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# taz.de -- Neues Buch von Wolfgang Herrndorf: Wehe dem, der in der Wüste liegt
> Der Autor von "Tschick" dreht ein Pathosthema der Moderne ins Trashige
> und erwischt seine Leser existenziell. "Sand" macht Spaß und regt auch
> noch zum Nachdenken an.
Bild: Der nächste Sandsturm kommt bestimmt: ein Landrover auf dem Weg durch di…
Man sieht den Sandsturm kommen. Zunächst ist da nur etwas Eigenartiges am
Horizont, eine "kleine, gelbe, schmutzige Wolke, die sich langsam
ausdehnte". Schon wenige Zeilen später geht es los. "Der Wind nahm rasch an
Stärke zu, der Himmel färbte sich dunkelbraun. Schließlich wurde es einen
Moment windstill.
Dann bekam das Auto einen Schlag, der es fast von der Piste schob,
Polidorio machte eine Vollbremsung. Ein Sandstrahlgebläse war auf seine
Windschutzscheibe gerichtet, er konnte kaum noch die Spitze der Kühlerhaube
erkennen. Es war ein Prasseln und Knistern, als ob der Wagen in Flammen
stünde." Das wars. Ein paar Zeilen weiter wird lakonisch beschrieben, wie
dieser Polidorio den Wagen wieder aus dem Sand buddelt.
Wolfgang Herrndorfs neuer Roman "Sand" kann einem nach einigem
Hineinkämpfen viel Spaß machen und zu denken geben. Wer sich deshalb
vornimmt, eine sympathetische Besprechung zu schreiben, kann an dieser
kleinen Szene gleich zwei Dinge festmachen. Er kann auf die
Beschreibungskunst dieses Autors verweisen. Ein Sandsturm in einem Roman,
der in der Sahara spielt - und Wolfgang Herrndorf macht daraus eben kein
kunstvoll zusammengeschraubtes Kabinettstück. Stattdessen hat die Szene,
wie oft in diesem Roman, etwas Hingetuschtes, etwas aus dem Ärmel
Geschütteltes. Und zugleich etwas ungeheuer Eindrucksvolles.
## Suche nach Identität
Festmachen lässt sich daran auch das Grundthema. Denn so sandgestrahlt wie
die Windschutzscheibe ist bald auch das Gedächtnis der Hauptfigur. "Sand"
schildert, ins Tragikomische gedreht, die Geschichte eines
Gedächtnisverlustes und der folgenden Suche nach der eigenen Identität.
Damit ordnet sich der neue Roman sogar ganz gut in die Abfolge der
bisherigen Bücher dieses Autors ein.
Die Figuren des 2002 erschienenen Debüts "In Plüschgewittern" wirkten wie
verlorenes Strandgut innerhalb der Identitätsspielchen des
Nullerjahre-Berlins. Und Maik und Andrej Tschichatschow, die beiden
jugendlichen Ausreißer aus dem großen Erfolg von 2010 "Tschick", waren eh
noch zu jung, um Klarheit darüber zu haben, was sie mit sich und ihrem
Leben anfangen sollen; Hauptsache, erst mal weg von den Lebensentwürfen der
angeblich Erwachsenen. Wer er ist, wusste bei Wolfgang Herrndorf bislang
noch niemand so ganz genau.
Aber die Umstände, in denen diese Ich-Suche (großes Pathosthema der
literarischen Moderne!) durchgespielt wird, ändern sich von Buch zu Buch
gewaltig. In "Sand" findet sich der Leser in einem Marokko nachempfundenen
Land wieder. Es ist 1972, Nachrichten vom palästinensischen Anschlag auf
das israelische Olympiateam in München spielen eine Rolle.
Es gibt ein Thriller- und Agentensetting. Im Hintergrund muss ein
Technologietransfer verhindert werden, der zum Bau einer Atombombe führen
könnte; und im Vordergrund ist die Identitätssuche des Helden daran
gekoppelt, für ein paar Verbrecher eine Mine wiederzubeschaffen, wobei er -
ein herrlich schräger Herrndorfscher Handlungsdreh, von dem es in dem Buch
einige gibt - noch nicht einmal weiß, ob damit ein Bergwerk, eine
Sprengladung oder die Mine eines Bleistiftes oder Kugelschreibers gemeint
ist.
Der Hauptunterschied zu "Tschick" ist aber: "Sand" ist kein nettes Buch,
ganz und gar nicht. Es gibt hier keine rührenden Details, keine im
Autorekorder dudelnde Richard-Clayderman-Kassette und keine
Bleistiftzeichnung für die Angehimmelte. Vor allem gibt es nicht die
Erfahrung, die Maik formulierte: "Seit ich klein war, hatte mein Vater mir
beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die Welt ist schlecht, und der
Mensch ist auch schlecht. [...] Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich
auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das
nicht schlecht war." Das ist in "Sand" gründlich anders.
## Sadistische Befreiungen
Als Erstes wird der an Amnesie leidende Held von zwei gut gelaunten Hippies
ausgeraubt. Und auch sonst widerfährt ihm ausschließlich Schlechtes. Selbst
dass er sich aus allen Misslichkeiten immer wieder befreien kann - einmal
etwa von einem Dachboden mit zu kurzer Leiter, einmal aus der Situation, in
vollkommener Dunkelheit in einem Matschtümpel stehend an einen Eisenpfahl
angekettet zu sein -, verheißt ihm nichts Gutes. Diese Befreiungen malt
Herrndorf mit einer einerseits slapstickhaften, andererseits nahezu
sadistischen Gründlichkeit aus. Und dann schickt er seinen Helden wie ein
böser Gott in die nächste Misere. "Sand" ist ein Roman der
schlimmstmöglichen Ausgänge.
Es wäre nun aber auch ganz falsch, einen genretypischen Actionroman zu
erwarten. Eher fühlt man sich beim Lesen wie in einem Film der Coen-Brüder.
Wie dort sind auch hier alle Szenen geradezu emphatisch bewusst
durchgearbeitet, ohne daraus ein großes Kunstding zu machen. Man achte etwa
auf die Szene, in der Michelle, eine Nebenfigur, ihre Tarotkarten legt,
während sich der Held und Helen, eine Zeit lang seine Verbündete, am Rande
von Michelles Wahrnehmung über ihr weiteres Vorgehen streiten.
Das Zentrale der Szene ist ganz an den Rand gedrängt. Außerdem sind, so wie
bei den Coens, beide Seiten des Tragikomischen bis aufs Äußerste gespannt.
Das Komische: Man muss beim Lesen immer wieder lauthals lachen, das
Gespräch des Helden mit dem Psychiater Dr. Cockcroft verdient in den Kanon
der Hochkomik aufgenommen zu werden. Genauso beim Tragischen. Aber hier
darf man als Rezensent nicht alles verraten. Jedenfalls spielt der Zufall,
der in diesem sinnlosen Kosmos und dieser transzendentalen Obdachlosigkeit,
in der wir nun einmal leben, herrscht, die alles überragende Rolle.
Und so wie einem bei den Coens oft unklar ist, ob man sich nun in einem
Comic oder in einem tiefsinnigen Film über die letzten Dinge befindet, so
weiß man das bei diesem Roman auch nicht. "Weiß einer, wie es ist, die
Nacht in der Wüste zu erleben, allein?" So beginnt eine weitere großartige
Szene. Und dann gelingt etwas, was eigentlich nur in Kitsch münden und
schiefgehen kann - die Beschreibung kosmologischer Einsamkeit.
## Menschlicher Schicksalskampf
"Er sah das Blinken ferner Sonnen, die nichts waren als Stäubchen im All,
und zu wissen, dass er selbst mit dem Rücken auf einem solchen Stäubchen
lag und nur durch ein paar Körner und Kiesel, durch eine winzige
Materiezusammenballung getrennt vom ewigen, schwerelosen Nichts auf der
anderen Seite …" Inmitten der stellenweise trashigen, stellenweise auch
albernen Oberfläche dieses Buches können einen solche Stellen ganz kalt und
existenziell erwischen.
Es lohnt sich, beim Lesen parallel immer mal wieder einen Blick in den Blog
"Arbeit und Struktur" zu werfen, den Wolfgang Herrndorf seit gut eineinhalb
Jahren führt, seitdem bei ihm ein lebensbedrohender Gehirntumor
diagnostiziert wurde. Man bekommt einen Eindruck davon, wie besessen dieser
Autor an diesem Roman arbeitete. Man bekommt zudem Hinweise auf die
Entstehung, etwa dass "Sand" von Anfang an als nihilistisches Gegenstück
zum menschenfreundlichen Roman "Tschick" konzipiert war, als Beschreibung
eines menschlichen Schicksalskampfes inmitten der Gleichgültigkeit der
Wüste.
Vor allem aber ist dieser Blog auch selbst ein Gegenstück zu diesem Roman.
Viele Einträge berichten von einer klaren Einsicht in die eigene
Endlichkeit, sie beschreiben die Symptome der Krankheit, die Medikation,
das Schwanken zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Aber über allem ist
"Arbeit und Struktur" doch auch ein Bericht von der Schönheit des Lebens.
Vom Fußballspielen mit Freunden ist viel die Rede, überhaupt von
Freundschaften, vom Schwimmen in Seen und im Meer.
Natürlich kann "Sand" als Buch allein stehen. Aber man muss wohl "Tschick",
"Sand" und diesen Blog zusammennehmen, um zu sehen, wie gut dieser
Schriftsteller Wolfgang Herrndorf wirklich ist und darüber hinaus auch, was
der Mensch ist: Er reitet auf einem Stück kosmischen Staubes durch das
Weltall, er kann sich dabei ziemlich seltsame Dinge ausdenken, er kämpft
bis zuletzt um sein Leben und um seine Identität, und er kann bei alledem
auch noch eine ziemlich schöne Zeit haben, selbst wenn man nur Richard
Clayderman im Kassettenrekorder hat.
Was ist gegen den Menschen schon ein Sandsturm?
15 Nov 2011
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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