Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Nachruf auf Wolfgang Herrndorf: Ohne Sprache gibt es kein Leben
> Ein Buch, das flog und dann das dunkle Gegenstück dazu – das schaffte
> Wolfgang Herrndorf. Sein bester Text handelt nicht vom Sterben, sondern
> vom Leben.
Bild: An so etwas Kitschiges wie ein Nachleben irgendeiner Art hat er nicht geg…
Wie gut Wolfgang Herrndorf als Schriftsteller war, wusste lange Zeit wohl
nur er selbst. Dann kam „Tschick“. Ich habe diese Ausreißergeschichte um
die beiden jugendlichen Antihelden Maik Klingenberg und Andrej
Tschichatschow 2010 mit dem Bewusstsein aufgeschlagen: Okay, bestimmt ein
weiteres ziemlich lustiges und interessant geschriebenes Buch aus dem
Umfeld der digitalen Boheme.
Mit solchen Büchern hat der 1965 in Hamburg geborene Wolfgang Herrndorf zu
schreiben angefangen, nach einem Studium der Malerei und mitten drin in
einer dieser sich ganz romantisch anhörenden, tatsächlich aber sicher oft
nervenden prekären Existenzen in Berlin. Wenig Geld. Aber interessante
Menschen kennen. Sich mit Illustrationen und Internet durchschlagen.
Ungefähr davon handelten auch seine ersten Bücher „In Plüschgewittern“ u…
„Diesseits des Van-Allen-Gürtels“. Das waren schöne Talentproben.
Aber „Tschick“ war dann anders – ein Buch, das flog. Es ist ein Roman
großer Menschenfreundlichkeit und ebenso großen schriftstellerischen
Formbewusstseins. Diese lustigen Details! Die Richard-Clayderman-Kassette.
Die Zeichnung, mit der der Ich-Erzähler seine Liebste beeindrucken möchte.
Vor allem aber diese so genau gebaute und nie geschrieben wirkende Sprache,
die Herrndorf seinem Ich-Erzähler gegeben hat. Das alles war von großer
Raffinesse, die niemals auch nur ansatzweise ungut durchschimmerte.
Ungefähr zur selben Zeit wurde bei ihm ein Hirntumor festgestellt, und
seitdem versuchte man sich die künstlerromantisch klingende Frage zu
verbieten, ob die gesteigerte schriftstellerische Schaffenskraft
irgendetwas mit der Krankheit zu tun haben könnte. Nicht, dass es
letztendlich darauf ankommt. Beides war dann da: das kleine große
Meisterwerk „Tschick“ und der Krebs.
## Ein kalt spielender Gott
„Sand“, der Roman, den Herrndorf den Umständen seiner Krankheit noch ganz
abgetrotzt hat, erschien 2011 und ist das dunkle, nihilistische Gegenstück
zu „Tschick“. Der Erzähler ein kalt spielender Gott in einem leeren
Universum, der seine Figuren so hin und her wirft, wie ein Sturm es in der
Wüste mit Sandkörnern tut. An einem Roman namens „Isa“ hat Herrndorf bis
kurz vor seinem Tod noch gearbeitet.
Der allertollste Text aber, ein unfassbar genauer, anrührender,
humorvoller, wahrhaftiger Text sind die [1][Tagebucheinträge] (derzeit
überlastet), die Wolfgang Herrndorf nach Ausbruch der Krankheit ins
Internet gestellt hat.
Dieses akribische Protokoll des Lebens mit der Krankheit war eben kein Text
über das Sterben, sondern einer über das Leben. Sonnenaufgänge. Baden im
Plötzensee. Einträge wie: „Unsterblich duften die Linden.“ Gegen Schluss
taucht noch eine tote Libelle auf, die Herrndorf beerdigt. Es ist schön zu
hören, dass der Blog als Buch erscheinen wird.
## Eine Entscheidung, die Respekt erfordert
Dass er lieber im Winter sterben würde, wusste man aus einem der Einträge.
So ist es nicht gekommen. Drei Operationen, zwei Chemotherapien, drei
Bestrahlungen. Der Krebs kam immer wieder zurück. Wolfgang Herrndorf hat in
dem Blog nie einen Zweifel daran gelassen, dass er den Freitod wählen
würde, wenn er durch den Krebs seine Sprache verlieren würde. Am Montag in
den späten Abendstunden hat er sich am Ufer des Hohenzollernkanals in
Berlin erschossen. Eine Entscheidung, die Respekt erfordert. Wobei einem
die Pistole krass erscheint.
Ich habe mir immer wieder gesagt, dass ich als Literaturredakteur
eigentlich etwas vorbereiten müsste für den Moment, in dem er tot sein
wird. Ich habe es – gar nicht groß mit ihm bekannt, nur durch die Kraft
seiner Wörter auf die besondere, wenn auch einseitige Art befreundet, wie
man als Leser mit seinem Autor befreundet sein kann – nie hinbekommen.
Ich habe mich manchmal dabei ertappt, mir auszumalen, wie der Moment wohl
sein würde, in dem ich von seinem Tod erfahre. Er war dann so, wie Wolfgang
Herrndorf ihn vielleicht selbst beschrieben hätte: banal. Ich war zu Fuß
unterwegs, als das Handy klingelte. Als ich den Anruf annahm, stand eine
Krähe vor mir und sah mich an. Das schreibe ich natürlich keineswegs, weil
ich denke, dass diese Krähe irgendetwas mit Herrndorf zu tun hätte.
An so etwas Kitschiges wie ein Nachleben irgendeiner Art nach dem Tod hat
er nicht geglaubt. Auch das kann man in dem Blog nachlesen. Aber so war es
halt. Dann ist die Krähe lässig davongehüpft.
27 Aug 2013
## LINKS
[1] http://www.wolfgang-herrndorf.de/
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Wolfgang Herrndorf
Schriftsteller
Tschick
Sand
Tschick
Wolfgang Herrndorf
Wolfgang Herrndorf
Tschick
Nachruf
Nachruf
Wolfgang Herrndorf
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Tschick“ von Fatih Akin: Die heile Seite der Außenseiter
Fatih Akin verfilmt „Tschick“ ein, zwei Nummern kleiner – und eher für
Jugendliche. Wolfgang Herrndorf hätte das vermutlich gefallen.
Debatte über Sterbehilfe: „Das ist meine größte Angst“
Der unheilbar erkrankte Schriftsteller Wolfgang Herrndorf wählte den
Freitod. Im Internettagebuch schrieb er über seine letzten Lebensjahre.
Auf den Spuren von „Tschick“: Landkarten sind für Muschis
Wolfgang Herrndorf schrieb „Tschick“. Die sonntaz-Redakteurin hat sich auf
den Weg gemacht. Ein Roadtrip durch Brandenburg. Eine Hommage.
Wolfgang Herrndorfs letzter Eintrag: Manchmal ein Schock
Der Blog des Autors ist als Buch erschienen. Was sich wie eine Folge von
Lebenszeichen las, ist das Vermächtnis eines formbewussten Schriftstellers.
Nachruf auf Schriftsteller Peter Kurzeck: Ein radikaler Biograf
Er schrieb die Chronik des alten Jahrhunderts von unten: Peter Kurzeck ist
im Alter von 70 Jahren gestorben und hinterlässt ein unfertiges
Monumentalwerk.
Nachruf auf Saemus Heaney: Der „Koloss der Literatur“ ist tot
Der irische Nobelpreisträger schrieb über Politik und seine kleinbäuerliche
Herkunft. Er ist nun im Alter von 74 Jahren gestorben.
Berliner Schriftsteller gestorben: Wolfgang Herrndorf ist tot
Er erhielt 2012 den Preis der Leipziger Buchmesse, schrieb den Roman
„Tschick“ und führte ein Weblog über seine Krebserkrankung. Nun ist
Wolfgang Herrndorf gestorben.
Herrndorf gewinnt Leipziger Buchpreis: Ein manischer Schreiber
Für seinen Roman „Sand“ bekommt der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf den
Preis der Leipziger Buchmesse. Der krebskranke Autor schreibt radikal
selbstentblößend.
Dramaturg über Wolfgang Herrndorf: „Sand ist ein Buch-Buch“
Bekommt Wolfgang Herrndorf den Preis der Leipziger Buchmesse? Robert Koall,
Freund des krebskranken Autors, über dessen Bücher „Tschick“, „Sand“ …
die seltsame deutsche Kritik.
Neues Buch von Wolfgang Herrndorf: Wehe dem, der in der Wüste liegt
Der Autor von "Tschick" dreht ein Pathosthema der Moderne ins Trashige und
erwischt seine Leser existenziell. "Sand" macht Spaß und regt auch noch zum
Nachdenken an.
Neuer Roman von Wolfgang Herrndorf: Schmeiß das Handy weg!
"Dont try this at home": Wolfgang Herrndorfs "Tschick" ist ein schönes
Roadmovie in Romanform über die Reise zweier junger Männer ins Ungewisse.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.