# taz.de -- Neuer Roman von Colin McAdam: Masturbieren im Stockbett | |
> Colin McAdam rechnet in seinem Roman "Fall" mit dem Internatsleben ab. | |
> Das packt sogar Leser, die eigentlich gar keine Lust auf eine | |
> Coming-of-Age-Story haben. | |
Bild: Eine verführerische Schulschönheit, um die zwei Freunde buhlen: Thema a… | |
Der erste Gedanke ist: Ach nö. Kein Eliteinternat, kein Masturbieren im | |
Stockbett, keine Zahnpastastreiche, keine an Stand und Reichtum | |
zerbrochenen Familien, keine verführerische Schulschönheit, um die zwei | |
Freunde buhlen. Kein "Hanni und Nanni" für Jungs im Jetzt. Doch kaum liest | |
man hinein in "Fall", den zweiten Roman des Kanadiers Colin McAdam, hat er | |
einen gepackt - so wenig einem die Geschichte (zu-)sagen mag. | |
Es ist eine Coming-of-Age-Story, ein Liebesroman, ein Psychothriller, eine | |
Milieustudie, vor allem aber eine Abrechnung mit dem Internatsleben, das | |
alles Schlechteste in den Schülern hervorbringt - und gibt es da partout | |
nichts Böses, dann wird es von außen herangetragen. Der 39-jährige McAdam, | |
Sohn eines Diplomaten, war selbst auf einer Eliteschule in Ottawa und wie | |
er all die Enge, die Einsamkeit, die Gerüche und Gerüchte, die Gemeinheiten | |
und das Verlorensein in der Mitschülermasse beschreibt, das ist das eine | |
Kunststück des Romans. | |
Über diese Schule, St. Ebury, schreibt der Autor: Sie "hatte Traditionen, | |
doch die Traditionen waren nicht alt. Wie die meisten Privatschulen war sie | |
teils Fantasie, teils Wirklichkeit, und daher die reine Wirklichkeit." Eine | |
Telefonnummer reicht als Nachweis, dass es da irgendsowas wie Eltern gibt. | |
"Manchmal waren wir Leichen in Schubladen, die vor sich hin fantasierten", | |
konstatiert Noel, einer der beiden Protagonisten des Romans, nüchtern. | |
Einer unbekannten Schullogik folgend, landet der stille Außenseiter in | |
einem Zimmer mit Julius, dem Star der Schule. | |
Aus der Sicht dieser beiden Jungs wird der Roman abwechselnd erzählt - und | |
das ist das andere, noch größere Kunststück. Julius, der Sohn des | |
US-Botschafters in Kanada, zu gut aussehend, zu leichtherzig und zu | |
gutmütig, um irgendwem zu missfallen - und Noel, dessen Vater ein | |
zweitrangiger Diplomat in Australien ist, der sich Muskeln antrainiert, | |
ohne selbst zu wissen, warum. Der liest, um in der Schülermasse allein zu | |
sein, und dessen behindertes Auge ihm den Spitznamen "Zwinkie" und den Ruf | |
des Sonderlings einbringt. In der Enge ihres Zimmers werden sie Freunde. | |
Für Noel ist Julius auch eine Brücke zu Fallon, kurz Fall, dem schönsten | |
Mädchen der Schule, das, ohne es zu wollen, beide zu Fall bringen wird. | |
Es passiert ein Unglück, das nie richtig aufgeklärt wird, Julius wird zum | |
Opfer und Noel rächt mit dem "Zorn der Stillen" all seine Wunden - doch die | |
Handlung ist Nebensache, die Erlebnisse überlagern sich, die Perspektiven | |
purzeln durcheinander. Jeder der beiden Jungen hat seine eigene Gegenwart, | |
selbst wenn der nun 30-jährige Noel rückblickend erzählt, bleiben mehr | |
Fragen als Antworten. Einige Passagen sind auch aus Sicht von William, dem | |
Chauffeur von Julius Vater, erzählt, der als weiser Alter die | |
Hyperventilierungen der 18-Jährigen erdet. Die Handlung bringt auch er | |
nicht voran. | |
Seltsamerweise stört das nicht. Weil hier ganz die Sprache verführt. Noel, | |
der Belesene, erzählt überreflektiert und analysiert kühl: " Seit | |
Jahrzehnten enthält die Luft in allen meinen Zimmern den Frost bewusst | |
verdrängter Dinge." "Sollte die Liebe um der Liebe willen gemieden werden?" | |
"Wir waren in der Mall, und ich war mir die ganze Zeit bewusst, wie weit | |
unsere Schultern auseinander waren." Über Fall, die Angebetete, schreibt | |
Noel: "Sie betrat einen Raum und machte ihn elegant, und sie war so | |
entwaffnend, machte jeden, mit dem sie sprach, frei von aller Hinterlist | |
und Tücke." | |
Bei Julius liest sich die Verehrung so: "Sie hat ein Lächeln wie, ich weiß | |
nicht, etwas Helles, Weißes, Breites, aber auch klein und rot und wie | |
nichts, das man schon gesehen hat, mundmäßig." Seine Gedanken kreisen um | |
Fall, Blowjobs, die Liebe, seinen Dad. Es ist eine schlichte, assoziative | |
Reihe von Beobachtungen, Sehnsüchten, manchmal seltsam-schönen Sätzen wie: | |
"Mir ist, als könnten wir die Eltern von den Dingen vor den Fenstern sein" | |
oder traurigen Analysen: "Du kannst Freitagabend nicht lernen, sag ich. Das | |
ist wie sonntags glücklich sein wollen." | |
Colin McAdams Roman erlaubt ein faszinierendes, oft auch verstörendes | |
Eintauchen in die Psyche der beiden Hauptfiguren, zu dem man unbedingt "Au | |
ja!" sagen sollte. | |
Colin McAdam: "Fall". Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Wagenbach, | |
Berlin 2010, 392 S., 24,90 Euro | |
22 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Daniela Zinser | |
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