# taz.de -- Biografie über Autor Wolfgang Herrndorf: Jenseits der Festanstellu… | |
> Vor dem Aufstieg Wolfgang Herrndorfs als Schriftsteller kam das Scheitern | |
> als Künstler. Tobias Rüther hat über ihn eine kundige Biografie | |
> geschrieben. | |
Bild: Wolfgang Herrndorf im Jahr 2004 | |
Wolfgang Herrndorf war ein Könner. Ein Virtuoso, wie dieser Typus in der | |
Kunsttheorie der italienischen Renaissance heißt. Jemand, der den Ehrgeiz | |
hat, Bilder und Bücher so lange zu studieren, bis er ihre Gesetze versteht | |
und ihre Hervorbringungsverfahren, so gut wie irgend möglich, anwenden | |
kann. | |
Ein Beispiel für Herrndorfs künstlerische Grundhaltung, das der Redakteur | |
der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Tobias Rüther, in seiner nun | |
erscheinenden Biografie anführt, war es zeitweise, herauszufinden „wie man | |
einen Cranach malt“. Und wozu? Weil „so zu malen bedeutet, mithalten zu | |
können mit dem, was die Überlieferung hinterlassen hat“. | |
Rüther nennt dieses Virtuositätsideal treffend „Würde der Genauigkeit“. … | |
es blieb nicht bei der Kunst. Auch über die Krankheit, den Gehirntumor, der | |
ihn seit 2010 seiner Identität zu berauben drohte, wusste er zum Schluss | |
mindestens so gut Bescheid wie seine Ärzte. | |
Und – so traurig es ist, das hinzuschreiben – er holte auch möglichst | |
qualifizierte Informationen darüber ein, wie man sich erfolgreich umbringt, | |
und als es so weit war, konnte er es: „Wolfgang Herrndorf hat es gemacht, | |
wie es zu machen ist“, schrieb Kathrin Passig in ihrem [1][Nachwort zu | |
„Arbeit und Struktur“] über seinen Suizid 2013 am Berliner | |
Hohenzollernkanal. | |
Dieses Ethos des Könnertums, darüber belehrt Rüthers Buch aber auch, war | |
der Grund für sein Scheitern als bildender Künstler. Denn die | |
Verfahrensweisen und Ideale, auf die es Herrndorf ankam – Mimesis, Technik, | |
Tradition – sind in der Malerei seit Beginn des 20. Jahrhunderts | |
programmatisch in den Hintergrund getreten. | |
## Größtmögliche künstlerische Genauigkeit | |
Demgegenüber steht das nichtesoterische Well-Made-Book spätestens nach den | |
Realismusdebatten der Nullerjahre auch hierzulande nicht mehr unter | |
Trivialitätsverdacht. Deshalb konnte Herrndorfs Expertentum nach seinem | |
Wechsel vom Malen zum Schreiben die Grundlage für einen Publikumserfolg | |
werden, der in seiner Kometenhaftigkeit bis heute in der neueren deutschen | |
Literaturgeschichte kaum Beispiele kennt. | |
Herrndorfs schreiberische Leistung hat darin bestanden, populären Appeal | |
mit größtmöglicher künstlerischer Genauigkeit zusammenzudenken. Zwei Sätze | |
von Stendhal – „Ich wollte, dass dieses Buch wie der Code Civil geschrieben | |
sei. In diesem Sinne sind alle dunklen oder unkorrekten Sätze zu | |
korrigieren“ – waren sein Mantra und das Programm einer Handvoll | |
glanzvoller Bücher bis hin zu dem posthum erschienenen Personal Essay | |
„Arbeit und Struktur“, einem Buch, wie es in der deutschen Literatur nur | |
wenige gibt. | |
Tobias Rüther schildert den Lebensweg des mehrfach hochbegabten Schülers, | |
Kunststudenten, Berliner Bohèmiens und schließlich unheilbar kranken | |
Erfolgsautors mit kultursoziologischer Präzision. Der | |
sozialdemokratieaffine Sechziger-Jahre-Lehrerhaushalt in der | |
Eigenheimsiedlung bei Hamburg prägt Herrndorfs lebenslange | |
Leistungsbereitschaft. | |
Es folgen die still-verbissenen Auseinandersetzungen mit seiner Nürnberger | |
Kunstprofessorin. Die Vertreterin einer Art Spät-Informel wollte ihren | |
Schüler offenbar bekehren zu jener modernistisch gängigen „Verweigerung des | |
genauen Darstellens, des Ausarbeitens bis zum Trompe l’œil“ – so heißt … | |
auf ihrer persönlichen Webseite über ihr Werk. | |
## An der Akademie ein Außenseiter | |
Herrndorf wird seine akademische Lehrerin später bezeichnen als „die | |
schlimmste, menschlich unangenehmste Person, die mir in meinem Leben | |
begegnet ist“. Das Gegenprojekt, dem er sich verschrieben hatte, | |
charakterisiert Rüther als den Versuch, „am Ende des 20. Jahrhunderts noch | |
so zu tun, als hätte es all das nicht gegeben: Impressionismus, | |
Expressionismus, Abstraktion. Als könnte man dahinter zurück, einfach so.“ | |
Es macht ihn an der Akademie zu einem isolierten Außenseiter und führt | |
sogar dazu, dass eine seiner Arbeiten in einem öffentlichen | |
Protestschreiben seiner Kommilitonen als „bieder“ und „Schlag ins Gesicht | |
eines jeden Kunststudenten“ denunziert wird: „Hier ist eine Akademie“, | |
heißt es da, „und kein Spießerverein!“ | |
Erst Berlin, wohin der 27-jährige Nürnberger Meisterschüler 1992 | |
übersiedelt, hat ihn befreit. Ausführlich schildert Rüther das kulturelle | |
Milieu, das Wolfgang Herrndorf die Freiräume und Anregungen eröffnete, in | |
denen er seine künstlerische Doppelbegabung produktiv machen konnte. | |
Er wird Teil einer Boheme gut ausgebildeter und kulturell vielfältig | |
engagierter Leute zwischen zwanzig und dreißig, die sich für | |
traditionelle Karrieren nicht interessieren und stattdessen eine Kultur | |
des kulturellen und wirtschaftlichen Selbermachens propagieren. Ihr | |
Manifest legten Herrndorfs Freunde Holm Friebe und Sascha Lobo 2006 mit dem | |
Buch „Wir nennen es Arbeit“ vor. Sein Untertitel – „Die digitale Bohème | |
oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung“ benennt die Quellen | |
und Bestandteile einer Kulturindustrie von unten: Freelancing und Internet. | |
## Institutionen, die Berlins kulturelle Szene prägten | |
Mit der 2001 gegründeten „Zentralen Intelligenz Agentur“, dem Blog | |
„Riesenmaschine“, dem Internetforum „Wir höflichen Paparazzi“, den „… | |
Lectures“ um Stese Wagner und Ulrike Sterblich und anderen teils | |
kabarettartigen, teils publizistischen, teils nur online greifbaren | |
Hybridformaten schuf sich dieses kulturelle Milieu um die Jahrtausendwende | |
Institutionen, die Berlins kulturelle Szene prägten. | |
Mit der piratenhaften Umfunktionierung des [2][Bachmannpreises, den Kathrin | |
Passig 2006 gewann] (Herrndorf bekam 2004 den Publikumspreis), gelang der | |
Gruppe um Herrndorf der Einbruch in die traditionelle Kunstwelt. Sie nahmen | |
das Geld, genossen den Ruhm und reflektierten das Ganze zugleich ironisch. | |
Ein paar Jahre lang schien etwas grundlegend Neues und Zukunftsweisendes | |
entstanden. | |
Rüther verfolgt Herrndorfs Entwicklung in diesem kreativen Umfeld anhand | |
der sehr fruchtbaren These, dass sich im Schutz- und Bestätigungsraum der | |
digitalen Bohème das narrative Element, das seiner figurativen Malerei | |
immer schon eignete, allmählich aus dem Bildnerischen löste und im | |
literarisch-erzählerischen Genre zu sich kam. | |
Übergangsform und missing link dieses Gattungswechsels waren Herrndorfs | |
Arbeiten für das Satiremagazin Titanic und für den Haffmanns-Verlag: teils | |
Karikaturen, teils ironisch altmeisterliche Klassikerparodien wie der | |
Helmut-Kohl-Kalender, der den ewigen Kanzler in Van-Gogh- oder | |
Vermeer-Pastiches hineinversetzte. | |
## Staunenerregend fleißig | |
Gleichzeitig aber entwickelte sich das Schreiben zur eigentlichen Arbeit. | |
Herrndorf betrieb sie mit demselben Professionalitätsanspruch wie zuvor | |
seine bildnerische Praxis: intensive Studien der jeweiligen Genretradition, | |
begleitende Reflexion des Schreibvorgangs im „Paparazzi“-Forum (aus der | |
„Arbeit und Struktur“ hervorgehen wird), genaue Beobachtung des kollegialen | |
Umfelds. | |
Vor allem aber war Herrndorf staunenerregend fleißig. Die buchstäblich | |
tage- und nächtelange Arbeit unterbrach er periodisch mit ebenso exzessiven | |
Zügen durch die Bars und Kneipen der postsozialistischen Mitte Berlins. | |
So entstand das schmale, bis heute weiterwirkende Werk Herrndorfs, dem | |
Rüther eingehende und erhellende interpretatorische Vignetten widmet: | |
zunächst die Achtungserfolge „In Plüschgewittern“ (2002/2008) und | |
„Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ (2007), schließlich [3][2010 der | |
Welterfolg „Tschick“] und das Spätwerk „Sand“, das ihm 2012 den Preis … | |
Leipziger Buchmesse einbrachte – er war damals längst todkrank. | |
Denn das Rührende und Unheimliche dieses Lebenslaufs hat darin bestanden, | |
dass während der nuller Jahre nicht nur der hart erarbeitete Erfolg sich | |
näherte, sondern zugleich auch der Tod in Gestalt eines medizinisch wenig | |
verstandenen, nicht operierbaren und vom Gehirn irgendwie selbst erzeugten | |
Tumors. Kopfschmerzen, epileptische Anfälle, Lähmungen, Sehstörungen, | |
Persönlichkeitsveränderungen („organisch-manisches Syndrom“) kündigten i… | |
an. | |
## Gründliche und empathische Biografie | |
Der fiebrige Lebensendspurt nach Bekanntwerden der Diagnose galt dann der | |
Fertigstellung seiner letzten Bücher. Deren finanzieller Erfolg erlaubte | |
den Umzug von der kleinen Hinterhofwohnung in der Novalisstraße an den | |
Hohenzollernkanal und letzte Monate einer Art später und ephemerer | |
Bürgerlichkeit. | |
Die Waffe, die er sich besorgt hatte, erschien ihm währenddessen als ein | |
„sicherer Halt, als habe jemand einen Griff an die Realität geschraubt“. Am | |
26. August 2013, auf einer Parkbank in der Nähe des Strandbads Plötzensee, | |
löschte er die Realität für seine Person aus, an einem der letzten Tage, | |
als es ihm gesundheitlich noch möglich gewesen ist. | |
Rüthers gründliche, kundige und empathische Biografie profitiert davon, | |
dass er so gut wie alle wichtigen Zeugen für das Leben Herrndorfs | |
ausführlich befragt hat. Es gibt wenige so gut dokumentierte Lebensbilder | |
eines Gegenwartsschriftstellers wie sein Buch. Dessen eigentliches | |
Verdienst könnte darin bestehen, dass es das bildnerisch-literarische | |
Doppelvirtuosentum Herrndorfs stereoskopisch vor Augen führt. Nicht zuletzt | |
dadurch wird die Lebensbeschreibung dieses Künstlers ein Kulturpanorama der | |
ersten Dekade eines Jahrhunderts, das er zu früh verlassen musste. | |
Anm.d.R.: Die Printfassung dieses Textes, erschienen in der Wochentaz vom | |
12.-18.8., enthält die Behauptung, dass der Siegertext von Kathrin Passig | |
beim Bachmannpreis 2006 kollektiv von der Zentralen Intelligenz Agentur | |
erstellt wurde. Das ist unrichtig. Passig ist die alleinige Autorin. Wir | |
haben diesen Nebensatz in der Onlinefassung gestrichen. | |
15 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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