# taz.de -- Debatte über Sterbehilfe: „Das ist meine größte Angst“ | |
> Der unheilbar erkrankte Schriftsteller Wolfgang Herrndorf wählte den | |
> Freitod. Im Internettagebuch schrieb er über seine letzten Lebensjahre. | |
Bild: Wie von Wolfgang Herrndorf gewünscht, steht ein einfaches Metallkreuz an… | |
BERLIN taz | „Was ich brauche“, schreibt Wolfgang Herrndorf, nachdem bei | |
ihm ein unheilbarer Hirntumor diagnostiziert wurde, „ist eine | |
Exitstrategie.“ Daran, was er damit meint, lässt der Schriftsteller keinen | |
Zweifel: die Möglichkeit des Freitodes, bevor der Krebs seine höheren | |
Hirnfunktionen zerstört. | |
Das [1][Internettagebuch „Arbeit und Struktur“], das Herrndorf nach der | |
Diagnose begonnen hat und [2][das inzwischen auch als Buch erschienen ist] | |
(Rowohlt.Berlin Verlag), beschäftigt sich immer wieder mit der Sterbehilfe. | |
Die Klarsicht des Autors, aber auch sein unsentimentaler Umgang mit der | |
eigenen Verzweiflung, machen es über seinen literarischen Rang hinaus zu | |
einem Dokument in der jetzt [3][von Bundesgesundheitsminister Herrman Gröhe | |
(CSU) angestoßenen Debatte]. | |
An einer Stelle in dem Buch heißt es: „Ich wollte ja nicht sterben, zu | |
keinem Zeitpunkt, und ich will es auch jetzt nicht. Aber die Gewissheit, es | |
selbst in der Hand zu haben, war von Anfang an notwendiger Bestandteil | |
meiner Psychohygiene. [?] Ich muss wissen, dass ich Herr im eigenen Haus | |
bin.“ | |
Dieser Aspekt ist immens wichtig: Die Sicherheit, einen selbstgewählten Tod | |
haben zu können, hilft Wolfgang Herrndorf dabei, die ihm verbleibende Zeit | |
nach eigenen Maßstäben sinnvoll zu nutzen. Er schreibt die Romane „Tschick�… | |
und „Sand“, schwimmt und preist die Schönheiten des Lebens, bis zum | |
Schluss. Für den Zeitpunkt, wenn ihm das Leben aber nicht mehr als | |
lebenswert erscheint, formuliert Herrndorf ein klares Kriterium: | |
„Menschliches Leben endet, wo die Kommunikation endet, und das darf nie | |
passieren. Das darf nie ein Zustand sein. Das ist meine größte Angst.“ | |
Intensiv informiert er sich über die Möglichkeiten zur Sterbehilfe. Nach | |
einer TV-Dokumentation über die Sterbehilfeorganisation Exit notiert er: | |
„Psychisch Kranker, der sich mit Hilfe von Exit in der Schweiz das Leben | |
nimmt. Wie zu erwarten, geht es ihm am besten von allen, Freunde und | |
Bekannte leiden.“ Herrndorf diskutiert auch mit seinen Ärzten. Einer von | |
ihnen möchte ihn von der Idee abbringen, sich zu erschießen: „Wer mich | |
finde, sei traumatisiert. Freunde wahrscheinlich.“ | |
## „Eines zivilisierten Staates nicht würdig“ | |
Dieser Arzt kann aber auch nicht mit sicheren Substanzen helfen – „das | |
könne er gar nicht verschreiben“ –, stattdessen rät er: „Vor die U-Bahn, | |
vom Hochhaus, oder am einfachsten mit Paracetamol […]. Er empfehle ein | |
Hospiz. Freilich müsse man sich umsehen vorher, einen Platz reservieren.“ | |
Da hat Herrndorf sich bereits gegen den begleiteten Suizid in der Schweiz | |
entschieden. Empörung schwingt mit, wenn er die – bei der gegenwärtigen | |
Gesetzeslage nötigen – konspirativen Umstände festhält: „Tagelang durch | |
verrauchte Neuköllner Hinterhofwohnungen laufen zu müssen und mit Leuten zu | |
sprechen, die nicht sagen wollen, wie sie heißen, nur um Gewissheit zu | |
haben – das ist eines zivilisierten mitteleuropäischen Staates nicht | |
würdig.“ | |
Letztlich wird sich Herrndorf erschießen. Am 26. August 2013 wählt er den | |
Freitod. Es gibt die journalistische Gepflogenheit, Todesart und -ort zu | |
verschweigen, um Nachahmungstaten zu minimieren. Aber er bittet die | |
Herausgeber des Tagebuchs, die Umstände zu schildern. Sie tun es in einem | |
sachlich formulierten Nachwort. Und sie fügen an: „Herrndorfs | |
Persönlichkeit hatte sich durch die Krankheit nicht verändert, aber seine | |
Koordination und räumliche Orientierung waren gegen Ende beeinträchtigt. Es | |
dürfte einer der letzten Tage gewesen sein, an denen er noch zu der Tat | |
imstande war.“ | |
Drei Hirn-OPs, zwei Chemotherapien, drei Bestrahlungen hat er da hinter | |
sich. Und er hatte – auch davon erzählt dies Tagebuch – noch drei intensive | |
Lebensjahre mit Arbeit und Freunden verbracht. | |
7 Jan 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.wolfgang-herrndorf.de/ | |
[2] /Wolfgang-Herrndorfs-letzter-Eintrag/!128841/ | |
[3] /Hilfe-zur-Selbsttoetung/!130454/ | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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