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# taz.de -- Wolfgang Herrndorfs letzter Eintrag: Manchmal ein Schock
> Der Blog des Autors ist als Buch erschienen. Was sich wie eine Folge von
> Lebenszeichen las, ist das Vermächtnis eines formbewussten
> Schriftstellers.
Bild: „Die letzten drei Jahre waren die besten“, schrieb er zum Schluss.
Man liest dieses Buch jetzt anders, als man den Blog gelesen hat. Das liegt
keineswegs nur am anderen Medium. Die Einträge des Blogs, die Wolfgang
Herrndorf begann, als er 2010 die Diagnose Hirntumor bekam, und die
daraufhin so viele Menschen bewegt und begeistert haben, waren immer auch
Lebenszeichen, und das gehörte zum Faszinosum dazu.
Worauf dieser Hirntumor hinauslaufen würde, das war stets klar. Aber wenn
man beim Aufrufen von [1][www.wolfgang-herrndorf.de] auf neue Einträge
stieß, wusste man: Noch ist der Moment des Todes nicht da, noch kann er
schreiben. Die große, von vielen Menschen bezeugte Wirkung des Blogs
beruhte auch darauf, dass man Anteil nahm, auch wenn man den Autor
persönlich gar nicht groß kannte.
Das ist seit dem 26. August 2013 natürlich anders, seit dem Tag, an dem
Wolfgang Herrndorf, kurz bevor der Tumor ihn die Kontrolle über seinen
Körper und seine Sprache hätte verlieren lassen, seinem Leben selbst ein
Ende setzte.
Das Buch „Arbeit und Struktur“, das im Wesentlichen aus den vorsichtig
redigierten und etwas ergänzten Blogeinträgen nebst einem erläuternden
Nachwort von Herrndorfs Lektor Marcus Gärtner und seiner Freundin Kathrin
Passig besteht, ist damit auch so etwas wie das Dokument eines
Krankheitsverlaufs geworden.
## Ganz nah neben das Lachen ist der Schock gesetzt
Und gerade weil immer wieder, und bis zum Schluss, Humor aufblitzt, gerade
weil Wolfgang Herrndorf es schriftstellerisch gelingt, Nähe zum Leser zu
erzeugen, geht das Lesen nicht ohne zwischenzeitliches Erschrecken ab.
Ganz nah neben das Lachen an vielen Stellen (groß etwa: die Schilderung des
Papstbesuchs aus Epileptikersicht) und neben die Bewunderung für seine
Klarsicht auch unter widrigsten Lebensumständen an vielen anderen Stellen
ist da manchmal ein Schock darüber gesetzt, was man beim Lesen dieses
Textes eben auch tut: einem inzwischen toten Menschen beim Kampf um sein
Leben zugucken.
Das ist dann das, was einem während der Lektüre – um den bewusst flapsigen
Begriff zu verwenden, den Wolfgang Herrndorf benutzt, um Momente zu
markieren, in denen ihn etwas übermannt – „den Stecker zieht“.
Aber über diesen Schock hilft einem das Buch selbst auch immer wieder
hinweg. Weil es kein Buch über das Sterben ist, sondern ein Buch über das
Leben und seine Schönheiten – und zwar auch das bis zum Schluss.
## Eine Erinnerung an die mögliche Intensität des Daseins
So großartig sind etwa die Sätze vom Schwimmen in Seen auf die Seiten
getuscht, dass man beim Lesen zwischendurch auch einfach Lust bekommt,
sofort ins Wasser zu springen. „Arbeit und Struktur“ ist eben auch ein
Buch, das einen immer wieder an die mögliche Intensität des Daseins
erinnert.
Und das Buch ist noch etwas: Es ist das Vermächtnis eines großartigen
Schriftstellers, mit allem, was dazugehört – poetologische Stellen,
Lebenseinstellungen, Alltags- und Weltbeschreibungen. Damit kann man sich
das Lesen zum Anlass machen, einmal genauer zu versuchen herauszukriegen,
was einen an den Texten dieses Autors so sehr ergreift.
Wolfgang Herrndorf selbst denkt immer wieder über sein Schreiben nach.
Diese Einträge laufen auf eine eindeutige Formästhetik hinaus. Herrndorf
war jemand, der mit den Ohren schrieb.
So heißt es im Eintrag vom 9. 9. 2011, der zugleich ein gutes Beispiel für
einen Einblick in das Alltagsleben eines Schriftstellers ist: „Firma
Zischke repariert den Wasserhahn. Gewohnt, mir Satz für Satz laut
vorzulesen, arbeite ich jetzt stumm, aus Furcht vor dem möglichen Hall in
der Stimme. Was schwierig ist. Klang beim Schreiben immer wichtiger als
Inhalt. Erst Klang und Form, dann Inhalt.“
Das ist etwas, was man als Leser in fast jedem einzelnen seiner Sätze
spürt. Sie sind geformt. Und zwar auf Einfachheit hin, auf Schlichtheit,
Sprechbarkeit, Nachvollziehbarkeit. Von Thomas Mann, dessen Schreibtricks
Herrndorf einen so bewundernden Eintrag reserviert, wie er sie sonst nur
für Nabokov übrig hat, stammt der Begriff „durchfühlt“.
## Manchmal schnürt einem nur ein schlichtes Wort die Luft ab
Er passt sehr gut auf Herrndorfs Prosa. Dieser Autor hatte – und zwar in
„Arbeit und Struktur“ auch noch seiner eigenen Krankheit gegenüber – ein
unglaublich gutes Gespür dafür, wann er eine Flapsigkeit einfügen muss,
damit eine Zustandsbeschreibung nicht in Sentimentalität kippt, oder wann
er auch einmal eine Leerstelle hinsetzen muss, weil der Leser sich den Rest
denken kann. So schnürt einem beim Lesen ein schlicht in Klammern
hingeschriebenes Wort wie „(geweint)“ schier die Luft ab.
Dieses Setzen auf Klang und Form ist keineswegs reines literarisches Spiel.
Es ist auf Wirkung aus, und diese Wirkung zielt auf Empathie – sie ist es,
auf die dieser Autor mit all seinen Kniffen stets hinarbeitet.
An einer Stelle stellt Herrndorf als „Gefühl“, das einem beim Lesen von
Literatur erwischen kann, klar heraus: „dass man teilhat an einem Dasein
und an Menschen und am Bewusstsein von Menschen, an etwas, worüber man
sonst im Leben etwas zu erfahren nicht viel Gelegenheit hat, selbst um
ehrlich zu sein, in Gesprächen mit Freunden nur selten und noch seltener in
Filmen“.
Das Zentralwort dieser Poetik ist dabei „Kontrolle“. Kontrolle über den
Klang von Sätzen, über die Einfälle, die Wirkungen. Wolfgang Herrndorf ist
ein Autor, der stets weiß, was er tut, bis in seine dunkelsten Stunden
hinein.
## Der psychotische Schub nach der Hirn-OP
Die in Rückblenden in die Einträge eingefügte Beschreibung des
psychotischen Schubes, der ihn nach seiner ersten Hirn-OP überfiel
(insgesamt wird er drei Hirn-Operationen über sich ergehen lassen müssen,
dazu Bestrahlungen und Chemo), ist ein meisterhaftes Stück Literatur.
Wie wichtig ihm Kontrolle auch in den Büchern „Tschick“ und „Sand“ ist…
er während seiner Krankheit noch fertig geschrieben hat, kann man dort in
beinahe jeder Szene nachvollziehen. Nachlesetipp: das 17. Kapitel von
„Tschick“.
In so einem schlichten Satz wie „In einem geklauten Lada ist eh nichts mehr
peinlich“ ist schon die ganze Utopie dieses Buches enthalten; während in
der Wüste, so das dunkle Gegenstück „Sand“, im Grunde jedes menschliche
Streben unbedeutend ist.
Alles aufschreiben, Mitteilungen geben von dem Bewusstsein eines Menschen,
der eine schreckliche Diagnose verarbeiten muss und sich entscheidet, seine
restliche Zeit mit der Arbeit an Büchern zu verbringen, ohne dass er an
solche Konzepte wie einen Nachruhm glaubt – und zwar Mitteilungen geben,
ohne dass es peinlich wird: Das ist der große existenzielle Einsatz dieser
Einträge. Man kann beim Lesen dann nur noch darüber staunen, mit wie viel
schriftstellerischer Grazie er das hinbekommen hat.
## Die Präzision der Strahlenkanone
Die sterbende Libelle – das „Wunderwerk“ –, die er wenige Wochen vor se…
eigenen Tod beschreibt oder eher, für lange Einträge fehlte längst die
Konzentration, beschwört, wird man lange nicht vergessen.
Und fasziniert beschreibt Herrndorf auch die Kontrollfähigkeiten der
medizinischen Strahlenkanone, der sein Gehirn ausgesetzt wird: „Abweichung
maximal 0,7 Millimeter. Alles erfunden und konstruiert von einem Tier, das
vor noch nicht langer Zeit damit beschäftigt war, Neandertalern mit Keulen
die Schädel zu zertrümmern.“
Die existenzielle Wucht dieses Buches liegt aber auch daran, dass Wolfgang
Herrndorf auch im Leben die Kontrolle zu behalten wichtig war. Schon früh
in den Einträgen taucht die Pistole auf, die er am Schluss in der Nähe des
Berliner Plötzensees benutzen wird. Aber es geht auch um Kontrolle im
intellektuellen Sinne.
In Susan Sontags berühmten Essay „Krankheit als Metapher“ kann man
nachlesen, dass gerade Krebs die Versuchung mit sich führt, in
metaphysische Anklagen oder religiöse Trostgebäude zu flüchten. Nicht so
Herrndorf. Weder sucht er nach übergeordneten Erklärungen für seine
Krankheit, noch bemüht er sich, Sinn aus ihr herauszupressen. Krebs kann
passieren. So sind menschliche Körper nun mal gebaut. So sieht Herrndorf
das.
Und trotz aller Downs und aller Kämpfe mit sich: Letztlich verzweifelt er
darüber nicht. „Arbeit und Struktur“ ist eben auch ein Buch über die
letzten Dinge. Seinem Leben Sinn zu geben, das vermag nur der Mensch
selbst. Und eben daran macht Wolfgang Herrndorf sich dann, indem er seine
Romane schreibt.
Was man als Leser aus diesem Buch am tiefsten mitnimmt, ist die Einsicht:
Die Arbeit an dem Klang von Sätzen vermag ein Menschenleben auszufüllen.
Und es ist ebenso eine Zumutung wie dann doch ein Trost, wie ihn nur eine
große Erzählung bieten kann, dass man ihm am Schluss dieser Einträge trotz
aller Umstände glaubt, wenn er schreibt: „Die letzten drei Jahre waren die
besten.“
5 Dec 2013
## LINKS
[1] http://www.wolfgang-herrndorf.de
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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