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# taz.de -- „Tschick“ von Fatih Akin: Die heile Seite der Außenseiter
> Fatih Akin verfilmt „Tschick“ ein, zwei Nummern kleiner – und eher für
> Jugendliche. Wolfgang Herrndorf hätte das vermutlich gefallen.
Bild: Tolle Hauptdarsteller: Tristan Göbel als Maik (l.) und Anand Batbileg al…
Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“ ist selbst schon ganz großes Kino – …
hinzuschreiben juckt einen geradezu in den Fingern. Aber so ist es in
Wirklichkeit ja eben gerade gar nicht, auch wenn einem viele Szenen des
Buches schon sehr filmisch vorgekommen sind und man während des Lesens
alles im Kopf genau gesehen hat: die Landschaften, die Jungs, den Lada, die
Sterne, die Landstraßen, Isa, alles.
Das Buch ist dennoch eben gerade kein großes Kino, weil der Schriftsteller
Wolfgang Herrndorf in „Tschick“ ganz bewusst keineswegs den ganz großen
Roman vorgelegt hat, sondern die Geschichte ein oder auch zwei Nummern
kleiner erzählt hat, das aber mit aller Sorgfalt und mit viel
handwerklichem Können beseelt. Und erst durch diesen Umweg wurde es „groß�…
Ganz ähnlich wie „Tschick“ zum großen Roman verhält sich jetzt diese
Verfilmung zu seiner Vorlage. Auch sie ist ein, zwei Nummern kleiner. Fatih
Akin, der als Regisseur eingesprungen ist, nachdem der zuerst vorgesehene
David Wnendt wegen Terminschwierigkeiten kurzfristig absagen musste, hat
sich weder in die sorgfältige Klassikerverfilmung hineingekniet, die dem
Buch bis in die Verästelungen hinein folgt („Tschick“ ist tatsächlich
längst ein Klassiker); noch hat er den ambitionierten Autorenfilm
hingeklotzt, der die erzählerische Kraft des Buches durch eigenen
filmischen Ehrgeiz noch toppen soll.
Zwei Jungs in einem Auto gegen den Rest der Welt, das hätte in diesem Fall
auch ein Gründungsakt werden können: der deutsche Film, der die Sicht auf
Deutschland ändert (oder der heroisch an diesem Anspruch scheitert). Aber
das war in dieser Produktion nicht vorgesehen.
Nein, diese Verfilmung teilt mit seiner Vorlage die Haltung, den Ball flach
zu halten. Diese „Tschick“-Verfilmung ist eher Fernsehspiel als
Cinemascope, und das muss ja auch gar nichts Schlechtes sein. Und sie ist
eher nicht wirklich für Erwachsene, sondern für Jugendliche, und vielleicht
ist das nicht nur die okayeste Entscheidung, die drin war, sondern auch
tatsächlich okay.
Man kann sich jedenfalls gut vorstellen, dass Wolfgang Herrndorf selbst das
gefallen hätte (auch wenn sein Roman keineswegs nur etwas für Jugendliche
ist). Ausgestellte künstlerische Ambitionen waren ihm stets verdächtig.
## Tolle Hauptdarsteller
Vieles an der Verfilmung funktioniert sehr gut. Die beiden jugendlichen
Hauptdarsteller sind toll. An Tristan Göbel, der den
wohlstandsverwahrlosten „Psycho“ und Ich-Erzähler Maik Klingenberg spielt,
kann man sich gar nicht sattsehen. In Großaufnahmen bekommt er diese
kleinen mimischen Verschiebungen sehr gut hin, die ganze Szenen tragen
können. Ein kleines Vereisen des Blicks, wenn sein Vater ins Spiel kommt.
Ein schneller irritierter Seitenblick, wenn er festgestellt hat, dass er
innerhalb seiner Schulklasse zum Außenseiter geworden ist.
Fatih Akin hat sich entschieden, viele Szenen mit mehreren digitalen
Kameras gleichzeitig zu drehen. Die Intimität, die sich so herstellen
lässt, kann Tristan Göbel gut tragen. Und es war eine richtige
Entscheidung, diesen Maik von der Kleidung bis zur Haltung zu einem
nachgeborenen Kurt-Cobain-Fan zu machen.
Und Anand Batbileg als Andrej Tschichatschow, genannt Tschick, muss zwar
zunächst, als „Asi“, der neu in die Schulklasse kommt, etwas dick
auftragen. Aber spätestens, wenn er hinter dem Steuer des Lada sitzt und
sie beide in die Walachei aufbrechen, von denen sie beide nicht wissen, wo
sie liegt, findet auch Anand Batbileg zu einleuchtenden Lösungen. Seine bis
dahin stets zusammengekniffenen Augen gehen auf. Man nimmt ihm den
fröhlichen Ausreißer ab.
Viele Elfmeter, die die Vorlage hingelegt hat, haut Fatih Akin rein. Schön,
die Szene, in der Maik und Tschick nachts im Park von Windkraftanlagen auf
dem Rücken liegen und auf die Sterne gucken. Zwei kleine Menschen im
Angesicht der Unendlichkeit des Weltalls – in solchen Momenten findet der
Film eine schöne Ruhe und traut der schlichten Tiefe, die in solchen
Momenten liegt, die auch schnell ins Kitschige abgleiten könnten.
## „Ballade pour Adeline“? Superuncool!
Immer wenn Richard Claydermans „Ballade pour Adeline“ erklingt, ist auch
während der Fahrt im Lada alles gut. Es gehört zu dem zutiefst menschlichen
Witz, mit dem das Buch erzählt ist, die Entwicklung der
Freundschaftsgeschichte sich in diesem superuncoolen Musikstück spiegeln zu
lassen. Das transportiert sich auch auf der Kinoleinwand. Aber warum
daneben dann noch eine prallvolle Musiktonspur gesetzt wurde, von K.I.Z.
bis zu Seeed, von den Beginnern bis zu Fraktus, erschließt sich nicht. Ganz
ohne Identifikationsangebote, so wohl das Kalkül, geht es halt nicht –
aufgesetzte Computerballerspiel-Motive kommen an anderen Stellen hinzu.
Szenen aus der Übergangshölle mit extrakünstlichen Erklärungsdialogen gibt
es leider auch. Der Lada fährt im Establishing Shot irgendwo vor. Im Off
fragt Maik: „Was wollen wir hier?“ Tschick antwortet: „Na, Urlaub machen,
wie die anderen auch.“ Das ist allzu lieblos. Die Eltern von Maik, die
Mutter als Alkoholikerin, der Vater als möchtegernabgezockter
Immobilienhai, sind zu dick aufgetragen. Und die meisten der Nebenrollen,
der Lehrer, der Dorfpolizist, der Richter, gewinnen keine Kontur.
Man merkt, diese Besprechung eiert herum. Aber in vielen Szenen möchte man
eben nicht nur, dass der Film gut wird, sondern wird der Film auch
tatsächlich gut und lässt einen zumindest träumen von der ganz tollen,
erwachsenen „Tschick“-Verfilmung, gegen die die Produzenten sich
entschieden haben: drei Stunden, große Ernsthaftigkeit und ein
Kinoselbstbewusstsein, das einen die Zeit und den Raum des
Auf-der-Straße-seins fühlen lässt. Und dann zuckt man gleich wieder
zusammen, weil einem die Figur der Isa zum Beispiel allzu kleinkariert
angelegt scheint.
## Außenseiter ja, Loser nein
Mercedes Müller spielt diese toughe, verlorene junge Frau, der Wolfgang
Herrndorf in seinem nachgelassenen Romanfragment „Bilder deiner großen
Liebe“ noch ein Denkmal gesetzt hat, mit einer Idee zuviel
Gripstheaterhaftigkeit, aber das ist gar nicht der Punkt. Der Punkt ist,
dass dieser Figur gerade eben so viel Wildheit und Eigensinn zugestanden
wird, um sie in ihrer Verletztheit zu markieren, und dann kommt schon ihre
heile Seite zum Vorschein. Um aber die Wandlung von der traumatisierten zur
freundschaftsfähigen jungen Frau erzählen zu können, hätte es
wahrscheinlich allein eine Stunde gebraucht.
Respekt für den Roman war die nette Lesart dafür, dass diese Verfilmung
ein, zwei Nummern kleiner als die Vorlage angesiedelt ist. Von der
Isa-Figur her kann man das aber auch anders und böser sehen. Dass Fatih
Akin und der Produzent Marco Mehlitz glaubten, diese Geschichte mit einiger
Routine und in 90 Minuten erzählen zu können, liegt vielleicht auch daran,
dass sie seinen Außenseiterfiguren nicht mehr von sich aus zutrauen, die
Jugendlichen zu begeistern. Außenseiter dürfen sie schon sein. Aber Loser
zum Beispiel dürften sie hier nicht sein. Nach der leisen Verzweiflung muss
gleich die große gute Laune kommen.
Nichts gegen Ball flach halten. Aber die Frage ist letztendlich doch, ob
diese Verfilmung den Roman „Tschick“ nicht allzu eindeutig auf seine
Feel-good-Momente hin gelesen hat.
14 Sep 2016
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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