# taz.de -- Auf den Spuren von „Tschick“: Landkarten sind für Muschis | |
> Wolfgang Herrndorf schrieb „Tschick“. Die sonntaz-Redakteurin hat sich | |
> auf den Weg gemacht. Ein Roadtrip durch Brandenburg. Eine Hommage. | |
Bild: Der Lada Niva in der Nacht. Mitten in Brandenburg. | |
Der Lada kommt aus Buxtehude, und damit fängt es schon an. Ist schließlich | |
so eine Art erfundene Stadt, „geh doch nach Buxtehude“ ein Spruch wie „geh | |
dahin, wo der Pfeffer wächst“. Und jetzt sagt der Mann von Lada echt: Wir | |
liefern den aus Buxtehude. | |
Was ich da gedacht habe, als ich Buxtehude hörte, habe ich schon mit | |
Wolfgang Herrndorfs Worten gedacht, dabei wäre das später viel angebrachter | |
gewesen, als David und ich im Schlamm stecken geblieben sind oder wir | |
nachts vor dem See ohne Namen geparkt haben, mit dem ganzen Schilf davor | |
und den rot blinkenden Windrädern dahinter. „Mich reißt’s gerade voll“, | |
habe ich da nämlich gedacht. | |
Tschick und Maik, die Helden in Herrndorfs Jugendroman „Tschick“, beide in | |
Klasse 8c, Außenseiter und kurz davor, einen Lada zu knacken, die haben | |
auch so einen Moment. Tschick sagt: „Wir könnten meine Verwandtschaft | |
besuchen. Ich hab einen Großvater in der Walachei.“ Und Maik sagt: „Das ist | |
nur ein Wort, Mann. Walachei ist nur ein Wort! So wie Dingenskirchen. Oder | |
Jottwehdeh. Wenn du sagst, einer wohnt in der Walachei, dann heißt das: Er | |
wohnt in der Pampa.“ | |
Wie Buxtehude also. Das ist ganz schön jottwehdeh. Also finden David und | |
ich, das ist ein Zeichen. Wir kennen uns so, wie Tschick und Maik sich | |
kennen: eigentlich kaum; wird schon gehen, ihre Route nachzufahren – David | |
fotografiert, ich schreibe. | |
## „Tschicko“ und „Tschicka“ | |
Auch wenn keine Texte Herrndorf-Texte sein können außer Herrndorfs Texte, | |
die Route im Roman zu großen Teilen fiktiv und an den meisten Stellen nicht | |
erkenntlich ist, der literarische Lada Niva hellblau und der reale weiß. | |
Egal: Unserer trägt schwarz-grüne Zacken auf den Seiten. Außerdem hat David | |
Migrationshintergrund. Er stammt zwar nicht wie Tschick aus Russland. Aber | |
aus Portugal, immerhin. | |
Als es vier Uhr ist, habe ich, aus Angst zu verschlafen, nicht geschlafen. | |
Vier Uhr, hatte Tschick gesagt, das wäre die beste Zeit. David lädt noch | |
sein Stativ ein, er nennt es „Wurst“, sich nennt er „Tschicko“ und mich | |
„Tschicka“, und im Ernst, um diese Zeit ist man froh über solche Scherze �… | |
dann starten wir mit den 254 Seiten von Herrndorfs Roman als Wegweiser, und | |
wir starten sofort, denn, das schrieb Herrndorf auf Seite 104: Landkarten | |
sind für Muschis. | |
Wobei – sofort stimmt nicht ganz. Wir müssen von Berlin-Neukölln, wo ich | |
wohne, nach Berlin-Marzahn-Hellersdorf, wo Maik und Tschick wohnen: Nicht | |
so wahnsinnig weit, 15 Kilometer, um genau zu sein. Aber der Lada hat | |
Charakter. Es dauert, bis der Zündschlüssel ins Zündschloss passt, und wenn | |
er dann mal passt, leuchtet links davon ein Licht auf und aus derselben | |
Ecke piepst es mit ansteigender Aggressivität, bis man in Panik gerät und | |
glaubt, man hat den Alarm ausgelöst. Ich will hier auch nicht länger | |
ausführen, wie oft ich unseren Leihwagen anfangs abgewürgt habe. | |
Auf jeden Fall würde man ja denken, Marzahn ragt schon von Weitem aus der | |
Stadt. Aber wir verirren uns, fahren nach Westen statt Osten, und als wir | |
endlich im Osten sind, können wir Mahlsdorf, Kaulsdorf und Biesdorf im | |
Dunkeln schwer unterscheiden und ich überlege ernsthaft, ob wir bereits | |
nach einer Stunde das GPS einschalten müssen, und frage doch mal | |
vorsichtig: „Ist das Marzahn?“ | |
„Der Musik nach zu urteilen: ja“, sagt David, und ohne Witz, wir hören | |
Ber-liii-ner Rund-funk, eeeinundneunzig-vier, Phil Collins hat den Refrain | |
noch nicht fertig gesungen, da taucht das Marzahn-Bezirksschild vor uns | |
auf. Wir parken auf dem Bordstein, damit David ein Foto vom Schild machen | |
kann, ist ja unser erster Erfolg, und kaum hantiert er mit der Kamera, wird | |
mir schon ganz anders im Lada. Ich habe die Tür geöffnet, um meinen | |
Kaugummi auszuspucken. Jetzt geht die Tür nicht mehr richtig zu, aber der | |
Alarm an. | |
NÖÖ-ÖÖÖÖ-ÖÖÖÖÖ-ÖÖÖ. | |
Bei Maik und Tschick nöööt es nicht, die gleiten den Ketschendorfer Weg | |
runter und rechts in die Rotraudstraße, dann sind sie plötzlich auf der | |
Allee der Kosmonauten. | |
Bei David und mir muss man einen Alarm aussitzen. Wir sind erleichtert, als | |
wir lernen, dass man das kann, und auch, als wir einen Jogger sehen. Er ist | |
der erste Mensch, der uns an diesem Morgen begegnet, ich meine, der erste, | |
der nicht in einem Auto sitzt, das wie ferngesteuert über kaum beleuchteten | |
Asphalt brettert. | |
## Allee der extrasolaren Planeten | |
Die Allee der Kosmonauten ist vierspurig, und sie ist wirklich so was wie | |
die Allee der extrasolaren Planeten, wie Würfel auf ein Brettspiel hat man | |
die Plattenbauten in die Landschaft geworfen und ihre Balkone auf eine Art | |
mit Weihnachtsschmuck ausgestattet, die an die Schaufenster von Spätkäufen | |
erinnert, nur dass die LED-Lämpchen eines „OPEN“-Schilds nirgendwo flirren. | |
Wir halten auf einem Schuttplatz, neben dem eine | |
Indoor-Beachvolleyballhalle und ein Dixieklo stehen, weil David findet, | |
dass das Marzahn gut „represented“. David spricht mehr Englisch als | |
Deutsch, darum sprechen wir eine merkwürdige Mischung, aber Maik und | |
Tschick hätte das sicher genauso wenig interessiert wie uns, merkwürdig | |
mein Arsch hätten die gesagt. | |
Vor allem: Dass wir hier so sitzen, die Türen offen, David raucht eine, der | |
Berliner Rundfunk-Moderator sagt, „es ist 6:54 Uhr, die Sonne geht auf“, | |
und dann spielt er Bruce Springsteens „I’m on Fire“ und die Sonne geht | |
wirklich auf und spiegelt sich in den Fenstern der Platten – das, Tschick, | |
Maik, lieber Wolfgang Herrndorf, zieht einem komplett den Stecker. | |
In meiner Vorstellung fuhren wir durch menschenleere Gegenden, praktisch | |
Wüste, und die Wirklichkeit ist jetzt vielleicht nicht Wüste, aber auch | |
nicht Oase. „Dass er uns hierher gebracht hat allein“, denke ich, und: | |
„Herrndorf: einfach insgesamt super. So kann man sich das vorstellen.“ | |
Wegen seiner Sätze, klar, sind wir jetzt hier. Aber auch wegen der ganzen | |
Zweifel, die er so hatte, weil, die ganzen Zweifel, die haben wir ja alle. | |
„Roadmovie, kein Ziel, keine Aufgabe“, schrieb Herrndorf am 23.5.2010 um | |
15:00 Uhr in seinem Blog, der vor ein paar Wochen als Buch erschienen ist; | |
der Blog, mit dem er anfing, kurz nachdem ihm ein Gehirntumor | |
diagnostiziert wurde. Oder am 29.5.2010 um 22:32 Uhr: „Mein Roman langweilt | |
mich.“ Oder am 19.7.2010 um 11:33 Uhr: „Mitten in der Nacht springe ich aus | |
dem Bett und reiße Torberg, Hesse, Strunk, Bräuer, Kracht, Knowles aus dem | |
Regal, um zu vergleichen: Warum funktioniert das bei denen, warum nicht bei | |
mir?“ | |
David würgt den Lada ab, und ich bin ein wenig dankbar dafür. Hat was von | |
Ehrenrettung. „Are you in the first Gang?“ | |
Weil uns die Weidengasse – hier, ungefähr, wächst Maik als Sohn reicher | |
Eltern auf, hier malt er Tatjana, kann sich ja jeder vorstellen, wie sie | |
aussieht, ein Bild von Beyoncé zum Geburtstag – weil uns die Gasse also | |
nicht mal auf Google Maps untergekommen ist und Tschick bloß eine vage | |
Heimat hat, gleiten wir auch den Ketschendorfer Weg runter und rechts in | |
die Rotraudstraße, eine Menge Linden und Zäune entlang. Eine Frau, die | |
ihren Hund ausführt, nickt uns zu, als wir mit zehn Stundenkilometern wie | |
in Zeitlupe auf sie zurollen. Sie nickt so wissend, dass wir ganz | |
verunsichert sind, als wüsste sie Dinge über uns, die wir nicht mal wissen. | |
Gibt es was, das wir über uns wissen sollten? | |
## Adventskränze an Haustüren | |
Wir zählen die Adventskränze an den Haustüren, die Herrndorf nicht zählen | |
konnte, weil er „die passende Wohngegend“ für seine Geschichte fand, als | |
hier Vögel flogen und es warm wurde. „Mittelprächtige Villen neben | |
Plattenbauten“, geht sein Blogeintrag vom 29.4.2010 um 19:00 Uhr, „Google | |
Earth zeigt Swimmingpools.“ Swimmingpools! In your face, L.A. | |
Woran es in Marzahn gerade noch fehlt, neben den passenden Straßennamen, | |
ist eine Kfz-Werkstatt. Meine Tür schließt immer noch nicht, das wird echt | |
zum Problem. Weil es zieht und wir noch in die Walachei müssen. Die liegt | |
in Rumänien. | |
Ein Marzahner sagt, links ab und dann die erste rechts, dann würden wir die | |
Werkstatt schon sehen, aber dann ist er sich nicht mehr so sicher, | |
vielleicht ist es doch die zweite oder die dritte rechts. David tippt auf | |
die vierte, aber die ist es auch nicht. | |
Etwa nach der neunten ist da ein Hornbach und davor ein | |
Hornbach-Mitarbeiter, der uns nach Springpfuhl schickt. Im Autohaus bei | |
Springpfuhl lässt Marc, der Mechaniker, seinen Kaffee stehen und kniet sich | |
vor die Beifahrertür, weil die Falle kaputt ist, wie er sagt, „die muss | |
höher“. Mit der Zange zieht er sie fester und nach oben. | |
„Gibt’s die Autos noch?“, fragt er, da kommt Bartsch angelatscht, so stel… | |
er sich vor, und man kann Bartsch ansehen, dass er Schöneres heute nicht | |
mehr sieht. „Die Dinger gibt’s doch nicht mehr“, sagt er, eine Stimme wie | |
Zweiter Weltkrieg, und stellt sich in den Garageneingang, hinten links | |
hängen Kalender mit nackten Frauen. „Hat der ZV? Servo?“ | |
Mechaniker-Marc hat Tunnel in den Ohren und Bartsch die Kippe im Mund, als | |
er in den Lada steigt. „KennchnurfnDDR-Zeitn“, sagt er, die Kippe bleibt | |
drin, „Servohatta.“ Ich glaube, Bartsch ist verliebt. „Hattaecht!“ | |
Er will noch sehen, wie der Lada unter dem Blech aussieht, befühlt | |
Ersatzrad und Innenleben der Frontklappe, „dochmasehnwasdieneugmachtham“, | |
anschließend macht er uns einen Freundschaftspreis und Marc zeigt uns noch, | |
wie man die Heckklappe öffnet, damit David die Wurst, also sein Stativ, vom | |
Rücksitz in den Kofferraum packen kann. „Habt ihr ’n Bordbuch? Ist beim | |
Lada ja bestimmt nicht so dick.“ Sobald die Wurst drin ist, ist der | |
Kofferraum voll, und wir ziehen ab. | |
Ist auch nötig. Einerseits weil wir seit sechs Stunden unterwegs sind und | |
noch immer nicht aus Berlin raus, und andererseits weil – der Tau auf den | |
Wiesen, das Gartenmöbel-Outlet-Plakat – mit der Auffahrt auf die A10 | |
endlich die Zeit für diese Moll-Scheiße beginnt. | |
Diese Moll-Scheiße ist, was Maik und Tschick auf der Kassette zu hören | |
bekommen, die sie unter einer Fußmatte entdecken: eigentlich keine Musik, | |
eher so Klaviergeklimper, das zu immer neuen Höhenflügen ansetzt. Das | |
wollen wir logisch nicht verpassen, also habe ich David und mir Richard | |
Clayderman auf iTunes runtergeladen. Und jetzt halten wir uns abwechselnd | |
den Lautsprecher ans Ohr, aus dem die Höhenflüge tönen, bei Tempo 110 | |
versteht man im Lada nämlich kein Wort, und kacheln mit „Ballade pour | |
Adeline“ über die Autobahn. | |
Lang bleiben Tschick und Maik dort nicht, also fahren wir auch wieder ab. | |
Wo wir abfahren, können wir uns aussuchen – machen die Jungs genauso. Geht | |
es nach Burig Richtung Süden oder nach Freienbrink? Freienbrink: Verstehen | |
wir nicht. Bei uns geht es nach Grünheide oder nach Spreenhagen. Egal, wir | |
müssen eh eine Münze werfen, so will es das Herrndorf-Skript. Kopf für | |
rechts, Zahl für links, und wenn sie auf dem Rand liegen bleibt, geradeaus. | |
Das 2-Euro-Stück hat uns nach rechts geführt, aber kaum sind wir abgebogen, | |
legt es David drauf an und eine Vollbremsung hin, und damit meine ich eine | |
Vollbremsung vor dem Herrn. Er findet, wir müssen wie die im Buch was | |
Illegales tun, und biegt noch mal rechts ab, ganz ohne Münze. Als nächstes | |
fotografiert er das Waldweg-Schild mit dem durchgestrichenen Auto und | |
schiebt eine Schranke beiseite, muss wohl eine Beiseiteschiebeschranke | |
sein, und dann treffen wir auf Matsch. Links taucht eine versteckte | |
Industrieanlage auf, die irgendwie gar nicht mehr aufhört und bis zu der | |
Betonwand reicht, auf die wir stoßen, und bis zu der Betonwand sind wir uns | |
auch sicher, dass das jetzt der ganz große Coup wird, weil wir es hier mit | |
einem Crystal Meth Labor zu tun haben. | |
## Die Motorhaube wärmt von unten | |
Aber hinter der Betonwand kommen wir „am Schlösschen“ wieder raus und | |
merken, dass wir es hier mit einer Kleingartenkolonie zu tun haben. | |
Tschick lag auf der Luftmatratze am Waldrand und sonnte sich. Würden wir | |
jetzt auch, hätten wir draußen Plusgrade und im Lada eine Luftmatratze | |
verstaut. So kommt’s, dass wir uns ins Feld stellen und auf die Motorhaube | |
setzen, die ganz gut wärmt, von unten; von innen wärmt Bier, das wir dazu | |
trinken. Ist noch vor zwölf, ja ja – was soll ich sagen: Tschick ist | |
minderjährig und erscheint regelmäßig mit einer Fahne zum Unterricht. | |
David springt von der Haube und stellt das Radio lauter. „Ain’t no | |
sunshine“, singt er, inbrünstig, er fühlt es, den Schmerz und alles, „when | |
sheee’s gone“, er reckt die Hand in die Luft, das Bier darin, „Tatjana!�… | |
ruft er. „I painted Beyoncé for you!“ | |
Und echt, vielleicht ist es schon das, was an Wolfgang Herrndorf am meisten | |
rührt. Dass er im Wissen, bald zu sterben, Figuren wie Tatjana und Maik | |
fertig entworfen hat – die erste Hälfte „Tschick“ lag sechs Jahre bei ihm | |
rum. Und dass ihre Liebe, wenn überhaupt, mit der Zeichnung so einer | |
Poptante beginnt. Und dass, wenn ihre Liebe trotz so einer | |
Poptantenzeichnung nicht beginnt, die Tatjanas am Schluss ganz klar | |
unwichtiger sind, als du denkst, und nur zählt, dass du dir dein Leben gut | |
machst – und zwar mit Typen wie Tschick, weil die dein Leben noch besser | |
machen. Weil die alles ändern, alles wird dann größer, die Farben satter, | |
und die Geräusche Dolby Surround. | |
Darum fahren David und ich auch wer weiß wie lange im Kreis, so lange auf | |
jeden Fall, bis wir verhungern und in Fürstenwalde im Café Herrlicher | |
landen, was nicht ganz in Ordnung ist; Maik und Tschick sind nämlich nicht | |
hier gelandet. Nur wissen wir dank ihrer halt auch, dass es ernsthaft wenig | |
bringt, Tiefkühlpizzen mit dem Feuerzeug zu grillen, und ihren Lada am Ende | |
sechs Frisbeescheiben wie Ufos den brennenden Todesstern verlassen müssen. | |
Die Tiefkühlpizzen auf unseren Tellern allerdings sind, glaub ich, in der | |
Mikrowelle gegrillt und viel eckiger als rund. | |
Beim Rausgehen rammt David mit seinem Rucksack den Plastikchristbaum und | |
der fällt um wie in „Tschick“ einmal eine Kuh. Einfach umgekippt. David | |
sagt „ups“ und will die Tanne wieder hinstellen, dabei bricht er die | |
Baumspitze ab. David flucht, „I destroyed Christmas“, David lacht, „war e… | |
Unfall.“ | |
## Sprinten wie Forrest Gump | |
Zum Auto müssen wir rennen, an Mäc Geiz und einem Nagelstudio vorbei: Aus | |
fünfhundert Meter Entfernung können wir schon sehen, dass uns die | |
Polizistin, die um den Lada schleicht, einen Strafzettel ausstellen will. | |
Heißt: Wir sprinten wie Forrest Gump und winken und rufen, echt bescheuert | |
müssen wir aussehen, wedeln da mit den Armen und tragen beide blauen | |
Jacken, und sie, alter Finne, wartet, macht null, sagt: „Bitte das nächste | |
Mal einen Parkschein auslegen. Schönen Tag noch“ – und geht. | |
Einfach so geht die! Wie wir der Polizistin aus Fürstenwalde | |
hinterhergucken, ist uns gleich klar, dass sie zu jenem heiligen Prozent | |
gehört – das zu einem von Maiks Erkenntnissen gehört: Wenn man Nachrichten | |
guckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV guckte: Der Mensch ist | |
schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 | |
Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer | |
Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht | |
war. Auf so was sollte man in der Schule vielleicht auch mal hinweisen, | |
damit man nicht völlig davon überrascht wird. | |
Mark-graf-pieske. Ist wie ein Ohrwurm mittlerweile, der Ortsname. Die | |
Methode, nur noch Orte mit einer Primzahl als Kilometerstand anzufahren, | |
Bad Freienwalde 51 km zum Beispiel, hat sich bei David und mir als sinnlos | |
erwiesen, weil wir schlecht in Mathe sind. Nur Dörfer mit unseren | |
Anfangsbuchstaben zu nehmen, war auch schwierig, weil uns gar keine mit D | |
und A aufgefallen sind. Und immer rechts-links-rechts-links hat folgende | |
vier Punkte ergeben: | |
1. Ziegengruppe | |
2. Waldabschnitt | |
2.1. Waldabschnitt, sandig | |
2.2. Waldabschnitt, tief | |
3. Markgrafpieske 2,5 km | |
4. Markgrafpieske 5 km | |
Also stirb, Markgrafpieske. | |
Es wird eh düster, der Wind saust um den Lada und macht den Lada fragil, | |
wir haben den Eindruck, dass das bereits der weltallerlängste Tag ist, wir, | |
Proleten auf Raketen, nie den nächsten Punkt erreichen, den Herrndorf | |
nennt, und holen Clayderman und das GPS raus. Auf dem Weg nach Zwietow | |
legen wir uns zwei Stunden vor der Serways-Raststätte schlafen, danach | |
stellen wir uns in ihr an die Heizung, essen eine Packung Haribo und | |
spielen Flipper, nur schenkt uns der Flipper statt 2,40 Euro bloß 240 | |
Punkte. Am Automaten rütteln hilft auch nicht. Blöd. | |
Wir rauschen roten Tupfen hinterher, über uns sind sie auch, Rücklichter, | |
Flugzeuglichter, und fühlen uns, als wären wir in New York gelandet, als | |
wir endlich ankommen: aufgeregt und heiß auf die Stadt. Was natürlich | |
Quatsch ist, weil Zwietow fast genau dort aufhört, wo es anfängt. Hat also | |
mehr Sinn, direkt im Wald zu halten und die Schlafsäcke auszupacken. Wir | |
steigen aus und sehen uns in der neuen Nachbarschaft um. Wir sehen nix. | |
Was, wenn uns ein verdammtes Wildschwein rammt? Wir steigen wieder ein. | |
Ist wie nach Hause kommen, innen im Lada: Mit Mützen und Handschuhen und | |
Decken und dem, was Tschick und Maik eben essen, Knäckebrot und Marmelade | |
und, superbonfortionös, Snickers zum Nachtisch. Wir fragen uns, wie Mars | |
eigentlich überleben kann, so als abgespeckte Snickers-Version, rollen die | |
Sitze zurück, reden über die Arbeit und Weihnachten und YouTube-Videos und | |
Fußball und den Weltkrieg, und schauen dabei durch die Windschutzscheibe | |
ins Nichts. | |
## Es ist egal, was noch passiert | |
Und wie ich dann aufwache, weil einer von uns mal wieder mit dem Schlafsack | |
raschelt und gegen eine Plastikflasche drückt, wie Blätter und Tropfen und | |
Äste auf unser Dach fallen und es bei den Ästen so klingt, als würde der | |
Lada jeden Moment zu einem Feuerball verschmelzen und in der Luft | |
explodieren, fällt mir ein, was Herrndorf in seinem Blog geschrieben hat, | |
am 11.5.2010 um 17:32 Uhr, drei Jahre bevor er sich erschoss: „Der | |
ungeheure Trost, der darin besteht, über das Weltall zu schreiben. Warum | |
ist der Anblick des Sternenhimmels so beruhigend?“ | |
Und dann fällt mir erst ein, was Herrndorf in „Tschick“ geschrieben hat, am | |
selben Tag, wohl nur ein paar Stunden früher – und plötzlich ist egal, was | |
noch alles passiert ist und was ich alles noch schreiben wollte (am | |
liebsten würde ich das ja gar nicht erzählen. Ich erzähl’s aber trotzdem), | |
wie David Hühner jagen war oder wie wir recherchiert haben, dass es, anders | |
als im Buch, in Zwietow keinen Bäcker gibt, dafür aber einen | |
Spanferkel-Verkauf, wie wir Bratwurst und Schnitzel im Gasthaus Gaumer | |
gefrühstückt haben, als die Putzfrau noch den Boden wischte, der Inhaber, | |
Herr Gaumer, uns von der Hochzeit am Abend zuvor erzählte – und wir | |
fragten: | |
„Wo geht’s denn hier zur Aussichtsplattform?“ | |
„Schwierig zu erreichen, der Weg ist ziemlich holprig.“ | |
„Wir haben einen Geländewagen.“ | |
– Und wie wir, wie Maik, zur Aussichtsplattform gestapft sind und dort | |
einen Turm hoch, dem zwei Stufen fehlten und der vielleicht deshalb „auf | |
Grund dringender Reparaturarbeiten“ eigentlich geschlossen war, wie wir | |
einmal in Seitenlage standen, gefühlte sechzig Grad, wie uns, Klassiker, | |
einmal beinahe das Benzin ausging, wie David sagte, er würde sich das Leben | |
vermissenswert machen, wenn er nicht mehr lang zu leben hätte, er würde | |
noch mal mit dem Fallschirm springen, und ich sagte, ich würde nach Alaska; | |
wie wir dann doch Panik schoben, als wir vor dem See, dessen Namen keiner | |
kannte, wirklich keiner, im Schlamm stecken blieben und die Räder | |
durchdrehten, wir schließlich, die Halme prasselten gegen die Türen, im | |
Sperrgebiet vor lauter Gebüsch fast verloren gingen, nachts vor dem See, | |
mit dem ganzen Schilf davor und den rot blinkenden Windrädern dahinter. | |
Ehrlich, das ist alles ziemlich egal. | |
Weil Maik und Tschick, die schaffen es auch nie in die Walachei. Was keinen | |
stört, sie sind Profis am Werk und haben die vielleicht beste Einsicht | |
schon lange bevor sie südlich oder südöstlich von Berlin vollrohr auf einen | |
Schweinelaster prallen. | |
Und wir haben die eben jetzt, südlich oder südöstlich von Berlin, wo | |
draußen Finsternis und der Geruch von Holz ist, in Zwietow, im Lada, im | |
Kopf Wolfgang Herrndorfs Gedanken zum Himmel; die er, Seite 120, 121, 122, | |
in Maiks Worte zur Galaxie legt: „Mal im Ernst, glaubst du das?“ Wir lagen | |
auf dem Rücken, Tschick stützte sich auf den Ellenbogen. „Glaubst du, da | |
ist noch irgendwas?“ Ich schaute in die Sterne mit ihrer unbegreiflichen | |
Unendlichkeit, und ich war irgendwie erschrocken. Ich war gerührt und | |
erschrocken gleichzeitig, und dann drehte ich mich zu Tschick, und er | |
guckte mich an und guckte mir in die Augen und sagte, dass das alles ein | |
Wahnsinn wäre, und das stimmte auch. | |
Es war wirklich ein Wahnsinn. | |
21 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Seubert | |
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