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# taz.de -- Neuer Roman von Wolfgang Herrndorf: Schmeiß das Handy weg!
> "Dont try this at home": Wolfgang Herrndorfs "Tschick" ist ein schönes
> Roadmovie in Romanform über die Reise zweier junger Männer ins Ungewisse.
Bild: Weg mit den Handys! Dann wird alles besser.
Die Welt ist ein Abenteuerspielplatz. Das Leben ist ein Abenteuer, aber
dafür muss man jung sein, tollkühn, am besten noch unglücklich verliebt und
sonst wie verzweifelt. Dann muss man sein Handy wegschmeißen und ganz
spontan den Freiraum nutzen, der sich bietet. Der Erzähler aus Wolfgang
Herrndorfs Roman "Tschick" macht das jedenfalls so.
Er ist jung, 14, hat Schulferien. Seine Mutter dampft in Richtung
Entziehungskur ab, und der Vater geht mit seiner blutjungen Assistentin auf
Geschäftsreise. Dann ist da noch die Geburtstagsparty seines Schwarms, auf
die er nicht eingeladen ist, und ein komischer Freund mit russischen
Hintergründen, der uneingeladen vor der Tür steht und den hauseigenen
Swimmingpool bewundert. Und sich mit Autoknacken auskennt. Und angeblich
Verwandte in der Walachei hat. Schon kann das Abenteuer beginnen.
Wolfgang Herrndorf, 45, gebürtiger Hamburger und Wahlberliner, hat einen
modernen Abenteuerroman geschrieben. Einen Jugendroman. Das festzustellen,
ist erst einmal wichtig. Denn klar ist dieses Buch so flott und gut
geschrieben, schnell und unterhaltsam, dass auch Erwachsene Spaß mit
"Tschick" haben können. Problem bleibt: Ganz so lustig, wie überall
behauptet, ist der Roman nicht.
Die Jugendsprache ist zwar genau getroffen, nie anbiedernd und nie mit
Ausdrücken aus dem Jugendsprachlexikon um sich werfend, wie man befürchten
müsste. Aber wirklich komisch wird es erst auf Seite 127. Dann treffen Maik
Klingenberg, der Erzähler, und sein Kumpan Andrej Tschichatschow, kurz
"Tschick", in einem entlegenen Kaff irgendwo in der Lausitz auf eine
begriffsstutzige Familie, die nicht weiß, wo sich der örtliche
Riesensupermarkt befindet, die beiden dafür aber kurzerhand zum Essen
einlädt und den Nachtisch mittels eines Quiz verteilt.
Ein Problem ist das deshalb, weil man über dieses Buch natürlich noch
andere Sachen wissen muss. Nämlich zum einen: Es wird überall in höchsten
Tönen gelobt, als sozusagen Erwachsenenbuch, obwohl es bei entscheidenden
Preisumfragen leer ausging. Oder gerade weil. Die Literaturkritik schien
bisher von einem merkwürdigen schlechten Gewissen geleitet. Dem schlechten
Gewissen einem Autor gegenüber, der zwar immer wohlwollend wahrgenommen
wurde, aber doch an den Randbezirken des großen Systems Literaturbetrieb
angesiedelt blieb.
Herrndorf ist ein Mitglied der ZIA, der "Zentralen Intelligenz Agentur",
die unter anderem die digitale Boheme propagiert hat. Im Gegensatz zur
Kollegin Kathrin Passig hat er in Klagenfurt aber nur den Publikumspreis
mitnehmen dürfen und ist auch längst nicht so bekannt wie sein Kollege
Sascha Lobo.
Zuvor hat Herrndorf mit "In Plüschgewittern" ein wirklich komisches Buch
geschrieben, das irgendwie ein Berlinroman war und irgendwie ein
verspäteter Popliteraturroman, aber eben nur irgendwie und auch irgendwie
zu spät, und überhaupt ging beides ja schon länger nicht, schon gar nicht
gleichzeitig. Aber "In Plüschgewittern" war dennoch wirklich gut. Ganz gut
war auch "Jenseits des Von-Allen-Gürtels", das waren Kurzgeschichten, die
aber meistens nur mit jeweils einem guten Trick arbeiteten.
Der andere Teil der Geschichte ist der, dass Herrndorf ernsthaft krank ist.
Todkrank. Wer darüber mehr erfahren möchte, sollte seinen Blog lesen. Der
heißt "Arbeit und Struktur" und ist unter dem Namen des Autors (mit
Bindestrich zwischen Vor- und Nachname) plus deutschem Kennzeichen zu
erreichen.
Bleiben wir beim Buch. Erzählt ist es in der Ich-Perspektive. Folglich gibt
es einen Erzähler, der sich nicht von der Umgebung distanziert, sondern
erlebt und von dem Erlebten frisch erzählt. Start der Handlung ist Berlin,
Zeit: der Sommer dieses Jahres. Mit dem ersten Schultag nach den Ferien
endet das Buch. Eine Live-Reportage. Aus dem Kopf eines Jugendlichen. Wie
man es natürlich von J. D. Salingers "Fänger im Roggen" kennt. Das damals
schon ein ähnliches Grundproblem hatte: Nimmt man dem Buch diese
Ich-Perspektive überhaupt ab. Stimmt das? Spricht, handelt, denkt, redet
der gemeine beziehungsweise ganz spezielle Jugendliche heutzutage so? "Das
schönste Mädchen der Welt kommt nicht vor." Die Antwort ist: Ja, auf jeden
Fall. Klappt. Das bedeutet viel, denn kaum etwas ist schwieriger, als einen
überaus künstlich hergestellten Erzähler als authentisch zu verkaufen.
Aber es bleibt doch ein Jugendbuch, und das liegt daran, dass die Handlung
vielleicht nicht vorhersehbar, in gewissem Sinne aber klassisch ist. Mit
Abstand gelesen wird es selten richtig spannend, trotz aller immer mal
wieder im Hintergrund herumgurkenden Polizei. Neben den Skurrilitäten in
sorbischen Dörfern tauchen eine Mondlandschaft, ein Exlandser, eine
Sprachtherapeutin und ein Mädchen vom Müll auf. Das Ende ist komplett
klassisch, und zwar nicht in einem Salinger-, Dickens- oder
Mark-Twain-Stil, sondern à la Hollywood. Es ist gutes Hollywood, und man
möchte dem deutschen Filmproduktionsteam schon jetzt ein gutes Händchen bei
der Umsetzung des Buchs wünschen.
Die Darstellung einer Generation, die Beleuchtung eines speziellen Moments,
der für eine ganze Epoche stehen könnte, das leistet das Buch aber
vermutlich nicht. Es tauchen natürlich Zeitinsignien wie Beyoncé, das
Ballerspiel "Doom" oder die Frage nach Handys im Unterricht auf. Das war es
aber im Wesentlichen. Ansonsten muss, um die Handlung weiterzutreiben, auf
Handys verzichtet werden. Internet kommt selten vor. Von Straßenkarten und
Atlanten haben die Jugendlichen anscheinend noch nie etwas gehört. Medial
Vermitteltes bleibt weitestgehend draußen - verlassen wird sich auf alte
Ingredienzien. Schule, angehimmelte Wesen des anderen (oder auch mal
desselben) Geschlechts, pubertäre Unsicherheiten, fragwürdige Erwachsene.
Die Welt ansonsten in diesem Buch: erstaunlich normal. Menschen:
erstaunlich nett.
Das nächste kleine Problem ist eines, wofür das Buch nicht viel kann: Der
Verlag platziert es an der Zielgruppe vorbei, und das vielleicht mit Recht.
Würde ein Jugendlicher von heute so etwas überhaupt lesen? Könnte es die
Lücke füllen zwischen Harry Potter, Tolkien und, äh, tja, was eigentlich?
Helene Hegemann? Ein irgendwie klassischer Abenteuerroman? Ganz ohne
Piraten, Ritter, Außerirdische, Vampire, Zombies, Serienkiller, nur mit
einem Haufen Realität, die etwas in Schieflage gerät? Schon "Der Fänger im
Roggen" ist heutzutage nur noch Schullektüre. Fraglich, ob das sonst
überhaupt noch jemand lesen würde.
Andererseits müsste das Buch natürlich mit dem Aufkleber "Dont try this at
home" beziehungsweise "Nicht zur Nachahmung empfohlen" versehen werden.
Schließlich geht es hier um Abenteuer, und die lauern jenseits der
erlaubten Wege. Jenseits des Legalen. Insofern ist es doch ein rundum gutes
Buch. Wer traut sich denn sonst schon so was.
26 Oct 2010
## AUTOREN
René Hamann
## TAGS
Kinder- und Jugendbücher
Wolfgang Herrndorf
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