Vaters am Tag der Beerdigung | |
| betritt. Die Figuren, besonders die Frauen, bleiben in erster Linie | |
| Ideen-Geschöpfe, Magenau gönnt ihnen wenig Stoffliches. Etwas mehr Mut zur | |
| Banalität des Lebens – das hätte diesem klugen und poetischen, aber auch | |
| ein wenig altmodischen Roman gutgetan. | |
| 12 Apr 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /250-Geburtstag-von-Friedrich-Hoelderlin/!5668441 | |
| [2] /Ernst-Juengers-Hauptwerk-ueberarbeitet/!5055212 | |
| ## AUTOREN | |
| Nina Apin | |
| ## TAGS | |
| Literatur | |
| Buch | |
| Roman | |
| Vater-Sohn-Beziehung | |
| Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
| Kinderbuch | |
| Comic | |
| Literatur | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Roman über die 1980er Jahre: Zwischen Westberlin und Nicaragua | |
| In „Liebe und Revolution“ schildert Jörg Magenau ein politisiertes Milieu. | |
| Es ist ein Biotop, dem auch die taz entsprungen ist. | |
| Kinder- und Jugendbuch im Frühjahr: Vorsicht, Wasserschwein! | |
| Zirkusbären, Riesenschnecken oder Wasserschweine werden gerne unterschätzt. | |
| Dabei bieten sie überraschende Geschichten für junge Leser:innen. | |
| Debüt-Comic von Lina Ehrentraut: Die zwei Körper der Erzählerin | |
| In ihrem Comic „Melek + ich“ erzählt Lina Ehrentraut eine queere | |
| Liebesgeschichte. Dabei mischt sie einen grafischen und einen sehr | |
| expressiven Stil. | |
| Neue Erzählungen von Teresa Präauer: Jenseits hip-ironischer Posen | |
| Der Band „Das Glück ist eine Bohne“ enthält Gelegenheitstexte von Teresa | |
| Präauer. Manches wirkt erst uncool, doch man liest mit leuchtenden Augen. |