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# taz.de -- Auf den Spuren von „Tschick“: Landkarten sind für Muschis
> Wolfgang Herrndorf schrieb „Tschick“. Die sonntaz-Redakteurin hat sich
> auf den Weg gemacht. Ein Roadtrip durch Brandenburg. Eine Hommage.
Bild: Der Lada Niva in der Nacht. Mitten in Brandenburg.
Der Lada kommt aus Buxtehude, und damit fängt es schon an. Ist schließlich
so eine Art erfundene Stadt, „geh doch nach Buxtehude“ ein Spruch wie „geh
dahin, wo der Pfeffer wächst“. Und jetzt sagt der Mann von Lada echt: Wir
liefern den aus Buxtehude.
Was ich da gedacht habe, als ich Buxtehude hörte, habe ich schon mit
Wolfgang Herrndorfs Worten gedacht, dabei wäre das später viel angebrachter
gewesen, als David und ich im Schlamm stecken geblieben sind oder wir
nachts vor dem See ohne Namen geparkt haben, mit dem ganzen Schilf davor
und den rot blinkenden Windrädern dahinter. „Mich reißt’s gerade voll“,
habe ich da nämlich gedacht.
Tschick und Maik, die Helden in Herrndorfs Jugendroman „Tschick“, beide in
Klasse 8c, Außenseiter und kurz davor, einen Lada zu knacken, die haben
auch so einen Moment. Tschick sagt: „Wir könnten meine Verwandtschaft
besuchen. Ich hab einen Großvater in der Walachei.“ Und Maik sagt: „Das ist
nur ein Wort, Mann. Walachei ist nur ein Wort! So wie Dingenskirchen. Oder
Jottwehdeh. Wenn du sagst, einer wohnt in der Walachei, dann heißt das: Er
wohnt in der Pampa.“
Wie Buxtehude also. Das ist ganz schön jottwehdeh. Also finden David und
ich, das ist ein Zeichen. Wir kennen uns so, wie Tschick und Maik sich
kennen: eigentlich kaum; wird schon gehen, ihre Route nachzufahren – David
fotografiert, ich schreibe.
## „Tschicko“ und „Tschicka“
Auch wenn keine Texte Herrndorf-Texte sein können außer Herrndorfs Texte,
die Route im Roman zu großen Teilen fiktiv und an den meisten Stellen nicht
erkenntlich ist, der literarische Lada Niva hellblau und der reale weiß.
Egal: Unserer trägt schwarz-grüne Zacken auf den Seiten. Außerdem hat David
Migrationshintergrund. Er stammt zwar nicht wie Tschick aus Russland. Aber
aus Portugal, immerhin.
Als es vier Uhr ist, habe ich, aus Angst zu verschlafen, nicht geschlafen.
Vier Uhr, hatte Tschick gesagt, das wäre die beste Zeit. David lädt noch
sein Stativ ein, er nennt es „Wurst“, sich nennt er „Tschicko“ und mich
„Tschicka“, und im Ernst, um diese Zeit ist man froh über solche Scherze �…
dann starten wir mit den 254 Seiten von Herrndorfs Roman als Wegweiser, und
wir starten sofort, denn, das schrieb Herrndorf auf Seite 104: Landkarten
sind für Muschis.
Wobei – sofort stimmt nicht ganz. Wir müssen von Berlin-Neukölln, wo ich
wohne, nach Berlin-Marzahn-Hellersdorf, wo Maik und Tschick wohnen: Nicht
so wahnsinnig weit, 15 Kilometer, um genau zu sein. Aber der Lada hat
Charakter. Es dauert, bis der Zündschlüssel ins Zündschloss passt, und wenn
er dann mal passt, leuchtet links davon ein Licht auf und aus derselben
Ecke piepst es mit ansteigender Aggressivität, bis man in Panik gerät und
glaubt, man hat den Alarm ausgelöst. Ich will hier auch nicht länger
ausführen, wie oft ich unseren Leihwagen anfangs abgewürgt habe.
Auf jeden Fall würde man ja denken, Marzahn ragt schon von Weitem aus der
Stadt. Aber wir verirren uns, fahren nach Westen statt Osten, und als wir
endlich im Osten sind, können wir Mahlsdorf, Kaulsdorf und Biesdorf im
Dunkeln schwer unterscheiden und ich überlege ernsthaft, ob wir bereits
nach einer Stunde das GPS einschalten müssen, und frage doch mal
vorsichtig: „Ist das Marzahn?“
„Der Musik nach zu urteilen: ja“, sagt David, und ohne Witz, wir hören
Ber-liii-ner Rund-funk, eeeinundneunzig-vier, Phil Collins hat den Refrain
noch nicht fertig gesungen, da taucht das Marzahn-Bezirksschild vor uns
auf. Wir parken auf dem Bordstein, damit David ein Foto vom Schild machen
kann, ist ja unser erster Erfolg, und kaum hantiert er mit der Kamera, wird
mir schon ganz anders im Lada. Ich habe die Tür geöffnet, um meinen
Kaugummi auszuspucken. Jetzt geht die Tür nicht mehr richtig zu, aber der
Alarm an.
NÖÖ-ÖÖÖÖ-ÖÖÖÖÖ-ÖÖÖ.
Bei Maik und Tschick nöööt es nicht, die gleiten den Ketschendorfer Weg
runter und rechts in die Rotraudstraße, dann sind sie plötzlich auf der
Allee der Kosmonauten.
Bei David und mir muss man einen Alarm aussitzen. Wir sind erleichtert, als
wir lernen, dass man das kann, und auch, als wir einen Jogger sehen. Er ist
der erste Mensch, der uns an diesem Morgen begegnet, ich meine, der erste,
der nicht in einem Auto sitzt, das wie ferngesteuert über kaum beleuchteten
Asphalt brettert.
## Allee der extrasolaren Planeten
Die Allee der Kosmonauten ist vierspurig, und sie ist wirklich so was wie
die Allee der extrasolaren Planeten, wie Würfel auf ein Brettspiel hat man
die Plattenbauten in die Landschaft geworfen und ihre Balkone auf eine Art
mit Weihnachtsschmuck ausgestattet, die an die Schaufenster von Spätkäufen
erinnert, nur dass die LED-Lämpchen eines „OPEN“-Schilds nirgendwo flirren.
Wir halten auf einem Schuttplatz, neben dem eine
Indoor-Beachvolleyballhalle und ein Dixieklo stehen, weil David findet,
dass das Marzahn gut „represented“. David spricht mehr Englisch als
Deutsch, darum sprechen wir eine merkwürdige Mischung, aber Maik und
Tschick hätte das sicher genauso wenig interessiert wie uns, merkwürdig
mein Arsch hätten die gesagt.
Vor allem: Dass wir hier so sitzen, die Türen offen, David raucht eine, der
Berliner Rundfunk-Moderator sagt, „es ist 6:54 Uhr, die Sonne geht auf“,
und dann spielt er Bruce Springsteens „I’m on Fire“ und die Sonne geht
wirklich auf und spiegelt sich in den Fenstern der Platten – das, Tschick,
Maik, lieber Wolfgang Herrndorf, zieht einem komplett den Stecker.
In meiner Vorstellung fuhren wir durch menschenleere Gegenden, praktisch
Wüste, und die Wirklichkeit ist jetzt vielleicht nicht Wüste, aber auch
nicht Oase. „Dass er uns hierher gebracht hat allein“, denke ich, und:
„Herrndorf: einfach insgesamt super. So kann man sich das vorstellen.“
Wegen seiner Sätze, klar, sind wir jetzt hier. Aber auch wegen der ganzen
Zweifel, die er so hatte, weil, die ganzen Zweifel, die haben wir ja alle.
„Roadmovie, kein Ziel, keine Aufgabe“, schrieb Herrndorf am 23.5.2010 um
15:00 Uhr in seinem Blog, der vor ein paar Wochen als Buch erschienen ist;
der Blog, mit dem er anfing, kurz nachdem ihm ein Gehirntumor
diagnostiziert wurde. Oder am 29.5.2010 um 22:32 Uhr: „Mein Roman langweilt
mich.“ Oder am 19.7.2010 um 11:33 Uhr: „Mitten in der Nacht springe ich aus
dem Bett und reiße Torberg, Hesse, Strunk, Bräuer, Kracht, Knowles aus dem
Regal, um zu vergleichen: Warum funktioniert das bei denen, warum nicht bei
mir?“
David würgt den Lada ab, und ich bin ein wenig dankbar dafür. Hat was von
Ehrenrettung. „Are you in the first Gang?“
Weil uns die Weidengasse – hier, ungefähr, wächst Maik als Sohn reicher
Eltern auf, hier malt er Tatjana, kann sich ja jeder vorstellen, wie sie
aussieht, ein Bild von Beyoncé zum Geburtstag – weil uns die Gasse also
nicht mal auf Google Maps untergekommen ist und Tschick bloß eine vage
Heimat hat, gleiten wir auch den Ketschendorfer Weg runter und rechts in
die Rotraudstraße, eine Menge Linden und Zäune entlang. Eine Frau, die
ihren Hund ausführt, nickt uns zu, als wir mit zehn Stundenkilometern wie
in Zeitlupe auf sie zurollen. Sie nickt so wissend, dass wir ganz
verunsichert sind, als wüsste sie Dinge über uns, die wir nicht mal wissen.
Gibt es was, das wir über uns wissen sollten?
## Adventskränze an Haustüren
Wir zählen die Adventskränze an den Haustüren, die Herrndorf nicht zählen
konnte, weil er „die passende Wohngegend“ für seine Geschichte fand, als
hier Vögel flogen und es warm wurde. „Mittelprächtige Villen neben
Plattenbauten“, geht sein Blogeintrag vom 29.4.2010 um 19:00 Uhr, „Google
Earth zeigt Swimmingpools.“ Swimmingpools! In your face, L.A.
Woran es in Marzahn gerade noch fehlt, neben den passenden Straßennamen,
ist eine Kfz-Werkstatt. Meine Tür schließt immer noch nicht, das wird echt
zum Problem. Weil es zieht und wir noch in die Walachei müssen. Die liegt
in Rumänien.
Ein Marzahner sagt, links ab und dann die erste rechts, dann würden wir die
Werkstatt schon sehen, aber dann ist er sich nicht mehr so sicher,
vielleicht ist es doch die zweite oder die dritte rechts. David tippt auf
die vierte, aber die ist es auch nicht.
Etwa nach der neunten ist da ein Hornbach und davor ein
Hornbach-Mitarbeiter, der uns nach Springpfuhl schickt. Im Autohaus bei
Springpfuhl lässt Marc, der Mechaniker, seinen Kaffee stehen und kniet sich
vor die Beifahrertür, weil die Falle kaputt ist, wie er sagt, „die muss
höher“. Mit der Zange zieht er sie fester und nach oben.
„Gibt’s die Autos noch?“, fragt er, da kommt Bartsch angelatscht, so stel…
er sich vor, und man kann Bartsch ansehen, dass er Schöneres heute nicht
mehr sieht. „Die Dinger gibt’s doch nicht mehr“, sagt er, eine Stimme wie
Zweiter Weltkrieg, und stellt sich in den Garageneingang, hinten links
hängen Kalender mit nackten Frauen. „Hat der ZV? Servo?“
Mechaniker-Marc hat Tunnel in den Ohren und Bartsch die Kippe im Mund, als
er in den Lada steigt. „KennchnurfnDDR-Zeitn“, sagt er, die Kippe bleibt
drin, „Servohatta.“ Ich glaube, Bartsch ist verliebt. „Hattaecht!“
Er will noch sehen, wie der Lada unter dem Blech aussieht, befühlt
Ersatzrad und Innenleben der Frontklappe, „dochmasehnwasdieneugmachtham“,
anschließend macht er uns einen Freundschaftspreis und Marc zeigt uns noch,
wie man die Heckklappe öffnet, damit David die Wurst, also sein Stativ, vom
Rücksitz in den Kofferraum packen kann. „Habt ihr ’n Bordbuch? Ist beim
Lada ja bestimmt nicht so dick.“ Sobald die Wurst drin ist, ist der
Kofferraum voll, und wir ziehen ab.
Ist auch nötig. Einerseits weil wir seit sechs Stunden unterwegs sind und
noch immer nicht aus Berlin raus, und andererseits weil – der Tau auf den
Wiesen, das Gartenmöbel-Outlet-Plakat – mit der Auffahrt auf die A10
endlich die Zeit für diese Moll-Scheiße beginnt.
Diese Moll-Scheiße ist, was Maik und Tschick auf der Kassette zu hören
bekommen, die sie unter einer Fußmatte entdecken: eigentlich keine Musik,
eher so Klaviergeklimper, das zu immer neuen Höhenflügen ansetzt. Das
wollen wir logisch nicht verpassen, also habe ich David und mir Richard
Clayderman auf iTunes runtergeladen. Und jetzt halten wir uns abwechselnd
den Lautsprecher ans Ohr, aus dem die Höhenflüge tönen, bei Tempo 110
versteht man im Lada nämlich kein Wort, und kacheln mit „Ballade pour
Adeline“ über die Autobahn.
Lang bleiben Tschick und Maik dort nicht, also fahren wir auch wieder ab.
Wo wir abfahren, können wir uns aussuchen – machen die Jungs genauso. Geht
es nach Burig Richtung Süden oder nach Freienbrink? Freienbrink: Verstehen
wir nicht. Bei uns geht es nach Grünheide oder nach Spreenhagen. Egal, wir
müssen eh eine Münze werfen, so will es das Herrndorf-Skript. Kopf für
rechts, Zahl für links, und wenn sie auf dem Rand liegen bleibt, geradeaus.
Das 2-Euro-Stück hat uns nach rechts geführt, aber kaum sind wir abgebogen,
legt es David drauf an und eine Vollbremsung hin, und damit meine ich eine
Vollbremsung vor dem Herrn. Er findet, wir müssen wie die im Buch was
Illegales tun, und biegt noch mal rechts ab, ganz ohne Münze. Als nächstes
fotografiert er das Waldweg-Schild mit dem durchgestrichenen Auto und
schiebt eine Schranke beiseite, muss wohl eine Beiseiteschiebeschranke
sein, und dann treffen wir auf Matsch. Links taucht eine versteckte
Industrieanlage auf, die irgendwie gar nicht mehr aufhört und bis zu der
Betonwand reicht, auf die wir stoßen, und bis zu der Betonwand sind wir uns
auch sicher, dass das jetzt der ganz große Coup wird, weil wir es hier mit
einem Crystal Meth Labor zu tun haben.
## Die Motorhaube wärmt von unten
Aber hinter der Betonwand kommen wir „am Schlösschen“ wieder raus und
merken, dass wir es hier mit einer Kleingartenkolonie zu tun haben.
Tschick lag auf der Luftmatratze am Waldrand und sonnte sich. Würden wir
jetzt auch, hätten wir draußen Plusgrade und im Lada eine Luftmatratze
verstaut. So kommt’s, dass wir uns ins Feld stellen und auf die Motorhaube
setzen, die ganz gut wärmt, von unten; von innen wärmt Bier, das wir dazu
trinken. Ist noch vor zwölf, ja ja – was soll ich sagen: Tschick ist
minderjährig und erscheint regelmäßig mit einer Fahne zum Unterricht.
David springt von der Haube und stellt das Radio lauter. „Ain’t no
sunshine“, singt er, inbrünstig, er fühlt es, den Schmerz und alles, „when
sheee’s gone“, er reckt die Hand in die Luft, das Bier darin, „Tatjana!�…
ruft er. „I painted Beyoncé for you!“
Und echt, vielleicht ist es schon das, was an Wolfgang Herrndorf am meisten
rührt. Dass er im Wissen, bald zu sterben, Figuren wie Tatjana und Maik
fertig entworfen hat – die erste Hälfte „Tschick“ lag sechs Jahre bei ihm
rum. Und dass ihre Liebe, wenn überhaupt, mit der Zeichnung so einer
Poptante beginnt. Und dass, wenn ihre Liebe trotz so einer
Poptantenzeichnung nicht beginnt, die Tatjanas am Schluss ganz klar
unwichtiger sind, als du denkst, und nur zählt, dass du dir dein Leben gut
machst – und zwar mit Typen wie Tschick, weil die dein Leben noch besser
machen. Weil die alles ändern, alles wird dann größer, die Farben satter,
und die Geräusche Dolby Surround.
Darum fahren David und ich auch wer weiß wie lange im Kreis, so lange auf
jeden Fall, bis wir verhungern und in Fürstenwalde im Café Herrlicher
landen, was nicht ganz in Ordnung ist; Maik und Tschick sind nämlich nicht
hier gelandet. Nur wissen wir dank ihrer halt auch, dass es ernsthaft wenig
bringt, Tiefkühlpizzen mit dem Feuerzeug zu grillen, und ihren Lada am Ende
sechs Frisbeescheiben wie Ufos den brennenden Todesstern verlassen müssen.
Die Tiefkühlpizzen auf unseren Tellern allerdings sind, glaub ich, in der
Mikrowelle gegrillt und viel eckiger als rund.
Beim Rausgehen rammt David mit seinem Rucksack den Plastikchristbaum und
der fällt um wie in „Tschick“ einmal eine Kuh. Einfach umgekippt. David
sagt „ups“ und will die Tanne wieder hinstellen, dabei bricht er die
Baumspitze ab. David flucht, „I destroyed Christmas“, David lacht, „war e…
Unfall.“
## Sprinten wie Forrest Gump
Zum Auto müssen wir rennen, an Mäc Geiz und einem Nagelstudio vorbei: Aus
fünfhundert Meter Entfernung können wir schon sehen, dass uns die
Polizistin, die um den Lada schleicht, einen Strafzettel ausstellen will.
Heißt: Wir sprinten wie Forrest Gump und winken und rufen, echt bescheuert
müssen wir aussehen, wedeln da mit den Armen und tragen beide blauen
Jacken, und sie, alter Finne, wartet, macht null, sagt: „Bitte das nächste
Mal einen Parkschein auslegen. Schönen Tag noch“ – und geht.
Einfach so geht die! Wie wir der Polizistin aus Fürstenwalde
hinterhergucken, ist uns gleich klar, dass sie zu jenem heiligen Prozent
gehört – das zu einem von Maiks Erkenntnissen gehört: Wenn man Nachrichten
guckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV guckte: Der Mensch ist
schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99
Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer
Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht
war. Auf so was sollte man in der Schule vielleicht auch mal hinweisen,
damit man nicht völlig davon überrascht wird.
Mark-graf-pieske. Ist wie ein Ohrwurm mittlerweile, der Ortsname. Die
Methode, nur noch Orte mit einer Primzahl als Kilometerstand anzufahren,
Bad Freienwalde 51 km zum Beispiel, hat sich bei David und mir als sinnlos
erwiesen, weil wir schlecht in Mathe sind. Nur Dörfer mit unseren
Anfangsbuchstaben zu nehmen, war auch schwierig, weil uns gar keine mit D
und A aufgefallen sind. Und immer rechts-links-rechts-links hat folgende
vier Punkte ergeben:
1. Ziegengruppe
2. Waldabschnitt
2.1. Waldabschnitt, sandig
2.2. Waldabschnitt, tief
3. Markgrafpieske 2,5 km
4. Markgrafpieske 5 km
Also stirb, Markgrafpieske.
Es wird eh düster, der Wind saust um den Lada und macht den Lada fragil,
wir haben den Eindruck, dass das bereits der weltallerlängste Tag ist, wir,
Proleten auf Raketen, nie den nächsten Punkt erreichen, den Herrndorf
nennt, und holen Clayderman und das GPS raus. Auf dem Weg nach Zwietow
legen wir uns zwei Stunden vor der Serways-Raststätte schlafen, danach
stellen wir uns in ihr an die Heizung, essen eine Packung Haribo und
spielen Flipper, nur schenkt uns der Flipper statt 2,40 Euro bloß 240
Punkte. Am Automaten rütteln hilft auch nicht. Blöd.
Wir rauschen roten Tupfen hinterher, über uns sind sie auch, Rücklichter,
Flugzeuglichter, und fühlen uns, als wären wir in New York gelandet, als
wir endlich ankommen: aufgeregt und heiß auf die Stadt. Was natürlich
Quatsch ist, weil Zwietow fast genau dort aufhört, wo es anfängt. Hat also
mehr Sinn, direkt im Wald zu halten und die Schlafsäcke auszupacken. Wir
steigen aus und sehen uns in der neuen Nachbarschaft um. Wir sehen nix.
Was, wenn uns ein verdammtes Wildschwein rammt? Wir steigen wieder ein.
Ist wie nach Hause kommen, innen im Lada: Mit Mützen und Handschuhen und
Decken und dem, was Tschick und Maik eben essen, Knäckebrot und Marmelade
und, superbonfortionös, Snickers zum Nachtisch. Wir fragen uns, wie Mars
eigentlich überleben kann, so als abgespeckte Snickers-Version, rollen die
Sitze zurück, reden über die Arbeit und Weihnachten und YouTube-Videos und
Fußball und den Weltkrieg, und schauen dabei durch die Windschutzscheibe
ins Nichts.
## Es ist egal, was noch passiert
Und wie ich dann aufwache, weil einer von uns mal wieder mit dem Schlafsack
raschelt und gegen eine Plastikflasche drückt, wie Blätter und Tropfen und
Äste auf unser Dach fallen und es bei den Ästen so klingt, als würde der
Lada jeden Moment zu einem Feuerball verschmelzen und in der Luft
explodieren, fällt mir ein, was Herrndorf in seinem Blog geschrieben hat,
am 11.5.2010 um 17:32 Uhr, drei Jahre bevor er sich erschoss: „Der
ungeheure Trost, der darin besteht, über das Weltall zu schreiben. Warum
ist der Anblick des Sternenhimmels so beruhigend?“
Und dann fällt mir erst ein, was Herrndorf in „Tschick“ geschrieben hat, am
selben Tag, wohl nur ein paar Stunden früher – und plötzlich ist egal, was
noch alles passiert ist und was ich alles noch schreiben wollte (am
liebsten würde ich das ja gar nicht erzählen. Ich erzähl’s aber trotzdem),
wie David Hühner jagen war oder wie wir recherchiert haben, dass es, anders
als im Buch, in Zwietow keinen Bäcker gibt, dafür aber einen
Spanferkel-Verkauf, wie wir Bratwurst und Schnitzel im Gasthaus Gaumer
gefrühstückt haben, als die Putzfrau noch den Boden wischte, der Inhaber,
Herr Gaumer, uns von der Hochzeit am Abend zuvor erzählte – und wir
fragten:
„Wo geht’s denn hier zur Aussichtsplattform?“
„Schwierig zu erreichen, der Weg ist ziemlich holprig.“
„Wir haben einen Geländewagen.“
– Und wie wir, wie Maik, zur Aussichtsplattform gestapft sind und dort
einen Turm hoch, dem zwei Stufen fehlten und der vielleicht deshalb „auf
Grund dringender Reparaturarbeiten“ eigentlich geschlossen war, wie wir
einmal in Seitenlage standen, gefühlte sechzig Grad, wie uns, Klassiker,
einmal beinahe das Benzin ausging, wie David sagte, er würde sich das Leben
vermissenswert machen, wenn er nicht mehr lang zu leben hätte, er würde
noch mal mit dem Fallschirm springen, und ich sagte, ich würde nach Alaska;
wie wir dann doch Panik schoben, als wir vor dem See, dessen Namen keiner
kannte, wirklich keiner, im Schlamm stecken blieben und die Räder
durchdrehten, wir schließlich, die Halme prasselten gegen die Türen, im
Sperrgebiet vor lauter Gebüsch fast verloren gingen, nachts vor dem See,
mit dem ganzen Schilf davor und den rot blinkenden Windrädern dahinter.
Ehrlich, das ist alles ziemlich egal.
Weil Maik und Tschick, die schaffen es auch nie in die Walachei. Was keinen
stört, sie sind Profis am Werk und haben die vielleicht beste Einsicht
schon lange bevor sie südlich oder südöstlich von Berlin vollrohr auf einen
Schweinelaster prallen.
Und wir haben die eben jetzt, südlich oder südöstlich von Berlin, wo
draußen Finsternis und der Geruch von Holz ist, in Zwietow, im Lada, im
Kopf Wolfgang Herrndorfs Gedanken zum Himmel; die er, Seite 120, 121, 122,
in Maiks Worte zur Galaxie legt: „Mal im Ernst, glaubst du das?“ Wir lagen
auf dem Rücken, Tschick stützte sich auf den Ellenbogen. „Glaubst du, da
ist noch irgendwas?“ Ich schaute in die Sterne mit ihrer unbegreiflichen
Unendlichkeit, und ich war irgendwie erschrocken. Ich war gerührt und
erschrocken gleichzeitig, und dann drehte ich mich zu Tschick, und er
guckte mich an und guckte mir in die Augen und sagte, dass das alles ein
Wahnsinn wäre, und das stimmte auch.
Es war wirklich ein Wahnsinn.
21 Dec 2013
## AUTOREN
Annabelle Seubert
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